Lagerfeuerromantik oder: alte Zeiten, die es nie gab? [Archiv] - Kampfkunst-Board

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Vollständige Version anzeigen : Lagerfeuerromantik oder: alte Zeiten, die es nie gab?



Lutwolf
07-04-2010, 21:25
Hallo KKB-Gemeinde,

kennt ihr nicht auch die alten Geschichten á la Meister Pi Pa Po kommt in die Stadt Da, um mit Meister Fauler Kater dessen Kampfkunst zu diskutieren, anschließend mit ihm einen Tee zu trinken, eine Nacht unentgeltlich zu übernachten und dann weiter zu ziehen...

Abgesehen davon, dass heutzutage tierische Unkosten entstehen, wenn Großmeister Flugzeuge besteigen müssen um sich zu besuchen, kenne ich (bis auf eine seltene Ausnahme) niemanden, der kostenlos (nur für den Ruf) in einer ihm fremden Wohnung übernachten durfte. Ich meine, heute ist es eher so, dass ein "Studienreisender" sich eher noch zusätzlich ein Hotelzimmer besorgen muss, wenn er zur Wissens- und Kontaktsammlung durch die Wu Guan/Dojos o.ä. zieht.

Mich interessiert nun Folgendes: existierte früher ein Kodex, der derartige Diplomatie abdeckte, oder passierte sowas Stilübergreifendes letztendlich gar nicht? Was ist der Grund, dass heutzutage so etwas nicht möglich zu sein scheint - haben auf einmal alle zu tun, während früher Zeit dazu war, oder sind wir alle paranoid geworden?

Natürlich halte ich so etwas für anerkannte Meister wahrscheinlicher als für den Nullacht-Fuffzehn-Weißgurt, aber ich verlange ja auch nicht, dass ganze Schulen plötzlich in fremden Schulen einfallen und da schlafen wollen ^^

Was meint das Board dazu?

Gruß - ICH

scarabe
08-04-2010, 07:22
in einer meiner früheren Schulen konnten auswärtige Schüler übernachten....

Ansonsten halte ich solche Geschichten zwar für übertrieben, aber der Zusammenhalt und eine gewisse Hilfsbereitschaft waren früher schon besser ausgeprägt als heute- schon alleine deshalb, weil man ja selbst auch einmal in die Lage kommen konnte, auf Gastfreundschaft angewiesen zu sein und weil Reisen generell auch beschwerlicher und gefährlicher war..

fei li
08-04-2010, 09:08
Andererseits wahrscheinlich auch das Misstrauen, ob der andere nicht "geheime" Techniken stehlen will, oder in der Qing Zeit, ob er nicht ein Regierungsspitzel ist (da ja viele KK Schulen im Widerstand waren).

Ist ja auch nicht von ungefähr, dass man sich in Asien nicht die Hände geschüttelt hat, der andere konnte ja gleich einen Griff anbringen oder Ähnliches (Da spielt natürlich auch die asiatische Distanziertheit mit hinein).
Mir wurde das zumindest mal vor langer Zeit so erklärt, als ich gefragt habe, warum man in China früher immer diese Handgeste (Faust mit Handfläche bedeckt) zur Begrüssung macht, die in stilisierter Form auch in den Kungfu-formen zu Beginn benutzt werden (Die Sonne/Mond, Krieg/Frieden Symbolik wurde auch erwähnt).

wudangdao
08-04-2010, 09:11
Hallo Lutwolf,

betrachtet man die chinesische Kultur - insbesondere vor der Kulturrevolution - dann wird klar, dass es für solche Gastfreundschaft keinen gesonderten Kodex bedurfte. Chinesische Netzwerke (Guanxi) sind nicht erst in jüngster Zeit der Industrialisierung entstanden, sondern begleiten die chinesische Geschichte gemeinsam mit der konfuzianistischen Idee.

Chinesen wäre es niemals in den Sinn gekommen, einen Preis für eine Übernachtung eines Meisters zu nehmen, den sie wertschätzen, oder der für sie in Zukunft noch einmal nützlich sein könnte. Ich will jetzt hier nicht zu stark ins Detail gehen, aber wer beispielsweise schonmal in Thailand war (und mit Thais persönlich zu tun hatte), der dürfte wissen, wie gastfreundlich die Menschen dort sind - ohne eine Gegenleistung zu erwarten.

Ich würde nie auf die Idee kommen, jemanden für Geld bei mir übernachten zu lassen, den ich zu mir einlade.

Grüße
wudangdao

Fei Long
08-04-2010, 09:28
Also ich kenne auch Beispiele wo auswärtige Schüler oder Meister privat untergebracht werden. Sowohl bei uns in der Schule als auch gerade erst am WE in Osnabrück gesehen.

Allerdings, da ging es natürlich auch um vorher geplante Seminare. Ich denke es ist heute halt auch eher selten daß es überhaupt zu solchen Situationen kommt, wo ein Meister "auf Wanderschaft" unangekündigt bei einer fremden Schule in der Tür steht.

Ich kenne solche Sachen noch aus meiner aktiveren Zeit als ich in einer Band gespielt habe. Da war es nicht so unüblich, daß man auch mal fremde Musiker spontan mit nach Hause genommen hat (oder selber bei anderen untergekommen ist) wenn aus irgendwelchen Gründen was mit der Unterkunft nicht hingehauen hat, oder wenn man an dem Abend nach ´nem Konzert noch um die Häuser gezogen ist und es dann nicht mehr bis zum Hotel geschafft hat.
Und ich denke auch nicht daß sowas in der KK-Szene grundsätzlich nicht auch möglich wäre. Ich bspw. hätte kein Problem einen Gast aus unserer Schule auch kurzfristig mal bei mir zuhause unterzubringen, wenn die Leute halbwegs nett und vertrauenswürdig rüber kommen.
Und die Leute die ich aus der "KK-Szene" bisher kennen gelernt habe machten auf mich auch nicht den Eindruck als wäre sowas bei denen nicht möglich. OK, ich kenne bisher auch noch nicht so viele Leute (bin ja noch nicht so lange dabei) und hatte vielleicht auch nur Glück auf die Netten getroffen zu sein.

scarabe
08-04-2010, 09:29
das ist klar, denk ich, aber wie sah es aus, wenn plötzlich jemand auftauchte, den die Leute nur vom Hörensagen kannten?

Was das Händeschütteln betraf- lag es nur an der Gefahr, daß der andere einen Griff ansetzen könnte oder ist es in Asien nicht generell so, daß Berührungen in der Öffentlichkeit zurückhaltender gehandhabt werden, als bei uns?
Und kann möglicherweise einer der (früheren) Gründe auch eine mögliche Ansteckungsgefahr gewesen sein?
Ich hab auch mal erlebt, daß jemand seine Hand eiligs "in Sicherheit" brachte, als ich mit meinen Fingern versehentlich zu weit an den Puls kam, also ob er fürchtete, ich könne dadurch etwas zuviel über ihn erfahren...???

fei li
08-04-2010, 09:31
Ich habe es schon oft erlebt, dass bei Seminaren die Teilnehmer, die von weiter weg kamen, entweder bei jemanden zuhause, oder in der Schule übernachtet haben, natürlich ohne Gegenleistung.

fei li
08-04-2010, 09:34
Hygienisch ist Händeschütteln sicher nicht, ganz zu schweigen vom "Wangenabbusseln" à la française :)

Ich habe es schon in Vietnam(allerdings in einer chinesischen Kungfuschule) erlebt, dass ein simples Händeschütteln zu Problemen führen kann: Ein älterer Schüler hat einem dortigen Meister die Hand zu fest gedrückt, was als Provokation aufgefasst wurde… zum Glück konnte das friedlich geregelt werden, hätte aber leicht ausufern können.

Lutwolf
08-04-2010, 20:50
Hm, von Seminaren kenne ich das auch (meist in Schule/Dojo/Wu Guan schlafen, Meister auch privat bei Meister o.Ä.), aber wie Fei Long schon erwähnte - dieses "UNANGEKÜNDIGTE" macht mir Gedanken. Das mit der thailändischen Gastfreundlichkeit (die es hoffentlich nicht nur in Thailand geben wird) finde ich klasse, aber bei uns "faustgesichtigen" Deutschen für sehr unwahrscheinlich. Allerdings weiß ich nicht warum wir so sein sollen, schon die Edda (welche ein ziemlich ausgedehntes geografisches Gebiet germanischsprechender Völker abdeckt) mahnte dazu, einem fremden Reisenden immer Essen und einen Rast-/Schlafplatz anzubieten, letzteres zu Zeiten engeren Plattenbauwohnraumes wohl eher schwierig...

WAS hat uns so paranoid-defensiv werden lassen, wo doch offensichtlich andere Länder für ihre Gastfreundschaft gerühmt werden? Wäre nicht ein (ziemlich romantisch verklärt herbeigesehnter) Kodex ähnlich den Wu De oder dem (falls existent, man streitet schon wieder) Bushi Dô eine nette und elitäre Verbindung zwischen einander unbekannten KKlern? Wäre nicht eine Art zivilisierte "Kriegerkaste" eventuell erstrebenswert, mit eigenen Regeln zusätzlich zur regionalen Rechtsprechung wie in den alten Klassikern?

Gruß - ICH

Fei Long
09-04-2010, 08:01
@Lutwolf

Das ist jetzt ein bisschen die Katze die sich in den ******* beißt. Da es sowas - unangekündigtes auftauchen eines fremden Meisters auf der Durchreise - quasi gar nicht gibt, kann man doch letztlich gar nicht beurteilen, ob wir hier im Deutschland nun so gastfreundlich wären und ihn aufnehmen würden oder nicht.

Du gehst davon aus daß daß wohl nicht der Fall wäre. Ich bin mir da nicht so sicher, jedenfalls nicht daß das grundsätzlich so wäre. Wie gesagt, aus Musikerkreisen kenne ich solche Situationen (sowohl als Gast als auch als Gastgeber) und da hat es funktioniert, und ich gehe davon aus, daß es daß - sollte es mal zu so einer Situation kommen - auch im KK Bereich geben kann.

Es stimmt schon, auch meine Einschätzung der Deutschen (im Durchschnitt, wir sind ja nicht alle gleich nur weil wir die gleiche Nationalität im Pass stehen haben) ist daß man eher etwas reservierter ist als daß teilweise in anderen Ländern der Fall ist. Aber in dem Fall worüber wir reden geht es ja darum daß man auf jemanden trifft wo es Überschneidungen bei den Interessen gibt und man da auch mal schneller einen persönlichen Draht aufbaut, daß Eis schneller taut. Und ist das gegeben, dann denke ich das auch viele Deutsche sehr gastfreundlich sein können.

Aber wie oben schon gesagt, letztlich wird man das erst beurteilen können, wenn mal eine größere Anzahl fremder KK-Meister in Deutschland auftaucht und spontan die KK-Schulen abklappert :cool:, vorher ist das alles nur Theorie.

fei li
09-04-2010, 10:34
WAS hat uns so paranoid-defensiv werden lassen, wo doch offensichtlich andere Länder für ihre Gastfreundschaft gerühmt werden?

Das ist meiner Meinung nach keine "deutsche" Eigenart,
sondern vielmehr eine Entwicklung die mit der "Verstädterung" einhergeht.
So etwas ist in spärlich besiedelten, ländlichen Gegenden viel notwendiger, als in Ballungsräumen, wo man immer irgendwo schlafen, oder essen kann.
Alles andere ist auch Mentalität. Wir Nordeuropäer sind eben auch mehrheitlich distanzierter, weniger Körperkontakt und überschwang, als z.B. im Mittelmeerbereich. Auch wird bei uns ganz gerne genau abgerechnet, z.B. im Restaurant, alle zahlen meist getrennt, so etwas gibt es in vielen südlichen Kulturen nicht, da zahlt immer einer für alle.



Wäre nicht eine Art zivilisierte "Kriegerkaste" eventuell erstrebenswert, mit eigenen Regeln zusätzlich zur regionalen Rechtsprechung wie in den alten Klassikern?


So etwas hatten wir schon, wozu das geführt hat in den Kulturen, wo es ausgeprägte Kriegerkasten gab, das haben wir ja im Lauf der Geschichte erlebt… (Deutsches Kaiserreich, III. Reich, Japan etc.)
Krieger führen Kriege, klingt blöd, ist aber so. :D

Lutwolf
09-04-2010, 15:21
Schade ^^

Na ja, les ich eben weiter alte Klassiker :p

christoph
13-04-2010, 11:13
Ich kenne schon Leute, die bei Lehrern in China für lau über Wochen in deren Wohnung gewohnt haben.

Trinculo
13-04-2010, 11:25
Allerdings weiß ich nicht warum wir so sein sollen, schon die Edda (welche ein ziemlich ausgedehntes geografisches Gebiet germanischsprechender Völker abdeckt) mahnte dazu, einem fremden Reisenden immer Essen und einen Rast-/Schlafplatz anzubieten, letzteres zu Zeiten engeren Plattenbauwohnraumes wohl eher schwierig...

Die Edda? Vielleicht die Hávamál, aber da ist nichts gemeingermanisch. Der Teil mit den Verhaltensregeln ist übrigens von den Disticha Catonis abgekupfert, also römischen Ursprungs. Aber die Deutschen sind ohnehin kein "germanisches Volk", sondern ein Gemisch aus Germanen, Kelten, Slawen, Illyrern usw.

Zur Gastfreundschaft gibt es im Internetzeitalter ja wieder ein paar nette Ansätze ;)

CouchSurfing - Participate in Creating a Better World, One Couch At A Time (http://www.couchsurfing.org/)

Lutwolf
24-04-2010, 22:39
Danke für die Information, wusste ich wirklich noch nicht :)

Ich hielt vor wenigen Augenblicken ein Buch vom Gründer des Alphabetboxens/Jiu Fa Men in den Händen, welcher durchaus von Stil zu Stil gereist zu sein scheint und wohl über 300 internationale Stile vorstellt... Das wäre sicherlich interessant zu wissen, wie er wohl als relativ neuer Stilgründer (1994) aufgenommen und untergebracht worden ist... Vielleicht sollte ich dann auch einfach ein Buch schreiben, quasi ein Review der genannten Kampfkünste, vielleicht kommt dann doch noch "der alte Geist" durch :)

Gruß - ICH