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Vollständige Version anzeigen : Anger Management in Ryūkyū



Gibukai
20-10-2015, 19:59
Hallo,

okinawanische Sprichwörter werden dann und wann auch mal von Karate-Lehrern vorgetragen und sogar erklärt. Das folgende Sprichwort scheint besonders beliebt zu sein (Übersetzung: ich):

„Wenn der Zorn hervorkommt, zieht man die Hände zurück.
Wenn die Hände hervorkommen, zieht man den Zorn zurück.“

In der Präfektur Okinawa ist es so bekannt, dass es sogar in Stein gemeißelt worden ist:

http://blogs.c.yimg.jp/res/blog-86-18/drfcr421/folder/927075/92/23149192/img_4?1296994413

(http://blogs.c.yimg.jp/res/blog-86-18/drfcr421/folder/927075/92/23149192/img_4?1296994413)

Zu diesem Sprichwort gibt es eine Geschichte, die frei (von mir) nacherzählt in etwa so klingt:

Ein Okinawaner borgte sich bei einem Mann aus Satsuma Geld, das er am Zahltag aber nicht zurückzahlen konnte. Der Mann aus Satsuma wurde natürlich sauer, zog seinen Säbel und drohte, den Okinawaner in zwei Teile zu schneiden. Da meinte der Okinawaner:

„Wenn der Zorn hervorkommt, zieht man die Hände zurück.
Wenn die Hände hervorkommen, zieht man den Zorn zurück.
Es ist doch so, wenn Ihr mich jetzt tötet, bekommt Ihr das Geld nie. Aber wenn Ihr mich leben lasst, dann besteht zumindest die Hoffnung, dass Ihr es später noch wiederbekommt.“

Den Satsuma-Gläubiger beeindruckte das, und er ließ seinen Schuldner laufen. Als er zurück in Satsuma war, sah er, dass seine Ehefrau neben einem anderen Kerl schlief. Klar, das war übel! Sofort zog er seinen Säbel und wollte den fremden Beischläfer in zwei Teile schneiden. Doch da fielen ihm wieder die Worte des Okinawaners ein. Also steckte er den Säbel zurück in die Scheide und weckte seine Frau. Nun stellte er erleichtert fest, dass der fremde Kerl nur die Mutter war, die sich zum Schutz seiner Frau als Mann verkleidet hatte, um Verbrecher zu täuschen. Fraglos war der Satsuma-Mann da sehr erleichtert und erfreut. Naja, später bekam er das Geld vom Okinawaner zurück, bedankte sich innigst für den weisen Rat, und beide wurden dicke Freunde.

Wie geschrieben wird dieses Sprichwort und die dazugehörige Geschichte von einigen Karate-Lehrern als moralische Unterweisung der Karate-Schüler eingesetzt. Sie wird auch von einem Lehrmeister mit einem der bekanntesten Karate-Lehrsätze verknüpft …

Grüße,

Henning Wittwer

Gast
21-10-2015, 06:50
Hallo Henning,

danke für diesen Beitrag.
Auf dem Stein steht doch i-ji (意地). Kannst du etwas zur Verwendung/Deutung/Übersetzung als "Zorn" dieser Zeichenkombination sagen?

Grüße,
Julian

Gibukai
21-10-2015, 08:48
Hallo Julian,

klar, kann ich: "Iji" ist hier ein Wort aus der okinawanischen Sprache und wird wie im Hochjapanischen auch "Iji" gelesen. Im Okinawanischen hat "Iji" nun neben "Stolz", "Willenskraft" usw. ebenso die Bedeutung "Zorn". Deswegen ist die Geschichte um dieses Sprichwort herum als Ergänzung nicht unwichtig, in der es um die Kontrolle des Zorns geht (erst wegen dem Geld, dann wegen der Bettgeschichte).

Grüße,

Henning Wittwer

Gast
21-10-2015, 09:14
Hallo Julian,

klar, kann ich: "Iji" ist hier ein Wort aus der okinawanischen Sprache und wird wie im Hochjapanischen auch "Iji" gelesen. Im Okinawanischen hat "Iji" nun neben "Stolz", "Willenskraft" usw. ebenso die Bedeutung "Zorn". Deswegen ist die Geschichte um dieses Sprichwort herum als Ergänzung nicht unwichtig, in der es um die Kontrolle des Zorns geht (erst wegen dem Geld, dann wegen der Bettgeschichte).

Grüße,

Henning Wittwer

Merci. Kannst du ein spezielles Wörterbuch für den Hausgebrauch empfehlen?

Kurzer
22-10-2015, 20:09
Mir entschließt sich der Sinn des Ganzen nicht.

Gürteltier
22-10-2015, 23:52
Mir entschließt sich der Sinn des Ganzen nicht.

"Auch wenn Du von zwei Lesben auf die Rolle geschoben wirst, kannst Du was für's Leben draus lernen."

Ist so wie die Geschichte von Herrn Kannitverstan... Und ein Sinnbild für Karate.

SV_Tim
23-10-2015, 07:14
Sie wird auch von einem Lehrmeister mit einem der bekanntesten Karate-Lehrsätze verknüpft...


Kannst du dazu noch was sagen?

Gibukai
23-10-2015, 08:53
Hallo,

(1) Wen der „Sinn des Ganzen“ umtreibt, der möge sich an den Philosophen oder die Religion seines Vertrauens wenden. Denn da bin ich sicher der falsche Ansprechpartner.

(2) Wenn es um den Sinn in diesem Thema geht, dann wäre eine konkretere Fragestellung hilfreich. Herkömmliches Karate entstammt keinem Labor, es wurde nicht in einem kulturellen Vakuum zusammengestellt und weitergegeben. Herkömmliches Karate entstammt der bunten Kultur des Ryūkyū-Königreichs, zu der natürlich auch Sprache und Sprichworte (Folklore) gehörten. Diese Sprache und Sprichworte wiederum beeinflussten direkt die kampfkünstlerische Kultur Ryūkyūs, also die Kultur, die Kampfkünstler in Ryūkyū lebten und die heute noch dem herkömmlichen Karate in Teilen anhaftet. In den überlieferten Texten der frühen Karate-Adepten gibt es immer wieder Anspielungen auf die und Verknüpfungen mit der Ryūkyū-Kultur. Wer also herkömmliches Karate verstehen möchte, benötigt u. a. Einblicke in diese Kultur. Hier im Thema gewähre ich einen kleinen Einblick, indem ich ein Ryūkyū-Sprichwort vorstelle, dass nachweislich Einfluss auf die kampfkünstlerische Kultur Ryūkyūs hatte. Wie ich oben schrieb verwiesen einige Karate-Lehrer auf eben dieses Sprichwort und nutzten es zur Belehrung von Schülern.

(3) S. Nagamine (1907–1997) bringt das Sprichwort aus dem Thema hier mit dem Karate-Lehrsatz „Karate ni Sente nashi“ in Verbindung. Für ihn gehört das Sprichwort zum Herzen der Okinawaner, und Karate-Adepten übernahmen daher seine Grundaussage in die Lehre des Karate. „Karate ni Sente nashi“ hat eine moralische und eine taktische Seite. Das Sprichwort hilft, die moralische Seite zu erklären: wenn ich zornig bin, dann sollte ich meine Hände nicht zum Prügeln ausfahren.

Grüße,

Henning Wittwer

SV_Tim
23-10-2015, 17:11
(3) S. Nagamine (1907–1997) bringt das Sprichwort aus dem Thema hier mit dem Karate-Lehrsatz „Karate ni Sente nashi“ in Verbindung. Für ihn gehört das Sprichwort zum Herzen der Okinawaner, und Karate-Adepten übernahmen daher seine Grundaussage in die Lehre des Karate. „Karate ni Sente nashi“ hat eine moralische und eine taktische Seite. Das Sprichwort hilft, die moralische Seite zu erklären: wenn ich zornig bin, dann sollte ich meine Hände nicht zum Prügeln ausfahren.

Ich kenne dafür nur die Übersetzung "Im Karate gibt es keinen ersten Angriff/ keine erste Bewegung."

Inwieweit ist die Übersetzung zu gebrauchen?

Danke schon Mal für die bisherigen Ausführungen :)


Liebe Grüße
Tim

Vegeto
24-10-2015, 19:28
@Gibukai
Super. Danke! Vor zwei Wochen habe ich das Zitat gesucht und mir fiel nicht mehr ein woher ich das kannte.

@Tim Zu "Karate ni sente nashi" könntest du auch sagen "Vom Karateka geht nicht die Initiative einer Auseinandersetzung aus"

Gibukai
25-10-2015, 19:22
Hallo,

die Übersetzung „erster Angriff“ für „Sente“ ist aus meiner Sicht richtig schlecht, und zwar auf mehreren Ebenen. Wörtlich übersetzt bedeutet „Sente“ „zuerst die Hand (erheben)“, und allgemeiner „erster Zug“ bzw. „vorauseilender Zug“ („Zug“ wie etwa in „Schachzug“). Ein Problem ist – wie so oft –, dass Leute so einen Lehrsatz auf Teufel komm raus interpretieren („übersetzen“), ohne auch nur den Ansatz einer Ahnung von der Lehre des herkömmlichen Karate zu haben. G. Funakoshi (1868–1957) verwendete diesen Lehrsatz als einen in seiner Liste von zwanzig Lehrsätzen. Aber diese Liste ist „nur“ verdichtetes Wissen. Er schrieb an anderen Stellen vieles, was diese Lehrsätze überhaupt erst in seinem Sinn verständlich macht (was aber gleichzeitig den „Übersetzern“ und „Interpreten“ unbekannt ist). Ein zweites Problem ist, dass gerade dieser Lehrsatz mit viel persönlicher Ideologie verbunden ist. Beispielsweise schrieb C. Motobu (1870–1944), dass Karate ausschließlich „Sente“ sei. Trotzdem lehrte er technische/taktische Verfahren, die zum Großteil eben das Gegenteil von „Sente“ sind. Er konnte bloß diesen Lehrsatz nicht leiden, weil er von seinem großen Konkurrenten in Japan in Umlauf gebracht worden war, G. Funakoshi. Jedenfalls geht die Bedeutung dieses Lehrsatzes weit über ein naives Moralisieren in Richtung „Fang‘ keine Prügeleien an!“ hinaus. Wenn Du Dich dafür interessierst, wie er vor über hundert Jahren von A. Asato (1828–1906), der u. a. königlicher Kampfkunstlehrer war, erklärt worden ist, lies bitte in meinem Shōtōkan Band I auf S. 20 nach (und zusätzlich meine Anmerkungen dazu auf S. 25 f.).

Grüße,

Henning Wittwer

Gibukai
26-10-2015, 09:36
Hallo,

vielleicht noch als Ergänzung: „Initiative“ ist im Karate immer da, und „Karate ni Sente nashi“ hält den Karate-Anhänger nicht dazu an, „ohne Initiative“ oder „initiativlos“ zu sein …

Grüße,

Henning Wittwer