Vollständige Version anzeigen : Capoeira, asiatische Kampfkunst und Mentale Größe
Ich bin mittlerweile 46 Jahre jung und übe seit 3,5 Jahren die Kampfkunst des Kitaido (Mischung aus KungFu, Aikido,Karate und Judo). Die Schule ist gut was die Schulung der körperlichen Möglichkeiten angeht. Neuerdings versuchen wir uns auch im Capoeira, wobei es lediglich auf Basis von Videoaufnahmen beruht. Es macht mir aber zunehmend Spaß.
Beide KKs haben eine Historie, die für mich ein Geist wiederspiegelt, der einmalig ist. Durch das erarbeiten und anwenden dieser Kampfkünste haben sich einst Völker verteidigt und für Ihre Rechte gekämpft. Jede KK auf seine einmalige Weise.
Ich habe auch gelernt, daß die KKs zu einer höheren mentalen Kraft im normalen Leben führen wird. Ich denke auch, daß dieser Geist mit jedem neuen Gurt oder mit jeder neuen Figur, die man lernt, zu erleben sein muß.
Meine Frage ist : Ab wann kann man damit rechnen, daß dieser Geist auf das normale Leben übergeht ? Erwarte ich zuviel, bin ich zu ungeduldig ? Muß ich noch TaiChi lernen oder sogar ins Kloster gehen, um diese höheren Weihen zu erfahren?
Ich Danke Euch schon mal für Eure Beiträge !!
Ligeirinho
09-08-2004, 16:29
Hallo Kicapo,
zunächst mal: Willkommen im Board!
Ich bin mir nicht ganz sicher, was du mit "höheren Weihen" meinst.
Die Geisteshaltung, die sich im Capoeira-Spiel entwickelt, nennt sich jedenfalls Malicia - übersetzt etwa mit Schlauheit, Hinterlist, Gerissenheit, Schlitzohrigkeit... Werte, die bei den "Verlierern des Spiels" meist negativ besetzt sind. Niemand wird halt gerne ausgetrickst. Malicia läßt sich nicht durch das Anschauen von Videos oder das Nachahmen von Bewegungen erlernen, sondern durch das Aufwachsen in einem entsprechenden Millieu, durch das Zusammensein mit Menschen, die über diese Eigenschaft verfügen, oder eben auch hin und wieder :D durch jahrelanges Capoeira Spielen.
Das Verhalten vieler brasilianischer Mestres wirkt auf viele Beobachter wenig "meisterlich". Manch einer würde es noch häßlicher formulieren. Für die Mestres ist es Malicia - eine Art, vorteilhaft durchs Leben zu kommen.
erst einmal Danke für Deinen Willkommensgruß.
Um zu Anfang Deine Frage zu beantworten, was ich mit höheren Weihen meine, so ist dies der Geist der hinter einer Kampfkunst steht. Beim Kitaido gibt es z.B. einige Regeln die man für sich interpretieren muß. Folgende zwei Regeln möchte ich als Grundlage meiner Antwort nennen :
1) Die höchste Kunst der Selbstverteidigung ist den Kampf zu vermeiden.
2) Wenn du den Kampf nicht vermeiden kannst, so mache Deinem Sensei und deiner Schule Ehre.
Diese Regeln sind dahingehend auslegbar, für sich zu entscheiden, wann ein Kampf Sinn macht und wann nicht. Auch zeigen diese Regeln, daß du Teil eines Senseis und auch Teil einer Schule geworden bist. Es gibt zu solchen Themen überlieferte Geschichten aus Asien, die hier etwas Klarheit bringen sollen. Diese Geschichten erzählen auch über alltägliche Ereignisse. Obwohl ich diese Regeln und einige Geschichten interpretieren kann, weiß ich jedoch nicht, ob ich sie im Ernstfall richtig anwende.
Dies meine ich unter anderem mit "höheren Weihen". Es ändert sich ein Stück von Dir selbst. Man sieht Dinge und Ereignisse aus einer anderen Sicht als vorher.
Im Capoeira spricht man vom Spielen. Spiele haben auch Regeln. Deine Antwort hilft mir diesbezüglich schon ein Stück weiter. Die Malicia scheint also eines dieser tieferen Bestandteile des Capoeira zu sein. Schlitzohrigkeit, aber nur im positiven Sinne, ist auch im alltäglichen Leben manchmal gefragt. Spielen hat aber auch etwas mit Kindheit zu tun. Kinder versuchen immer wieder, Grenzen zu überschreiten und sich selbst Regeln zu bauen, um sich in einen Vorteil zu bringen. Dies ist sicher auch Bestandteil des Capoeira und nicht nur in körperlicher Hinsicht. Gibt es Mestre, die auch mit Regeln und/oder Geschichten arbeiten ? Wenn ja, wo kann ich soetwas nachlesen ?
Auf Dauer gebe ich Dir recht mit der Aussage, daß man Capoeira nicht von Videos lernen kann. a es mir so gut gefällt, werde ich mich zu einem späteren zeitpunkt um eine Schule in meiner Nähe kümmern. Da ich aber weit ab von der nächsten Großstadt (Stuttgart) wohne, tue ich mich schwer in einer so ländlichen Gegend eine geeignete Schule zu finden. So beschränke ich mich momentan erst einmal darauf, meine körperlichen Fähigkeiten dahingehend zu verbessern, daß ich in der Lage bin, die, zumindest für mich, schwierigen Figuren zu lernen. Eventuell kennst Du ja eine Schule in meiner Nähe. Ich habe leider noch keine gefunden (Wohnort ist Mötzingen bei Nagold).
Ligeirinho
10-08-2004, 14:03
Ich will niemandem in seinem Ehrbegriff zu nahe treten, aber auf der Straße bin ich allein und nur für mich selbst verantwortlich. Es gibt also keinen Trainer, dem ich Ehre machen müßte. Sich für einen Freund/ein Familienmitglied (oder einen Fremden) einsetzen, hat auch nicht unbedingt etwas mit meinem Meister zu tun sondern damit, daß ich meinen eigenen Werten genügen muß. Im Wettkampf sieht es schon anders aus; aber selbst wenn ich meinen Trainer und meine Teamkollegen hier nicht enttäuschen will, kämpfe ich doch zuallererst für mich, weil ich mir selber etwas beweisen will.
Beim Capoeira gibt es einen Verhaltenskodex, der manchmal von Gruppe zu Gruppe variieren kann. In wohl allen Gruppen ist es so, daß ein Freund einen anderen „aus dem Spiel kauft“, wenn der in Bedrängnis gerät.
In einem Spiel, in dem ich beteiligt war, wurde mal ein Klappmesser in die Roda geworfen. Es war nur Spaß, aber es hätte auch böse enden können, wenn einer von uns die Nerven verloren oder sich für Superman gehalten hätte.
Beim Capoeira muß man immer vorsichtig sein und hinterfragen, ob der eigene „Ehrbegriff“ auch der meines Gegenübers ist.
Spielen hat aber auch etwas mit Kindheit zu tun. Kinder versuchen immer wieder, Grenzen zu überschreiten und sich selbst Regeln zu bauen, um sich in einen Vorteil zu bringen. Dies ist sicher auch Bestandteil des Capoeira und nicht nur in körperlicher Hinsicht.
Interessant. Du trainierst kein Capoeira, aber du beschreibst da etwas, daß ich mir beim Capoeira-Training auch oft überlegt habe.
Gibt es Mestre, die auch mit Regeln und/oder Geschichten arbeiten ? Wenn ja, wo kann ich soetwas nachlesen ?.
Da würde ich dir die Arbeit von Matthias Röhrig empfehlen, nachzulesen bei pernas pro ar (http://capoeira.de)
Jemand, der sich auch sehr viel mit der Geschichte der Capoeira beschäftigt, ist Mestre Nestor, der auch mehrere Bücher darüber geschrieben hat. Findest du auf derselben Seite oder bei Amazon.
Grundsätzlich gebe ich Dir recht mit dem Straßenkampf. Dennoch meine ich, daß Kampfsport und Kampfkunst auch diesbezüglich falsch angewendet werden kann. Wenn jemand mit Stock oder Messer auf einen zukommt oder jemanden bedroht, so ist es unumstritten richtig, mit allen Mitteln schlimmeres zu vermeiden. Wenn ich aber gleiche Mittel bei einem offensichtlich angetrunkenen pöbelnden Tunichtgut anwende, nur weil ich einem schaulustigen Publikum meine Talente zeigen will, so mache ich dem Sport, mir selber und auch meiner Schule und dem was ich durch meinen Sensei gelernt habe sicher keine Ehre. Dies habe ich aber leider oft genug erlebt. Im Recht heißt das : Verhältnismäßigkeit der Mittel.
Ich werde mir die Arbeiten von Mestre Nestor mal zu Gemüte führen. Ich habe ab dem 14. 2 Wochen Urlaub und wenn ich noch ein Buch ergattern kann, werde ich dort sicher auch Zeit zum lesen finden. Eventuell gewinne ich ja da noch ein paar Erkenntnisse. Danke für diesen Tip!
Ich denke, es sind oft auch garnicht die großen Philosophien, die einem die Capoeira für den Alltag fit macht, sondern die kleinen Weisheiten wie, es ist keine Schande hinzufallen sondern liegen zubleiben.
Oder, wenn man was abbekommt, es nicht gleich mit barer Münze zurückzugeben, sondern auf einen geeigneteren Moment zu warten, wenn es der andere nicht erwartet.
empfehlen kann ich auch das Buch: J. Lowell Lewis
Ring of Liberation : Deceptive Discourse in Brazilian Capoeira
Englischsprachig
University of Chicago Press.
Das geht auch mehr in die philosophisch-kulturellen Aspekte der Capoeira ein.
Auch wenn man aus wissenschaftlicher Sicht die Sichtweise des aktiven Beobachters kritisch sehen kann, ist es dennoch recht lesenswert und hat interessante Fakten zu bieten.
Aber Nestor Capoeira ist zum Einstieg auch schon gut.
Zu Schulen, da kenne ich nur welche in Stuttgart.
Gruß
Suxi
freut mich, daß Du Dich meldest. Ich werde mir das empfohlene Buch ebenfalls anschauen und versuchen, es zu erwerben. Auch schön, daß sich noch andere Gedanken über einen tieferen Sinn machen. Das körperliche ist erlernbar, der Geist muß verstehen.
Ich habe mich gestern im Training an den 540er getraut und siehe da, es funktioniert schon ganz gut. Am Anfang bin ich öfters auf die Schnauze gefallen aber hinterher konnte ich ihn richtig stehen. Was lerne ich daraus : Wenn ich wirklich will, kann ich (fast) alles erreichen. Ist doch auch eine Weisheit, die ich auf mein Leben übertragen kann.
erst einmal Danke für Deinen Willkommensgruß.
Im Capoeira spricht man vom Spielen. Spiele haben auch Regeln. Deine Antwort hilft mir diesbezüglich schon ein Stück weiter. Die Malicia scheint also eines dieser tieferen Bestandteile des Capoeira zu sein. Schlitzohrigkeit, aber nur im positiven Sinne, ist auch im alltäglichen Leben manchmal gefragt.
Diese Schlitzohrigkeit im Capoeira ist keineswegs so positiv wie Du schreibst.
Sie entstammt zum größtem Teil dem kriminellen Milieu in dem die Capoeira lange Zeit verankert war.
In den Armenvierteln konnte man mit den gesetzestreuen und ehrbaren Verhalten wenig gewinnen. Wenn man den anderen nicht über's Ohr haut, wird man selbst über's Ohr gehauen und in einem Kampf war es besser seinem Gegner das Messer in den Rücken zu rammen als ihn zum Duell zu fordern.
Kurz: Man musste ein Gauner sein um zu überleben.
Diese Listigkeit spielte damals eine große Rolle und sie spiegelt sich auch heute noch in der Capoeira wieder.
Auch heute gibt es im Spiel keine festen Regeln.
Das harmlose Spiel kann auch schnell gewaltsam entgleisen.
Das gehört dazu und es gibt keine Regel die das verbietet. Genausowenig gibt es Regeln die einem Capoeirista ehrbares und moralisches Verhalten in seinem Leben vorschreiben. Nicht selten werden Meinungsverschiedenheiten zwischen verschiedenen Gruppen in der Roda ausgetragen anstatt sie auszudiskutieren. Auf das Erlernen moralisch-ethischen Verhaltens, Höhe des Geistes etc. wird bei der Capoeira kaum Wert gelegt.
Dennoch gibt es ungeschriebene Gesetze die von allen Capoeiristas umso mehr geachtet werden. Dazu gehört an erster Stelle die Ausübung der Capoeira entsprechend ihrer Traditionen. Die Achtung und Bewahrung der Traditionen ist im Capoeira mindestens genauso wichtig wie in asiatischen Kampfkünsten. Das Kennen der Geschichte, das Ausüben entsprechend der Traditionen und die Beherrschung der Musik und des Gesangs steht an genau so hoher Stelle wie das Beherrschen des Spiels.
Der Grund hierfür lässt sich mit dem traumatischen Ursprung der Capoeira erklären. Jeder Capoeirista verpflichtet sich an die leidvolle Geschichte der Capoeira und die vielen Opfer der Sklaverei zu erinnern in dem er sie in der Roda in den Liedern besingt und die alten Traditionen des Spiels achtet.
Obwohl es viele Meinungsverschiedenheiten unter den Capoeira-Gruppen gibt, die in Brasilien auch oft mehr oder minder aggressiv ausgetragen werden, so eint sie doch alle das Ziel den traditionellen Reichtum der Capoeira und ihre Geschichte in aller Fülle zu erhalten.
PS: Was zum Teufel ist ein 540iger?
mat~°~rose
25-08-2004, 19:04
540 iger ?
Suchfunktion :)
bsp. hier http://www.kampfkunst-board.info/forum/showthread.php?t=11670&highlight=540
Hallo Camera,
erst einmal danke für deine ausführlichen Beschreibung der Philosopie und der Traditionsbewahrung. Es gibt mir sicher mehr Einblick in das, was ich im Capoeira suche.
Zu Deiner Frage : ich habe den Begriff aus einem Video übernommen. Hier wird er beschrieben als zwei Tritte in einem Ablauf bei dem man sich um 540 Grad um die eigene Achse dreht. Nach 360 Grad tritts Du mit dem einen Fuß und ziehst praktisch in der Luft den anderen nach zum Tritt.
Es kann sein, daß dieser Begriff falsch ist. Ich habe sowieso das Gefühl, daß bei dem Video vieles eingedeutscht ist.
Diese Schlitzohrigkeit im Capoeira ist keineswegs so positiv wie Du schreibst.
Sie entstammt zum größtem Teil dem kriminellen Milieu in dem die Capoeira lange Zeit verankert war.
In den Armenvierteln konnte man mit den gesetzestreuen und ehrbaren Verhalten wenig gewinnen. Wenn man den anderen nicht über's Ohr haut, wird man selbst über's Ohr gehauen und in einem Kampf war es besser seinem Gegner das Messer in den Rücken zu rammen als ihn zum Duell zu fordern.
Kurz: Man musste ein Gauner sein um zu überleben.
Diese Listigkeit spielte damals eine große Rolle und sie spiegelt sich auch heute noch in der Capoeira wieder.
Auch heute gibt es im Spiel keine festen Regeln.
Das harmlose Spiel kann auch schnell gewaltsam entgleisen.
Das gehört dazu und es gibt keine Regel die das verbietet. Genausowenig gibt es Regeln die einem Capoeirista ehrbares und moralisches Verhalten in seinem Leben vorschreiben. Nicht selten werden Meinungsverschiedenheiten zwischen verschiedenen Gruppen in der Roda ausgetragen anstatt sie auszudiskutieren. Auf das Erlernen moralisch-ethischen Verhaltens, Höhe des Geistes etc. wird bei der Capoeira kaum Wert gelegt.
Dennoch gibt es ungeschriebene Gesetze die von allen Capoeiristas umso mehr geachtet werden. Dazu gehört an erster Stelle die Ausübung der Capoeira entsprechend ihrer Traditionen. Die Achtung und Bewahrung der Traditionen ist im Capoeira mindestens genauso wichtig wie in asiatischen Kampfkünsten. Das Kennen der Geschichte, das Ausüben entsprechend der Traditionen und die Beherrschung der Musik und des Gesangs steht an genau so hoher Stelle wie das Beherrschen des Spiels.
Der Grund hierfür lässt sich mit dem traumatischen Ursprung der Capoeira erklären. Jeder Capoeirista verpflichtet sich an die leidvolle Geschichte der Capoeira und die vielen Opfer der Sklaverei zu erinnern in dem er sie in der Roda in den Liedern besingt und die alten Traditionen des Spiels achtet.
Obwohl es viele Meinungsverschiedenheiten unter den Capoeira-Gruppen gibt, die in Brasilien auch oft mehr oder minder aggressiv ausgetragen werden, so eint sie doch alle das Ziel den traditionellen Reichtum der Capoeira und ihre Geschichte in aller Fülle zu erhalten.
PS: Was zum Teufel ist ein 540iger?
vBulletin v4.2.5, Copyright ©2000-2025, Jelsoft Enterprises Ltd.