"Capoeira-Stile"? [Archiv] - Kampfkunst-Board

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shido
22-08-2003, 18:10
Ist die Capoeira eine halbwegs einheitliche KK oder gibt es dort sozusagen "auseinanderdriftende" Richtungen?

Und kann mir jemand die Bergriffe Capoeira Angola, Capoeira Regional
sowie Capoeira Style erklären?

Shido

mat~°~rose
22-08-2003, 22:08
hiho

es gibt zwei von allen Capoeiristas anerkannte große "Stile", jeder dieser beiden wird mit speziellen Berimbau - Rhythmen gekoppelt gespielt und hat seine eigenen (inneren) Codices ;)

der ursprüngliche ist

Angola: = langsam, bodennahe, hinterlistig spielerisch

das schauspielerische Element bzw. der "tänzerische - auch gauklerische" Aspekt ist hier nach wie vor sehr stark und wichtig..

die Überlieferungen besagen in etwa , dass es ganz am Anfang, zu Zeiten wo die Sklaven noch mit Fußfesseln unterwegs waren, grade mal zwei Handvoll Bewegungen gab und im Laufe der Zeit andere dazukamen.
hohe Tritte und Akrobatik (ausser einen gerollten Salto im Spiel über den Rücken des anderen) kennt Angola nicht, aber sehr wohl teilweise Spiel auf den Händen, ausserdem keine geraden Kicks sondern eher etwas was man als "Wischbewegungen" bezeichnen könnte und auch plötzliche Tempowechsel für ein zwei Moves um den Gegner zu überraschen. grade das langsame bodennahe Spiel braucht ein ausserordentliches Mass an Körperbeherrschung.

Mestre Pastinha hat sozusagen diesen Stil mit "Angola" bezeichnet und quasi vereinheitlicht ; und es ist ihm mit zu verdanken, dass Angola heute als eigenständig anerkannt wird.


Mestre Bimba ging einen anderen Weg er beschleunigte das Spiel, importierte gerade Kicks aus anderen KK und schuf damit die Basis für das was wir heute

Regional: = schnell und kampfbetont, aggressiv akrobatisch

kennen. anfänglich waren es wohl hauptsächlich die verschiedensten direkten Kicks und manche Akrobatischen Einlagen auf Händen die ein Novum in der Capoeira Welt darstellten, später kamen dann noch die gesprungenen Kicks dazu und ab den Siebziger Achtziger Jahren ging Capoeira einen reghaften Bewegungs-Austausch mit anderen Stilen ein, sodass wir heute sogar Breakdance Moves finden können.

Grao Mestre CamisaRoxa und Mestre Camisa gründeten in den 70ern Capoeira ABADÁ, eine Vereinigung die es sich zum Ziel setze, die Regional - Capoeira in ihrer ursprünglichen Form zu erhalten, ABADÁ ist mittlerweile die grösste (und weltumspannendste Vereinigung in der Capoeira Welt)
ABADÁ Capoeira kann man als leicht eigenständigen Regional Stil ansehen, sehr schnell und ziemlich kämpferisch geprägt..

es gibt die die trennen und die die vereinen wollen.

in den späten 90 ern ist erstmals der Begriff Capoeira Contemporana aufgetaucht, "zeitgenössische Capoeira"

hinter diesem Begriff versteckt sich die Bemühung, die manchmal doch sehr tiefen Gräben zwischen Angola und Regional mit Brücken zu verbinden.
das heisst, Elemente aus der Angola in die Regional hinüberzunehmen und einen Stil zu schaffen, der sowohl schnell und akrobatisch ist, aber das grosse Orchester der Hinterlist und Tücke einbezieht...

zu guter letzt:

Capoeira (Free)Style ist kein eigener Stil, es handelt sich um eine Hybrid Mischung aus verschiedenen Bewegungen versch. Kampfkünste, (sehr viele aus der Capoeira), die vermutlich, weil Capoeira derzeit boomt, unter dem Titel Capoeira Style läuft.

Capoeira ist es schon deshalb nicht, weil es eigentlich keine Capoeira ohne den dazugehörigen Kreis und die Musik gibt, und vor allem, weil Capoeira etwas anderes ist, als zielstrebig ein akrobatisches Move durch das nächste zu toppen ;)

Joe Eigo (kein Zweifel ein begnadeter Turner) als bekanntester der Freestyler bsp. wurde wohl noch nie in einer Roda gesehen, vermutlich würde er auch ziemlich flott eine paniert bekommen :D (kein Scherz, es gibt genügend Capoeiristas die dem Gegner während der einen Schraubensalto macht, einen fetten Kick verpassen.

bei der WAKO (World Asso. of Kickboxing Org.) fällt Capoeira seit 2002 unter den Bereich "Softstyle, es werden Capoeira Weltmeister Titel vergeben, auch grosse Organisationen machen nicht davor halt, die Freiheit der Capoeira zu bombardieren.

ob es gut ist oder nicht, muss jeder für sich entscheiden.

so das wars
matrose


edit:

es ist Sache der einzelnen Schulen bzw. Mestres, welche Aspekte der Capoeira sie besonders hervorheben wollen, bei einer sogar relativ großen Anzahl der Schulen ist das nach wie vor der Kampf und Aspekte der Selbstverteidigung, aber in den letzten Jahren gibt es immer mehr Mestres und Schüler, die sich beider Stile bedienen und ihr Training mehr und mehr der "Kunst der Körperbeherrschung" widmen

shido
22-08-2003, 22:53
wow!
danke für die umfassende antwort!
etwas ist mir aber noch nicht so klar....ich dachte, im capoeira würde es keinen eigentlichen kontakt zum gegner geben..
Ist das nur ein gerücht?

Shido

mat~°~rose
23-08-2003, 01:06
hehe heut hab ich mal Zeit :D


Das Training, im direkten Kontakt jemanden zu Fall zu bringen, hat oftmals eine Sonderstellung. In der Regel findet das Capoeira-Technik-Training längere Phasen ohne Kontakt statt, je nach Schule wird von Zeit zu Zeit das Kontakt-Training mit verschiedensten Falltechniken oder auch Gegenangriffen und Immobilierungen am Boden schwerpunktmässig durchgeführt. dabei wird folgenden Fragen nachgegangen:

wie bringe ich jemanden zu Fall?
wie falle ich ohne mich zu verletzen?
welche Möglichkeiten habe ich noch, meinen Gegner "mitzunehmen" und in letzter Sekunde das Blatt zu wenden?

Innerhalb des Trainings sind die Kontakt-Sessions (meistens) den Fortgeschrittenen vorbehalten und wird im Capoeira-Spiel auch nur gegen gleichwertige Gegner eingesetzt, v.a. aus Gründen der Verletzungsgefahr gehört es quasi zum guten Ton innerhalb einer Gruppe, keine "schwächeren" Gegner zu Fall zu bringen (es sei denn sie sind frech :) oder das ganze geschieht mit Übersicht und sozusagen in verringerter Geschwindigkeit)
(Nebensatz: vor allem Newbies, das sind i.d.R. Schüler die erst ein halbes bis ein Jahr Capoeira praktizieren, werden generell nicht umgelegt)


Capoeira hat sehr viele bekannte Kick- und Schlagtechniken aus anderen KK importiert, diese werden aber äußerst selten losgelöst vom vollständigen Kontext der Capoeira angewandt.
Je nach Ausbildungsstand des Schülers können diese Techniken in einer realen Angriffs-Situation selbstverständlich auch sinnvoll verwendet werden.

von Full-Kontakt kann nur in sehr sehr selten Fällen die Regel sein, meist geht es blitzschnell, ich habe aber auch schon mehrfach richtige Rangeleien in einer Roda gesehen, die man sonst explizit anderen KK zuordnen würde...

in der Regel lassen Mestres in solchen Fällen das Spiel laufen, denn wie es so schön heisst: was in der Roda geboren wird soll auch dort begraben sein, soll heissen, die Hitze des Gefechts soll nicht in den Alltag mitgenommen werden.


der Vollständigkeit halber:

hier benenne ich nur einige Techniken, die sehr oft in der Capoeira anzutreffen sind:

1: Tesouras (Bein-Scheren)
bringt eines oder beide Beine des Gegners zwischen die eigenen und verwendet die Beine quasi als Hebel
-----> bodennaher Angriff, bei der der Gegner auf den Rücken (im schlechten Fall auf den Hinterkopf segelt)

2: Vingativas
(muß sehr schnell sein) geht neben den Gegner und bei "plötzlicher" gleicher Blickrichtung wird eines der Beine hinter die beiden Beine des Gegners gestellt (wieder das Hebel-Prinzip) und der Ellbogen als Hebel in seinem Bauch-Brust-Zwerchfell Bereich verwendet.

3: Bencao
sozusagen wie ein "kick" geradeaus der aber nicht "kickt" sondern "schiebt", damit kann man einen Gegner der grade bodennahe spielt, mit Nachdruck aus dem Gleichgewicht schieben.

4: aus Banda / Rasteira / Negativa ---- Beine wegziehen
aus verschiedensten Postionen dem Gegner wenn er steht bzw. zu einem Kick ansetzt, mit dem Fuß unten am Knöchel einen kräftigen Zug zu geben,
----> gefährlich, da der Gegner auf dem Steißbein oder wenn er fliegt, auf dem Hinterkopf landet

das gibts auch in einer Hocke ähnlichen Stellung mit Deinem Hintern zum Gegner in der mit beiden Händen zwischen den Beinen durchgegriffen wird und der Gegner an den Knöcheln oder Hosenbeinen umgezogen wird

5: Cruz / Kreuz
bei einem Kick des Gegners der in gerader Richtung kommt (Mindesthöhe Brust), mit seitlich gestreckten Armen (deshalb Kreuz) und in der Hüfte gebeugtem Oberkörper unter das Kick-Bein hinein, sodaß für den Bruchteil einer Sekunde das Bein über dem eigenen Oberarm zu liegen kommt, und sofort den Oberkörper aufrichten, da fliegt der Gegner, ein klassisches Beispiel für eine Umwandlung der gegnerischen Energie.


--------> auch diese Techniken sind auf der Straße in einem realen Kampf einsetzbar und tlw. sehr wirkungsvoll je nach Geschwindigkeit bzw. Timing der Ausführung, aber wie überall im Leben muß man genau wissen was man tut ;)


matrose

SpoOky
23-08-2003, 01:25
Du weisst ja viel. Wie lang trainierst du schon? Ich meine mat~°~rose. Muss man im Capoeira auch brasilianische Lieder singen lernen?

mat~°~rose
23-08-2003, 12:18
hi spooky, ich habe 1995 mit dem Training begonnen, bei Marreta in Amsterdam, *mal rum rechne*

immerhin 8 Jahre ...

klaro muss im Laufe der Capoeira Laufbahn das Lernen der Musik, also INstrumente UND Lieder, einbezogen werden, bei den allermeisten kommt das verstärkte Interesse meiner Erfahrung nach aber erst nach drei bis vier Jahren ins Spiel, bei mir hats sogar knapp sechs Jahre gedauert, bis ich endlich eine grössere Anzahl Liedern + Instrumente spielen gleichzeitig drauf hatte...

das hat mich echt viel Zeit gekostet das alles zu koordinieren :D

SpoOky
23-08-2003, 17:54
Wieviel Zeit investierst du pro Woche?

mat~°~rose
24-08-2003, 00:30
abgesehen davon dass ich auch mal wochenlang aus bsp. beruflichen Gründen überhaupt keine Zeit habe bzw. oft unterwegs bin und dann ganz regelmässiges Training nicht grade leicht ist, haben wir dreimal die Woche zwei Stunden Training (manchmal auch nur eine ;) ) dazu treffen wir uns meistens Sonntag in der Halle privat fürs Akrobatik Training.

wenn ich dann mal unterwegs bin, versuche ich Kontakte in jeweils vor Ort existierende Capoeira Gruppen zu knüpfen, zumindest so, dass ich mitspielen kann/darf oder als Gast zwei Wochen beim Training mitmache, bzw. ist dann eher die Zeit des Instrumente privat auspackens und spielen bzw. neue Lieder lernen, "zu Hause" finde ich meistens nicht die Gelegenheit, an anderen Orten wo man niemanden bzw. wenige kennt ist das irgendwie leichter :)