Die Falle des "daily decrease" [Archiv] - Kampfkunst-Board

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Vollständige Version anzeigen : Die Falle des "daily decrease"



jkdberlin
10-11-2003, 14:45
Die Idee zu dieser Kritik an dem "daily decrease", sprich der Spezialisierung auf wenige Techniken, die bis zur Perfektion trainiert werden, kam insbesondere beim Privattraining mit einige Leuten sowie bei einigen meiner letzten Seminaren, für den Input möchte ich mich vorab bedanken!

Wie schon öfter in diesem Forum dargestellt, existiert im JKD das Prinzip des "daily decrease", d.h. des täglichen "Wenigerwerdens". Meiner eigenen Interpretation dieses Prinzipes, nämlich das Heraustrainieren von unerwünschten oder unwichtigen, verräterischen Bewegungen bei den einzelnen Techniken, steht immer wieder die Auffassung anderer JKD'ler entgegen, dass JKD letztendlich die Konzentration auf einige wenige Techniken sei sowie das "perfekte" Austrainieren derselben. Als leuchtendes Beispiel gelten dann immer die Aussagen, dass Bruce Lee in seinen letzten Jahren seine Fussarbeit, seinen Stoppkick und seinen Lead-Hand-Fingerjab so austrainiert hatte, dass er kaum oder gar keine anderen Techniken im Kampf mehr brauchte. Die These, die sich daraus ableiten lässt, ist, dass der JKD'ler eigentlich sich seine persönlichen Präferenzen heraussuchen mss und diese dann bis zur Vervollkommung zu trainieren versucht.

I beg to differ. I object.

Ich befürchte, dass diese Einstellung zum JKD einen wichtigen Faktor und dadurch bedingt, andere wichtige Faktoren, ausser Acht lässt.

Der wichtigste Faktor dabei ist die Zeit und das Älterwerden. Sorry, aber selbst die Leute, die Bruce Lee für einen Supermann halten, können nicht ausser Acht lassen, das die Probleme des Älterwerdens auch an den Leistungen dieses extra-ordinären Kampfkünstlers ihre Spuren hinterlassen hätten. Essentielle Eigenschaften, die den Stoppkick und den Fingerjab nötig machen, verändern sich mit dem Älterwerden. Man wird langsamer, weniger explosiv, weniger dynamisch, weniger beweglich. Das Erkennen der gegnerischen Angriffsabsicht, die ja dem "Intercepting" vorausgeht, lässt aufgrund der zunehmenden visuellen Schwächen nach. Die kognitiven Fähigkeiten lasse ich mal aussen vor. Das Training, das nötig wäre, um diese Eigenschaften zu erhalten, würden vom Körper einen dermassen hohen Tribut fordern, dass ich bezweifle, dass der Körper sich ab einem bestimmten Alter wieder regenerieren würde.

Zusammenhängend damit wird auch gerne die Umgebung und die Umstände einer etwaigen Auseinandersetzung ausser Acht gelassen. Auf glattem, feuchten, rutschigen Untergrund hat niemand die gleiche Fussarbeit wie im Idealfall. Bei Dunkelheit oder Dämmerlicht ist ein Gegenüber bedeutend schwerer zu erkennen. In Transportmitteln, die sich ruckelnd bewegen fällt es nicht nur älteren Menschen schwer, die Balance zu halten (und diese kämpfen nicht einmal in einem SV Fall dabei, so wie wir ihn hier meinen). Und dies alles noch in dem Zusammenhang mit dem oben erwähnten Faktor?!
Was wird aus den Lieblingstechniken, die so gut beherrscht werden, wenn aufgrund eine Unfalls oder einer Krankheit eine benötigte Funktion des Körpers eingeschränkt oder unmöglich wird?

Sorry, ich bin der Meinung, dass eine Auslegung des "daily decrease" im Sinne von immer weniger werdenen Techniken letztendlich eine Beschneidung der eigenen Flexibilität und der Anpassungsfähigkeit an die Lebensumstände ist. "Perfekte" Techniken sind ein "dead frame", der nur in einem bestimmten Lebensabschnitt passt. Eine reine Spezialisierung auf einige wenige "omnipotente" Techniken sehe ich als Gefahr, die kein ernsthafter Kampfkünstler oder JKD'ler sich als Ziel setzen darf.

The floor is open, your opinion is next...

Grüsse

DerlangweiligeDaniel
10-11-2003, 16:25
Sehr interessanter und m.E. guter Beitrag.
Beim Lesen musste ich an eine Aussage von Crafty Dog vor ein Paar Jahren im Eskrima-Digest denken, dass ihm beim Kämpfen mittlerweile Techniken "passieren", die er vorher eher in die Rubik "Show" gepackt hatte. Hoffe, da komme ich auch mal hin...
Das Problem besteht wohl vor allem darin, trotz der Ausweitung des Technikrepertoires nicht den Grat zum bloßen Anhäufen "toter" Techniken zu überschreiten.
Grüße,
Daniel

andreas222
13-11-2003, 09:31
Hi Frank,


super Beitrag. Sicher wird jeder Aktive eine Art "Lieblingstechnik" haben welcher er immer wieder trainiert ... sagen wir mal den geraden Fausstoss... dazu gehoert dann auch ein bestimmtes Bewegungsmuster. Irgendwann ist diese Trainigsmethode dann aber ausgereizt...... sprich keine grosse Steigerung mehr moeglich...

An dieser Stelle finde ich das Experimentieren mit anderen Bewegungsmustern u. anderen Techniken sehr hilfreich (Training mit den Stoecken etc. )... wenn man dann wieder zurueck zum geraden Fausstoss geht..... fuehlt sich das Ganze schon wieder besser an.... zudem wird man in seinen Bewegungen u. Aktionen variabler.... was finde ich sehr wichtig ist.

Wie Du schon sagst... aelter werden wir Alle... vielleicht mache ich irgendwann nur noch eine eine Art Tai Chi und/oder *in*un*...

Viele Gruesse
Andreas

Sebastian
13-11-2003, 09:41
finde ich eine logische Schlußfolgerung. Mein Training über entwickeln sich Lieblingstechniken oder Techniken, die ich einfach öfter trainiere als andere. Wenn ich mich nur darauf verlasse kann ich im Zweifelsfall verlassen sein. Super Beitrag. Stichhaltige Logik!


Gruß

Sebastian

Bob Dubljanin
13-11-2003, 14:58
"the truth in this style is different for each individual"

1. Absorb what is useful
2. Reject what is useless
3. Add what is specifically your own
4. Research your own experience

(Plakette die in der Inosanto Academy hängt.)

Dieses Zitat kommt aus Sun Tzes "Art of War" was ein B-day Geschenk an Guro Inosanto von BL war. Diese Passage war unterstrichen im Buch und ist heute bekannt und verbreitet in der Welt des JKD.

In Franks Beschreibungen über "daily decrease" stecken tatsächlich zwei verschiedene Themen: 1.) mehr über weniger erfahren 2.) abstreifen/weglassen von unbrauchbarem. Obwohl beide miteinander zu tun haben, versuche ich mal den Unterschied aufzuzeigen.

1.) Mehr über weniger
Bedeutet Perfektion mit den Dingen die man bereits kennt. Um dies zu erreichen bedarf es z. B. das relaxen eines Muskels, ändern eines Winkels oder anpassen seiner Reaktionszeit. Man lässt etwas "weg" oder verändert die Ansicht/Ausführung und erhält damit "mehr". Dieser Trainingspunkt hat primär nichts mit weglassen von Techniken, Drills usw. zu tun. Nur mit dem individuellen Anpassen und Erfahren vom Einsatz von Erlerntem.

2.) Abstossen von Unpassendem
Um diesen Punkt hier zu erklären, habe ich anfangs das berühmte Zitat angehängt. Ich empfehle allen JKD Begeisterten die genaue Reihenfolge sich mal näher anzuschauen. Der Herr B. aus B. ist ein erfahrener Kampfkünstler der in seinem Trainingsprozess den Punkt 4. untersucht und darüber einen klasse Beitrag verfasst hat. Alle seine Erfahrungen die ihn zu 4. gebracht haben kommen jedoch von Punkten 1.-3. Sonst gäbe es ja nix zum researchen :-)

Meine Hoffnung hier ist das alle die JKD lernen und trainieren möchten genug Zeit mit 1. 2. und 3. verbringen, d. h. lernen, meistern und dann analysieren was funktionabel ist und was persönlich für einen nicht funktioniert. Dies geschieht dann auf der Grundlage von persönlicher Erfahrung und nicht der deines Sifus, Meisters usw. Ich habe JKD Kollegen die über 10 Jahre älter sind als ich und trotzdem mich immer wieder mit ihrem Biu Jee erwischen. Ich habe JKD Kollegen die 10 Jahre jünger sind und konditionell besser sind als ich. Hoffentlich kann ich was ich mache anpassen damit ich mit beiden produktiv trainieren kann.

Schließlich lassen sich all diese Punkte auch auf andere Kampfkünste anwenden und werden zu einer Art "Gebrauchsanweisung" wie man lernt und für sich selbst Sinn und Anwendung in Martial Arts findet.

Just my 0,2 cents.

Grüsse,

Bob Dubljanin
www.soai.de

christiansch
14-11-2003, 08:12
[QUOTE=Bob Dubljanin]"the truth in this style is different for each individual"

1.) Weniger über mehr
Bedeutet Perfektion mit den Dingen die man bereits kennt. Um dies zu erreichen bedarf es z. B. das relaxen eines Muskels, ändern eines Winkels oder anpassen seiner Reaktionszeit. Man lässt etwas "weg" oder verändert die Ansicht/Ausführung und erhält damit "mehr". Dieser Trainingspunkt hat primär nichts mit weglassen von Techniken, Drills usw. zu tun. Nur mit dem individuellen Anpassen und Erfahren vom Einsatz von Erlerntem.

Hi,

Die beste Interpretation, die ich je zu genau diesem Punkt glesen habe. Danke Bob.
Der Weg, den man beschreiten muss, um weniger über mehr zu erfahren, ist meines Erachtens auch etwas holprig, vor allem wenn man aus den klassischen Kampfkünsten kommt. Ich habe lange Jahre Shotokan gemacht, danach klassische Kung Fu und Wing Tsun. Das Problem in den klassischen Kampfkünsten ist meiner Meinung nach die Unterbindung der Mündigkeit. Der Trainer/Sifu/Sensei versucht dir Techniken exakt so beizubringen, wie er sie gelernt hat und wie sie für das Bestehen der Prüfung notwendig sind. Das ist nicht schlecht, wenn es zu einem späteren Stadium wieder aufgelöst wird. Genau das passiert meist aber nicht. Die Schuld liegt hier nicht alleine bei den Trainern. Mündig werden muss man schon auch selbst als Schüler wollen. Als ich dann vor 2 1/2 Jahren mit JKD angefangen habe, wurden mir Techniken zwar immer noch exakt erklärt, aber ich durfte und sollte immer wieder darüber reflektieren und meine eigenen Interpretation hinzufügen (jedoch ohne das Original zu vergessen). Genau, das ist für mich mündig werden und weniger über mehr wissen. Da ich aber in meiner Kampfkunstvorgeschichte zur Unmündigkeit erzogen wurde ist das geistig sehr anstrengend und ich falle immer wieder in das Loch des toten "Nachahmens".
Wie ist da eure Erfahrung

Christian

jkdberlin
15-11-2003, 02:30
Wow, kurzer Zwischengruss aus Los Angeles! Danke fuer deinen guten Beitrag, Bob, es ist fuer mich immer wieder hilfreich, hier in diesem Forum ueber meine Gedanken zu diskutieren!

Gruesse

Bob Dubljanin
15-11-2003, 11:08
@Frank,

viel Spass in LA.

Gruss,

Bob
www.soai.de

jkdberlin
20-11-2003, 02:29
Danke, hatte ich ;)
Nur der Jetlag, der mich um diese Zeit ins KKB bringt...;)

Grüsse