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Vollständige Version anzeigen : Diskussionskultur / angelsächsische Debattenkultur



Pansapiens
03-12-2019, 18:03
Aus dem Homöopathiethread von rambat über die angelsächsische Debattenkultur:



es kommt nicht darauf an, jemanden zu "überzeugen". wenn jemand einen standpunkt vertritt, den er mit stichhaltigen argumenten nicht verteidigen kann, dann wird derjenige widerlegt.
in der angelsächsischen debattenkultur hat man dann die größe, einzugestehen, dass man sich geirrt hat (oder es war zumindest bis vor etwa 10-15 jahren so).



Und das ist dann kein "Konsens" wenn sich beide einig sind, welcher Standpunkt korrekt ist?


nein.
denn es wird zwar - zumindest in der angelsächsischen debattenkultur - erwartet, dass man zugibt, wenn man widerlegt wurde.
ABER das bedeutet eben NUR (und darin ist man sich dort weitgehend einig), dass der opponent die besseren argumente ins feld geführt hat.
das bedeutet NICHT, dass der opponent nun den "einzig korrekten standpunkt" für sich reklamieren kann und im besitz der alleinseligmachenden wahrheit ist.
und das ist den an solchern debatten beteiligten auch klar - anders als hierzulande.

gebildete angelachsen haben (zumindest bis vor einiger zeit) in ihren "prep schools" und ihren colleges ganz selbstverständlich an der kultur der "debattier-klubs" teilgenommen.
dort wurden/werden diskussionen geführt, bei denen es nicht ums "gewinnen" geht, sondern darum, dass man schon als junger und gebildeter mensch lernt, was "erörtern" heißt, wie man sachlich argumentiert und dass man erkennt, dass es sinnlos ist, sich in eine meinung zu verbeißen.
ich hab das ein paarmal in england erleben dürfen - DAVON sind wir alle hier lichtjahre entfernt.
leider.
und ich nehme mich da nicht aus ...


Hmm, ich muss gestehen, ich habe da an mehreren Stellen eine andere Sichtweise. Wäre aber ein extra-Thread.

Da mich die Sichtweise von Julian Braun interessiert, hier der Extra-Thread.
Bisher bin ich davon ausgegangen, dass es in Debattierclubs eher darum ginge, eine Diskussion zu gewinnen, als redlich zu diskutieren oder tatsächlich einen Standpunkt möglichst klar zu erörtern.
In Wikipedia finde ich zu diesem Thema:


Bereits seit dem frühen 20. Jahrhundert stellen viele Highschools und Colleges in diesen Ländern [USA/England] debate teams auf, die im Rahmen lokaler, nationaler und internationaler Wettkämpfe gegen die Teams anderer Schulen antreten. Seine Blütezeit hatte das competetive debating in den USA in den 1920er und 1930er Jahren, gepflegt wird es jedoch bis in die Gegenwart.

Keine Ahnung, ob das stimmt, bestätigt aber mein Vorurteil.
Irre ich mich?
Erfüllen in angesächsischen Debattierclubs die Teilnehmer regelmäßig die schopenhauerschen Qualtitätskriterien, sind also Leute, die


Verstand genug besitzen, nicht gar zu Absurdes vorzubringen und dadurch beschämt werden zu müssen; und um mit Gründen zu disputieren und nicht mit Machtsprüchen, und um auf Gründe zu hören und darauf einzugehen, und endlich, dass sie die Wahrheit schätzen, gute Gründe gern hören, auch aus dem Munde des Gegners, und Billigkeit genug haben, um es ertragen zu können, Unrecht zu behalten, wenn die Wahrheit auf der anderen Seite liegt.

???

Little Green Dragon
03-12-2019, 18:18
Bisher bin ich davon ausgegangen, dass es in Debattierclubs eher darum ginge, eine Diskussion zu gewinnen, als redlich zu diskutieren oder tatsächlich einen Standpunkt möglichst klar zu erörtern.


Du kannst beim „sportlichen“ Debattieren sogar gewinnen, wenn Du eine (nachweislich) „falsche“ Position überzeugend genug bzw. besser als das Gegenüber das die „richtige“ Position vertritt darlegst.

Also wenn Du überzeugend argumentierst, dass der Himmel nicht blau wahrgenommen wird, sondern grün.

Insofern geht es nicht darum „recht“ zu haben, sondern beim reden zu überzeugen.

Gast
03-12-2019, 20:00
Gut, dann will ich versuchen ein wenig zu liefern... Da kommen verschiedene Aspekte zum Tragen, die ich versuchen will kurz zu erläutern.

Zum einen störe ich mich ein wenig an der Gegenüberstellung einer allgemeinen positiven angelsächsischen Diskussionskultur zu einer negativen kontinentaleuropäischen Diskussionskultur.
Für mich persönlich ist Diskussion und Debattieren ein wesentlicher Bestandteil meiner Beschäftigung mit der abendländischen Philosophie. Für Griechenland möchte ich nur an die Sophisten sowie Sokrates und Platon erinnern; und praktisch für das gesamte Früh- bis Spätmittelalter war die Dialektik ein unverzichtbarer Bestandteil der philosophischen Ausbildung. Hier kann man als Beispiel mal einen Blick in die "Summe der Theologie" oder "Über die Wahrheit" von Thomas von Aquin werfen um zu sehen, wie differenziert und stringent dort Argumente und Gegenargumente ausgeführt sind. Aber es gibt natürlich noch eine große Fülle anderer Philosophen, welche sich ebenfalls damit beschäftigt haben.

Damit zusammen hängt der von Rambat angesprochene Punkt, sich "einzugestehen, dass man widerlegt wurde bzw. der andere die besseren Argumente hat". Ich kann mir jetzt nicht vorstellen, dass dies tatsächlich flächendeckend im angelsächsischen Raum in größerem Ausmaß passiert als hierzulande oder anderswo (ohne dass das jetzt natürlich Rambats konkrete Erlebnisse in Frage stellt). Ein paar wenige Blicke in zeitgenössische britische oder amerikanischen Politik erwecken bei mir jedenfalls nicht diesen Eindruck, ebenso wenig wie die etwas umfangreicheren Einblicke in englischsprachige Foren. Auch hier würde zudem ergänzen wollen, dass die "Kraft des besseren Arguments" auch in der abendländischen Tradition als (frommer?) Wunsch natürlich bekannt ist; in der Neuzeit vielleicht am stärksten vertreten von Habermas (Google z. B. nach "herrschaftsfreier Diskurs").

Ein dritter Aspekt geht noch tiefer und den kann ich jetzt nicht groß ausformulieren; hier geht es um Fragen wie den Zusammenhang zwischen Wahrheit und Überzeugungskraft, was überhaupt gültige Argumente sind, welche Fragestellungen überhaupt mit welchen Mitteln und Argumenten behandelbar sind, die Motivation und Psychologie einer Diskussion etc.

Last not least hat mich speziell an dem erwähnten Post aber die Vereinnahmung gestört, dass "wir alle Lichtjahre" davon entfernt sein sollen; dem widerspreche ich zumindest für mich :)

Und jetzt: Feuer frei! :fechtduel

Gast
03-12-2019, 20:04
lieber julian, du hast recht.


Last not least hat mich speziell an dem erwähnten Post aber die Vereinnahmung gestört, dass "wir alle Lichtjahre" davon entfernt sein sollen; dem widerspreche ich zumindest für mich
das war einfach eine unzulässige pauschalisierung, derer ich mich da schuldig gemacht habe.
ich nehme also meine behauptung mit dem ausdruck des bedauerns zurück.


Damit zusammen hängt der von Rambat angesprochene Punkt, sich "einzugestehen, dass man widerlegt wurde bzw. der andere die besseren Argumente hat". Ich kann mir jetzt nicht vorstellen, dass dies tatsächlich flächendeckend im angelsächsischen Raum in größerem Ausmaß passiert als hierzulande oder anderswo (ohne dass das jetzt natürlich Rambats konkrete Erlebnisse in Frage stellt).
ich hätte noch deutlicher herausstellen sollen, dass ich mich ausschließlich auf meine eigenen erlebnisse mit dieser debattenkultur beziehe.
es ist also ein subjektiver blick, ohne anspruch auf allgemeingültigkeit.
das hätte ich wohl deutlicher erklären sollen ...

Gast
03-12-2019, 20:06
lieber julian, du hast recht.


das war einfach eine unzulässige pauschalisierung, derer ich mich da schuldig gemacht habe.
ich nehme also meine behauptung mit dem ausdruck des bedauerns zurück.

:blume:
(Aber vielleicht irre ich mich ja auch und man muss mich halt davon überzeugen. :) )

Lugasch
03-12-2019, 20:26
lieber julian, du hast recht.


das war einfach eine unzulässige pauschalisierung, derer ich mich da schuldig gemacht habe.
ich nehme also meine behauptung mit dem ausdruck des bedauerns zurück.


ich hätte noch deutlicher herausstellen sollen, dass ich mich ausschließlich auf meine eigenen erlebnisse mit dieser debattenkultur beziehe.
es ist also ein subjektiver blick, ohne anspruch auf allgemeingültigkeit.
das hätte ich wohl deutlicher erklären sollen ...

Kannst du von den Erlebnissen berichten? Ich kenne die Debattierclubs nur aus den Filmen und würde gerne einen Bericht aus erster Hand lesen.
Ansonsten (und eher am Themenrand) - mir kommt es vor, dass das Debattiergefälle eher zeitlich denn geografisch ist. Ich meine damit, dass ich das Gefühl habe, dass die Leute früher eine Gegenmeinung (insb. in den Politikdiskussionen) viel eher toleriert haben, selbst wenn sie der eigenen Einstellung ziemlich gegen den Strich ging. Heute geht es mehr um die Außenwirkung und nicht so sehr um die Sache. Jetzt frage ich mich natürlich, ob meine Beobachtungen objektiv sind und es an diesem neuartigen Internet liegt, oder ob ich mittlerweile in ein Alter komme, wo "früher alles besser" war :)

Gast
03-12-2019, 20:45
@lugasch:

ich hatte die gelegenheit, vor einigen jahren mehrfach in cambridge zu sein. ich war dorthin eingeladen worden (nee, nicht an die uni, sondern privat).
der einladende aber leitet dort einen studentischen debattierclub.
gut, die debattierenden sind "upper class", aber sowas hat mich noch nie abgeschreckt. ich fand sie alle sehr freundlich und sehr höflich.
gute manieren sind ja auch nicht überall selbstverständlich ... dort aber schon.

mein englisch ist wirklich, wirklich gut, und doch hab ich nicht alles genau mitbekommen. manchmal sprachen einge der debattierenden regelrecht im stakkato ... aber es ging sehr, sehr gesittet zu, und sie hatten wohl auch so eine art "schiedsrichter". der erklärte nun niemanden zum sieger, sondern mahnte (selten) die einhaltung der konventionen an.
fand ich gut.

john (also derjenige, der mich eingeladen hatte) erzählte mir dann aber, dass es sich um ein aussterbendes hobby handeln würde ...
insofern ist das wohl tatsächlich eine zeitliche und nicht unbedingt eine geografische angelegenheit, da gebe ich dir recht.

Willi von der Heide
04-12-2019, 00:01
@lugasch:
ich hatte die gelegenheit, vor einigen jahren mehrfach in cambridge zu sein. ich war dorthin eingeladen worden (nee, nicht an die uni, sondern privat).
der einladende aber leitet dort einen studentischen debattierclub.
gut, die debattierenden sind "upper class", aber sowas hat mich noch nie abgeschreckt. ich fand sie alle sehr freundlich und sehr höflich.
gute manieren sind ja auch nicht überall selbstverständlich ... dort aber schon.

:) Du warst ein " Gast auf Zeit " ... auch wenn sie sehr höflich zu dir waren, würdest du ( ich auch ) niemals dazugehören. Die Klassenschranken - die britische Gesellschaft besteht ungefähr aus 7 Klassen - sind praktisch unüberwindbar.

https://www.nzz.ch/das-grosse-klassenrechnen-in-grossbritannien-1.18057548
https://www.zeit.de/wirtschaft/2017-07/grossbritannien-klassengesellschaft-brexit-bildung-ungleichheit
https://www.deutschlandfunk.de/grossbritannien-leben-in-einer-klassengesellschaft.1310.de.html?dram:article_id=3 50960


mein englisch ist wirklich, wirklich gut, und doch hab ich nicht alles genau mitbekommen. manchmal sprachen einge der debattierenden regelrecht im stakkato ... aber es ging sehr, sehr gesittet zu, und sie hatten wohl auch so eine art "schiedsrichter". der erklärte nun niemanden zum sieger, sondern mahnte (selten) die einhaltung der konventionen an.
fand ich gut.

Wie bei uns, gibt es in UK natürlich auch Dialekte ( Oh Wunder :D ! ). Darüberhinaus, können Briten nicht nur in Sekundenbruchteilen feststellen, woher du geografisch kommst, sondern auch aus welcher Schicht. " upper class drawl " wird eben nur von der Oberschicht gesprochen. In " Oxbridge " ( Unis Oxford + Cambridge ) kommt dann noch eine Besonderheit hinzu. Die Studenten kreieren Wortungetüme aus Latein, Altgriechisch und fast schon altertümlichem Englisch, daß kaum noch gesprochen, aber von ihnen verstanden, gepflegt und kultiviert wird.


https://www.youtube.com/watch?v=lBlLBPPIXZA

Zu ihm noch ein Zeitungsartikel: https://www.zeit.de/politik/ausland/2017-08/jacob-rees-mogg-grossbritannien-nachfolge-theresa-may

Sie schotten sich damit ab. Jetzt könnte man sagen, OK ... sind halt so Freaks ... Aber wenn man sich anschaut, daß die absolute Mehrheit der Parlamentsabgeordneten in " Oxbridge ", die immer gleichen Fächer - politics, philosphy and economy - studieren ... Tja, die regieren und prägen das Land.


john (also derjenige, der mich eingeladen hatte) erzählte mir dann aber, dass es sich um ein aussterbendes hobby handeln würde ...
insofern ist das wohl tatsächlich eine zeitliche und nicht unbedingt eine geografische angelegenheit, da gebe ich dir recht.

:D Nein ... ist es nicht. Typischer Fall von " understatement " ... dort ( Eaton, Oxbridges , Harrows usw. ) wird das sehr wohl gepflegt und weiter gegeben. Darum glauben Deutsche auch gerne, daß sie die Briten bei Verhandlungen leicht überzeugen oder sogar über den Tisch ziehen können. Falsch gedacht ! Diese ausgeprägte Debattenkultur hilft ihnen z.Bsp. bei Verhandlungen sehr. Und wer glaubt, diese schon sprichwörtliche Höflichkeit sei eine Schwäche ... Nee ... Komplett falsch. " May be, could be, should be " sind eher das was man hört, sie halten sich gerne ein Hintertürchen auf wenn aber eine Entscheidung getroffen werden muß, geht das schneller als bei uns.

oxox
04-12-2019, 06:39
Ich habe jenseits der Popwissenschaft Videos keine besondere Erfahrung mit der akademisch geprägten Debattenkultur, aber generell habe ich den Eindruck, dass sich ein Mangel an Integrität in Verbindung mit Doppelstandards breit macht. Persönlich interpretiere ich das für mich so, dass das teilweise durch eine immer tiefer gehende Verschmelzung von persönlicher Identität und Inhalten verschuldet wird, in deren Zuge jeder Angriff auf die Sache als Angriff auf das eigene Selbstempfinden gewertet wird. Das Spieler-Dilemma ist imho ein weiterer Faktor, wo es mit steigenden Verlusten immer schwieriger wird aufzuhören, weil sich die Notwendigkeit eines Gewinnes stetig erhöht. So gesehen, jemand der all seinen Hass z.B. auf eine bestimmte Sache bzw. Person konzentriert und diesen in sein Identitätsempfinden integriert, kann nicht mehr einfach so aufhören zu hassen. Egal ob es vernünftige Gründe dafür gibt oder nicht.

Wenn man die Schwulenkultur in Amerika nimmt war und ist der politischer Aktivismus großer Bestandteil des Lifestyles. Da gab es dann ein interessanten Phänomen wo viele Homosexuelle nach dem Erreichen der gleichgeschlechtlichen Ehe depressiv wurden, weil diese Leute das Streben für die Sache zu einem identitätsstiftenden Teil des eigenen Lebens gemacht haben, nicht nur einem Mittel zum Zweck.

Gast
04-12-2019, 06:57
Noch eine allgemeine Ergänzung von mir. Häufig ist ja vom "Akzeptieren anderer Meinungen" die Rede, oder "dass man ja wohl noch mal seine Meinung sagen darf", oder "anderer Meinung sein darf".
Persönlich interessieren mich "Meinungen" ziemlich wenig. (Wie heißt es bei Dirty Harry: "Meinungen sind wie A..., jeder hat eins.") Eine Meinung ist - meiner Meinung nach - einfach nur ein Aushängeschildchen. Und wenn man sich länger und selbstkritisch mit sich selbst auseinandersetzt, sollte man es eigentlich gewohnt sein, dass in vielen oder allen Fällen auch andere Standpunkte, Wertschätzungen und Beurteilungen möglich sind. Was mich daher ggfs. interessiert, ist wie derjenige zu dieser oder jener Meinung kommt/gekommen ist und wie er sie begründet. Und auch wenn es ebenfalls häufig in Frage gestellt bzw. kritisiert wird ("man muss doch eine Meinung zu xy haben"): ich habe gar nicht zu allem eine Meinung.

oxox
04-12-2019, 07:02
Ich finde auch, dass das Klassenempfinden so ein identitätsstiftender Faktor ist, der es mit unter schwierig macht gute Punkte anzuerkennen, oder den eigenen Auffassung widersprechende Meinungen zu akzeptieren. Gerade wenn sie von der falschen Stelle stammen und nicht den eigenen Ansprüchen genügen. Dabei rede ich noch nicht mal unbedingt vom Kern der Inhalte, sondern schon alleine von der Präsentation. Jemand der sich als besonders schlau empfindet, Wert auf seine Titel und Äußerlichkeiten legt, und sich vielleicht dadurch identifiziert "besser" zu sein, wird Schwierigkeiten haben von einem lallenden Penner Ratschläge erteilt zu bekommen. Also mal überspitzt ausgedrückt. Da kann der Penner zwar im Prinzip Recht haben, aber es widerstrebt halt dem Selbstempfinden.

Problematisch wird es wenn man halt nicht unbedingt von Natur her besser ist, sondern nur gezielter stubenrein gemacht wurde. Gehobene Gangsprache und Codes, Isolation vom Rest, sowas. Da sehe ich persönlich keinen großen Unterschied vom Prinzip her zwischen meinetwegen dem Cockney-Rhyming-Slang und irgendwelchen Oxbridge-Kids mit steifer Oberlippe. Die Einen wurden hier geboren, die Anderen halt dort. Was mir nur als Lösung erscheint, ist die Entkopplung von Identität und Inhalten, wo Ehrlichkeit zum Selbstzweck wird. Aber da das Schubladendenken wieder trendig ist, auch bei den vermeintlichen Weltbürgern, bleibt das eher ein Wunschtraum. Für wahrscheinlicher halte ich es, dass die Leute früher oder später so stark in ihre Gedankenkonzepte involviert sein werden, dass der einzige Ausweg aus der kognitiven Dissonanz Gewalt sein wird. Das kann man hier in Grundzügen schon erkennen, finde ich.

Lugasch
04-12-2019, 07:54
...

Danke für die Schilderungen :)

Lugasch
04-12-2019, 07:57
Ich finde auch, dass das Klassenempfinden so ein identitätsstiftender Faktor ist, der es mit unter schwierig macht gute Punkte anzuerkennen, oder den eigenen Auffassung widersprechende Meinungen zu akzeptieren. Gerade wenn sie von der falschen Stelle stammen und nicht den eigenen Ansprüchen genügen. Dabei rede ich noch nicht mal unbedingt vom Kern der Inhalte, sondern schon alleine von der Präsentation. Jemand der sich als besonders schlau empfindet, Wert auf seine Titel und Äußerlichkeiten legt, und sich vielleicht dadurch identifiziert "besser" zu sein, wird Schwierigkeiten haben von einem lallenden Penner Ratschläge erteilt zu bekommen. Also mal überspitzt ausgedrückt. Da kann der Penner zwar im Prinzip Recht haben, aber es widerstrebt halt dem Selbstempfinden.

Problematisch wird es wenn man halt nicht unbedingt von Natur her besser ist, sondern nur gezielter stubenrein gemacht wurde. Gehobene Gangsprache und Codes, Isolation vom Rest, sowas. Da sehe ich persönlich keinen großen Unterschied vom Prinzip her zwischen meinetwegen dem Cockney-Rhyming-Slang und irgendwelchen Oxbridge-Kids mit steifer Oberlippe. Die Einen wurden hier geboren, die Anderen halt dort. Was mir nur als Lösung erscheint, ist die Entkopplung von Identität und Inhalten, wo Ehrlichkeit zum Selbstzweck wird. Aber da das Schubladendenken wieder trendig ist, auch bei den vermeintlichen Weltbürgern, bleibt das eher ein Wunschtraum. Für wahrscheinlicher halte ich es, dass die Leute früher oder später so stark in ihre Gedankenkonzepte involviert sein werden, dass der einzige Ausweg aus der kognitiven Dissonanz Gewalt sein wird. Das kann man hier in Grundzügen schon erkennen, finde ich.

Das gibt was zum Nachdenken. Aber vll. gibt es eine Idee, wie man die Sache mit dem Wunschdenken realisieren kann?

period
04-12-2019, 08:48
Last not least hat mich speziell an dem erwähnten Post aber die Vereinnahmung gestört, dass "wir alle Lichtjahre" davon entfernt sein sollen; dem widerspreche ich zumindest für mich :)


Ich darf der Feststellung allgemein mit grundlegenden Restkenntnissen aus dem Physikunterricht begegnen: wir haben gelernt, dass ein Lichtjahr einer Distanz von 9,5 Billionen Kilometer (9 460 730 472 580 800 m, frei nach Wiki) entspricht, und ich darf darauf verweisen, dass mein Vorredner die Pluralform verwendet hat. Der Süden Grossbritanniens (z.B. Eaton) ist dagegen nur ca. 1200 km von Ballungszentren im Süden des deutschen Sprachraums (z.B. München) entfernt, und somit grad mal 1/250 einer Lichtsekunde. Nun mag es sein, dass einige geschätzte Mitglieder unseres Forums über grössere Teile des Erdballs verstreut sind; sofern aber nicht der Grossteil grad von einer Weltraummmission bisher ungekannten Ausmasses zugeschaltet ist, darf ich konstatieren, dass der Ausdruck "Lichtjahre" hier nicht in wörtlicher Form auf die Distanz der Mehrheit, ja, wahrscheinlich nicht mal eines einzigen unserer Forenmitglieder zur angelsächsischen Diskussionskultur zutreffen kann, sondern bestenfalls in übertragenem Sinne. Hiermit möchte ich meine diesbezüglichen Ausführungen schliessen - God save the Queen ;)

Beste Grüsse
Period.

Lugasch
04-12-2019, 08:55
Ich darf der Feststellung allgemein mit grundlegenden Restkenntnissen aus dem Physikunterricht begegnen: wir haben gelernt, dass ein Lichtjahr einer Distanz von 9,5 Billionen Kilometer (9 460 730 472 580 800 m, frei nach Wiki) entspricht, und ich darf darauf verweisen, dass mein Vorredner die Pluralform verwendet hat. Der Süden Grossbritanniens (z.B. Eaton) ist dagegen nur ca. 1200 km von Ballungszentren im Süden des deutschen Sprachraums (z.B. München) entfernt, und somit grad mal 1/250 einer Lichtsekunde. Nun mag es sein, dass einige geschätzte Mitglieder unseres Forums über grössere Teile des Erdballs verstreut sind; sofern aber nicht der Grossteil grad von einer Weltraummmission bisher ungekannten Ausmasses zugeschaltet ist, darf ich konstatieren, dass der Ausdruck "Lichtjahre" hier nicht in wörtlicher Form auf die Distanz der Mehrheit, ja, wahrscheinlich nicht mal eines einzigen unserer Forenmitglieder zur angelsächsischen Diskussionskultur zutreffen kann, sondern bestenfalls in übertragenem Sinne. Hiermit möchte ich meine diesbezüglichen Ausführungen schliessen - God save the Queen ;)

Beste Grüsse
Period.
In dieser Debatte geht der Punkt an Period :D

oxox
04-12-2019, 09:22
Das gibt was zum Nachdenken. Aber vll. gibt es eine Idee, wie man die Sache mit dem Wunschdenken realisieren kann?

Gute Frage, weiß ich auch nicht. Prinzipiell würde ich für so etwas wie eine allgemeine Aufklärung plädieren, wobei manche wohl meinen die Aufklärung an sich wäre ja gescheitert. Das selbstständige Denken scheint mir heute eher nicht sonderlich erwünscht, was durch Identitätspolitik links wie rechts auch nicht unbedingt begünstigt zu werden scheint. Meinetwegen wenn da von Afro-Amerikanern erwartet wird nur die eine korrekte Partei zu wählen und sich auf ihre Gruppenzugehörigkeit zu besinnen, oder folglich als Uncle Toms verschrien zu werden. Die Parteien selber will ich gar nicht werten, aber ein Individuum sollte seine Entscheidungen eigenständig treffen und nicht weil es ein verordnetes Verhalten basierend auf der Gruppenzugehörigkeit ist.

Was ich für nötig halte ist erst mal wieder überhaupt einen Rahmen zu haben wo freie Rede ungestraft stattfinden kann und die Leute überhaupt wieder mit einander reden zu lassen. Darüber hinaus wäre es schön wenn man sich gegenseitig als Menschen sieht und zu akzeptieren lernt, dass da jemand auch Unrecht haben kann und man sich unter Umständen ohne eine definitive Konklusion wieder trennt. Dann fällt es finde ich auch leichter nicht so krass auf dem eigenen Weltbild zu beharren.

Das Problem mit der Aufklärung im Sinne der Mündigkeit ist, dass der aufgeklärte Mensch nicht einfach so vom Himmel fällt und der anfängliche Lernprozess etwas holperig sein kann. Wie halt bei Leuten die verlernt haben eigenständig zu gehen und erst einmal stark wanken. So gesehen ist's vielleicht zu viel erwartet von der Unterschicht zum Beispiel sofort perfekt formulierte Argumente im Sinne eines Bildungsbürgers zu fordern bzw. deren Empfindungen anhand der Form sofort zu unterdrücken. So bilden sich finde ich auch wieder nur quasi unerreichbare Filterblasen oder die Leute hören halt wieder auf selbstständig zu denken.

Ergänzend würde ich auch betonten, dass mMn die Bildungsbürger selber gar nicht so aufgeklärt sein müssen wie sie vielleicht meinen. Der Bauarbeiter liest halt Bild und der Bildungsbürger SPON, aber bei den meisten Themen wird sowohl als auch nur der allgemeine Tenor übernommen und dann sozial verträglich runter gebetet. Ein Argument dafür, dass die Presse als meinungsbildendes Instrument nicht so ganz objektiv sein wird, ist das Fehlen von Schwankungsprozessen in der Meinungsbildung. Da sehe ich zum größten Teil nur ganz ganz kleine Wellchen, die sich in einem eng definierten Spektrum bewegen (wo noch freie Rede erlaubt ist). Das liegt vielleicht daran, dass die Journalisten nicht nur sehr viel von einander abschreiben bzw. Agenturmeldungen verkünden, sondern weil der überwiegende Teil aus einem bestimmten Milieu kommt. Ähnlich wie die britischen Politiker im Sinn der Internate.

jkdberlin
04-12-2019, 09:28
An dem Gymnasium, das mein Sohn besucht, gibt es aufgrund der Anbindung an die angelsächsische Kultur auch einen Debattierclub.

Kann aber (noch) nichts davon berichten, müsste mich da erst informieren.

Gast
04-12-2019, 11:44
Ich darf der Feststellung allgemein mit grundlegenden Restkenntnissen aus dem Physikunterricht begegnen: wir haben gelernt, dass ein Lichtjahr einer Distanz von 9,5 Billionen Kilometer (9 460 730 472 580 800 m, frei nach Wiki) entspricht, und ich darf darauf verweisen, dass mein Vorredner die Pluralform verwendet hat. Der Süden Grossbritanniens (z.B. Eaton) ist dagegen nur ca. 1200 km von Ballungszentren im Süden des deutschen Sprachraums (z.B. München) entfernt, und somit grad mal 1/250 einer Lichtsekunde. Nun mag es sein, dass einige geschätzte Mitglieder unseres Forums über grössere Teile des Erdballs verstreut sind; sofern aber nicht der Grossteil grad von einer Weltraummmission bisher ungekannten Ausmasses zugeschaltet ist, darf ich konstatieren, dass der Ausdruck "Lichtjahre" hier nicht in wörtlicher Form auf die Distanz der Mehrheit, ja, wahrscheinlich nicht mal eines einzigen unserer Forenmitglieder zur angelsächsischen Diskussionskultur zutreffen kann, sondern bestenfalls in übertragenem Sinne. Hiermit möchte ich meine diesbezüglichen Ausführungen schliessen - God save the Queen ;)

Beste Grüsse
Period.

splendid! indeed!
:D

MCFly
04-12-2019, 13:01
Für mich persönlich ist Diskussion und Debattieren ein wesentlicher Bestandteil meiner Beschäftigung mit der abendländischen Philosophie. Für Griechenland möchte ich nur an die Sophisten sowie Sokrates und Platon erinnern; und praktisch für das gesamte Früh- bis Spätmittelalter war die Dialektik ein unverzichtbarer Bestandteil der philosophischen Ausbildung. Hier kann man als Beispiel mal einen Blick in die "Summe der Theologie" oder "Über die Wahrheit" von Thomas von Aquin werfen um zu sehen, wie differenziert und stringent dort Argumente und Gegenargumente ausgeführt sind. Aber es gibt natürlich noch eine große Fülle anderer Philosophen, welche sich ebenfalls damit beschäftigt haben.

Damit zusammen hängt der von Rambat angesprochene Punkt, sich "einzugestehen, dass man widerlegt wurde bzw. der andere die besseren Argumente hat". Ich kann mir jetzt nicht vorstellen, dass dies tatsächlich flächendeckend im angelsächsischen Raum in größerem Ausmaß passiert als hierzulande oder anderswo (ohne dass das jetzt natürlich Rambats konkrete Erlebnisse in Frage stellt). Ein paar wenige Blicke in zeitgenössische britische oder amerikanischen Politik erwecken bei mir jedenfalls nicht diesen Eindruck, ebenso wenig wie die etwas umfangreicheren Einblicke in englischsprachige Foren.

Hm, eine gesunde Diskussionskultur lebt nicht nur vom Standpunkt, sondern auch von Charakterisierung der eigenen Argumente. Rabulistik oder Polemik kennt man heutzutage meist als unsachliche Diskussionsführung. Ich müsste einmal recherchieren, es gibt Lehrbücher über polemische Gesprächsführung, insbesondere ab dem 16. Jahrhundert wurde diese Sprachkultur regelrecht gepflegt.

Scherzhaft könnte man auch ausdrücken, es ist ein wenig wie bei Monkey Island I. Oftmals gibt es weder richtig noch falsch, sondern es ist eine reine Standpunktfrage, man benötigt nur die passenden Schlüssel :)


Dabei rede ich noch nicht mal unbedingt vom Kern der Inhalte, sondern schon alleine von der Präsentation.

Hier zwei metaphorische Perlen:

"Ich wollte mich eigentlich geistig mit Dir duellieren, doch sehe ich, Du bist unbewaffnet."

Oder mein Favorit:

"Du bist vielleicht ein blöder Wichser, bringst ein Messer mit zu ner Schießerei."

Man benötigt schon die passende Abendgarderobe für sein Gegenüber. Zumindest macht das den Charme einer Debatte aus. Ich spiele ja ab und an noch immer Rollenspiele (in diesem Fall DSA, meine phantasiereichen Freunde!) und kann in entspanntem Rahmen stundenlang über Nonsens(e) diskutieren.


Was mich daher ggfs. interessiert, ist wie derjenige zu dieser oder jener Meinung kommt/gekommen ist

Ansonsten ist auch keine Diskussion möglich. Kann man sich einfach merken. Begriffe wie "absolute Wahrheit" oder isolierte Tatsachenbehauptungen ohne Bezüge werden in diesem Forum zwar gerne von manchen Zeitgenossen praktiziert, aber das ist ein bisschen exhibistionistisch: bar jeder Diskussionskultur. Das ist nicht fein, man entblößt sich ja auch nicht in aller Öffentlichkeit ;)

Zu meiner Diskussionskultur gehört ja, dass ich Vorurteile liebe und pflege. Wer einmal verschissen hat, hat es einfach schwer. Insbesondere Diskussionspartner mit keltischem Ursprung oder aus der Filmindustrie sind sehr leicht aus der Reserve zu locken. Hey, ist nur Spaß... ... ...:D


Oha, ein Nachtrag, der vielleicht die zeitliche Ordnung der Zitate stört, aber nicht unerwähnt bleiben sollte ;)


Last not least hat mich speziell an dem erwähnten Post aber die Vereinnahmung gestört, dass "wir alle Lichtjahre" davon entfernt sein sollen

Da hat der gute rambat einen orthopraphischen Fauxpas eingeleitet. Ich korrigiere umgehend:


Last not least hat mich speziell an dem erwähnten Post aber die Vereinnahmung gestört, dass "wir alle Lichtjahre" davon entfernt sein wollen

Bemerken :)