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Vollständige Version anzeigen : Armut bedroht auch die Mittelschicht



Michael Kann
29-04-2004, 12:13
Erste Ergebnisse des zweiten Armutsberichts der Stadt Nürnberg haben gezeigt: Fast 60.000 Nürnberger sind arm. Hinzu kommen 110.000 Menschen, die an der Schwelle zur Armut stehen. Jeder Dritte ist also direkt von Armut betroffen oder in Gefahr, zu verarmen.

Armut ist zwar allgegenwärtig, aber in der Öffentlichkeit kaum sichtbar. 1.100 Menschen müssen in Nürnberg ohne eigene Wohnung klar kommen. Tagsüber schleppen sie ihre Habe mit sich, nachts schlafen sie in Privatpensionen, die die Stadt bezahlt, oder in Notschlafstellen wie dem Domus Misericordiae. Weitere 50 bis 100 Sandler verbringen die Nacht tatsächlich im Freien, an sich unnötig. Wer nicht will, muss nicht unter Brücken schlafen, hungern auch nicht. Auf die Armutsquote in Nürnberg wirkt sich das aber leider nicht aus. Mit 11,5 Prozent (in Bayern: 9,5 Prozent) ist sie unverändert hoch seit dem ersten Armutsbericht 1992. Lediglich 4,5 Prozent Reiche stehen den vielen Armen gegenüber — eine Schlagseite in der Wohlstandsverteilung.

Dramatischer ist jedoch die starke Zunahme der Zahl jener, die in Gefahr sind, in Armut abzurutschen. Innerhalb von lediglich vier Jahren ist sie angestiegen von 17,4 auf 22,3 Prozent aller Nürnberger.

Da darf man den Arbeitsplatz nicht verlieren, nicht länger krank sein, ja nicht einmal eine unerwartete Ausgabe darf kommen, sonst stürzt das finanzielle Kartenhaus ein.

Wie sieht so ein Kartenhaus aus?
Beispiel: Eine allein erziehende Mutter arbeitet halbtags im Büro, nachmittags kümmert sie sich um ihre Tochter. Waschmaschine und Herd geben den Geist auf, die Mutter schafft neue Geräte auf Raten an. Das ist zu viel für das kleine Budget. Denn auch das Auto ist noch nicht abbezahlt, aber sie braucht den Wagen für den Weg zur Arbeit. Weil die Hausbank einerseits nicht bereit ist, den Kreditrahmen zu erhöhen, wird der Spielraum immer enger. Und weil andererseits Mutter und Tochter schon sehr günstig wohnen — nämlich in einem der südlichen oder westlichen Stadtteile mit sehr hohem Armutspotenzial, sprich Gostenhof, Glockenhof, Galgenhof, Steinbühl, Gibitzenhof, Schweinau, Sündersbühl, Eberhardshof und Muggenhof, bleibt den beiden nichts anderes übrig, als sich noch mehr einzuschränken. Es wird am Essen gespart, was sich auf die Gesundheit auswirkt. Die Tochter kann nicht mehr in den Sportverein, Kleidung gibt es aus zweiter Hand. Sind die Geräte abbezahlt, kann die kleine Familie wieder durchschnaufen. Kommt aber erneut eine unerwartete Ausgabe, beginnt der Kreislauf von vorn.

Solche, aber auch andere Extremsituationen kennen immer mehr Menschen: kein Geld für die Miete, keines für Fleisch oder Wurst, keines für den Sportverein, keines für Urlaub.

So wusste laut Armutsbericht jeder fünfte Bürger in den zurückliegenden zwölf Monaten mindestens ein Mal nicht, wovon er Miete oder Essen bezahlen soll. 1989 war das nur jeder neunte.

Woran liegt es?
Unter anderem daran, dass die traditionell industriell geprägte Städte Deutschlands mit ihren vielen Arbeitern seit jeher alles andere als reich sind; dass es viele Migranten dorthin zieht; dass der Strukturwandel die lokale Wirtschaft weiterhin beherrscht; Bildungsniveau und Berufsqualifikation vieler Bürger reichen nicht mehr aus!

Ein Drittel der Armen hat nicht einmal einen Schulabschluss, und jeder zweite Arbeitslose hat keinen Beruf erlernt.

Arbeitslosigkeit ist zwar die Hauptursache für Armut. Doch selbst ein Vollzeitjob ist keine Garantie für Wohlstand. Fast jeder zehnte Sozialhilfe-Empfänger in der Stadt ist vollerwerbstätig und benötigt dennoch Hilfe.

Gründe?
Die Produktivität vieler Arbeitsplätze ist zu niedrig. Arbeit zu haben bedeutet nicht zwangsläufig, dass man für den eigenen Lebensunterhalt aufkommen kann. Geschweige denn für den einer ganzen Familie.

Ein Umstand, der eine zynische Realität hervorbringt: Kinder sind ein Armutsrisiko. Je mehr Menschen in einem Haushalt leben, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zum Nötigsten nicht reicht. So gilt fast jeder zweite Fünf-Personen-Haushalt in der Stadt als arm.

Genauso hoch ist die Quote bei allein Erziehenden, ob nun mit einem oder zwei Kindern. Und immer mehr junge Menschen müssen von Sozialhilfe leben.

Armut als Lebensmodell
Von 1.000 Sozialhilfe-Empfängern in Nürnberg ist ein Viertel unter 18 Jahren. Eine Zahl, die umso drastischer in die Zukunft wirkt, weil sie zusammenfällt mit einer unzureichenden Bildungssituation. Denn nur Bildung sichert Wohlstand, wobei dies auch nicht immer zutrifft.

Nur 20 Prozent aller Schulabgänger Nürnbergs erreichen die Hochschulreife. In Erlangen sind es über 30, in Leipzig fast 35 Prozent. Obendrein haben erschreckend viele Schüler keinen Schulabschluss: fast 14 Prozent.

Das Loch am Boden der Wohlstandsgesellschaft ist zwar in vielen Städten gestopft, Armut aber nicht beseitigt. Ganz im Gegenteil. Sie frisst sich weiter durch die Bevölkerungsschichten nach oben und franst nun auch die Mittelschicht aus.

Michael Kann
30-04-2004, 09:19
Der deutsche Irrweg?

Staatsverschuldung in Prozent des BIP
1960 = 17,4 %
1969 = 19,8 % (+ 2,4 %)
1982 = 38,7 % (+18,9 %)
1989 = 41,8 % (+ 3,1 %)
1991 = 40,4 % (- 1,4 %)
1998 = 60,9 % (+ 20,5 %)
1998 = 64,2 % (+ 3,3 %)

Arbeitslosenquote BA
1960 = 1,3 %
1969 = 0,9 % (- 0,4 %)
1982 = 7,5 % (+ 6,6 %)
1989 = 7,9 % (+ 0,4 %)
1991 = 7,3 % (- 0,6 %)
1998 = 12,3 % (+ 5,0 %)
1998 = 11,6 % (-0,7 %)

Sozialbeiträge in % des Bruttolohns
1960 = 24,4 %
1969 = 27,8 % (+ 3,4 %)
1982 = 34,0 % (+ 6,2 %)
1989 = 35,8 % (+ 1,8 %)
1991 = 35,2 % (- 0,6 %)
1998 = 42,1 % (+ 6,9 %)
2003 = 42,0 % (- 0,1 %)

Sozialleistungen in Prozent des BIP
1960 = 21,1 %
1969 = 24,6 % (+ 3,5 %)
1982 = 30,9 % (+ 6,3 %)
1989 = 29,0 % (- 1,9 %)
1991 = 28,4 % (- 0,6 %)
1998 = 31,5 % (+ 3,1 %)
2001 = 32,1 % (+ 0,6 %)

Werte 2002
Verteilung der Arbeit in Deutschland
27,5 Mio. sozialversicherungspflichtige Beschäftigte
4,9 Mio. sonstige abhängige Beschäftigte
4,1 Mio. Selbständige (darunter rund 1,3 Mio. mit Kleinsteinkommen und 0,4 Mio. mithelfende Familienangehörige)

dem stehen
45,9 Mio. nicht Erwerbstätige gegenüber, nämlich
18,8 Mio. Rentner + Pensionäre
0,8 Mio. Sonstige
1,9 Mio. Studenten
4,1 Mio. Erwerbslose
4,6 Mio. Kinder unter 6 Jahren
5,9 Mio. Hausfrauen
9,8 Mio. Schüler

Forschungsausgaben in % des BIP 2001
Schweden 4,3 %
Japan 3,1 %
Südkorea 2,9 %
USA 2,8 %
Deutschland 2,5 %

Mal ne Summe um sich´s zu vergegenwärtigen - in Milliarden Dollar 2002
USA 277 Milliarden
Deutschland 55 Milliarden

Steueraufkommen der "öffentlichen Hand" in Milliarden Euro
1950 = 41,6 Milliarden Euro
2002 = 435,6 Milliarden Euro

Jährliches durchschnittliches Arbeitspensum pro Kopf der Bevölkerung
1970 = 859 h
1975 = 762 h
1980 = 774 h
1985 = 749 h
1990 = 741 h
1995 = 696 h
2000 = 685 h
2002 = 676 h

Durchschnittliche Zeitverwendung nur MÄNNLICHER Personen ab 10 Jahren in Deutschland 2001/2002 (statistisches Bundesamt)
35% Schlafen
18% Hobby/Sport/Spiel/Mediennutzung
16% Erwerbstätigkeit/Aus- und Fortbildung
12% unbezahlte Arbeit
11% Essen/Körperpflege
9% Kontakte/Unterhaltung/Veranstaltungen

Freizeitpark Deutschland?

Firmen Abwanderung ... nur mal zwei Beispiele ... von 1980 bis 2002 hat
BASF 34.000 Arbeitsplätze abgeschafft und im Ausland 6.000 Arbeitsplätze geschaffen
Siemens hat 60.000 Arbeitsplätze abgeschafft und im Ausland rund 139.000 neue geschaffen

Arbeitslose in Millionen (Jahresdurchschnitt)
1960 = 0,27 Millionen
1980 = 0,89 Millionen
1985 = 2,3 Millionen
2003 = 4,38 Millionen

Schwarzarbeit in % des BIP
1975 = 5,8 %
1980 = 10,8 %
1985 = 11,2 %
1990 = 12,2 %
1995 = 13,9 %
2000 = 16,0 %
2003 = 17,1 %

Dem Wachstum unseres Bruttoinlandprodukts von 1992 bis 2001 in Höhe von 275,4 Milliarden Euro steht der Zuwachs der Staatsverschuldung in Höhe von 496,2 Milliarden Euro gegenüber. D.h. es ist ein Wachstum auf Pump, besser, es wächst nichts, sondern wir betrügen uns selbst.