PDA

Vollständige Version anzeigen : Sanchin Kata im Shotokan?



Ergün
10-02-2023, 11:52
Hallo,

ich war ziemlich überrascht, als ich folgendes Video auf YT entdeckt habe:

https://youtu.be/pEKzWyLebws

In einem Kommentar wird erwähnt, dass es sich bei der Location um die Keio-Universität handelt.

Mir wäre es neu, dass die Sanchin-Kata im Shotokan-ryu geübt wird.
Hat einer von euch eventuell Informationen dazu?

P.S: Ich hoffe, der Link funktioniert. Bin nicht ganz so fit mit Handy und „Computersachen“, sorry!
Wenn der Link nicht funktionieren sollte: Auf YT Shotokan Kata Sanchin eingeben und ein tonloses schwarz-weiß Video erscheint.

Bücherwurm
10-02-2023, 12:42
Hallo,

ich war ziemlich überrascht, als ich folgendes Video auf YT entdeckt habe:

https://youtu.be/pEKzWyLebws

In einem Kommentar wird erwähnt, dass es sich bei der Location um die Keio-Universität handelt.

Mir wäre es neu, dass die Sanchin-Kata im Shotokan-ryu geübt wird.
Hat einer von euch eventuell Informationen dazu?



One word - Nakayama, the guy who completely ruined Shotokan.

:D

Was sollte mich hindern, Übungsformen anderer KK-Richtungen zu üben?

Ergün
10-02-2023, 12:59
Nichts!;)
Ich trainiere auch Sanchin, aber explizit im Shotokan habe ich es noch nicht gesehen.

FireFlea
10-02-2023, 13:26
Ich denke Gibukai kann etwas dazu sagen, falls er den Faden entdeckt.

Ergün
10-02-2023, 14:19
Ich denke Gibukai kann etwas dazu sagen, falls er den Faden entdeckt.

Das denke ich auch. Ich habe fast alle Bücher von Gibukai und bin sehr begeistert von der Arbeit und der Mühe, die darin stecken.
Ich fände es sehr interessant, etwas darüber zu erfahren.

Katamaus
10-02-2023, 14:27
Soweit mir bekannt, war Sanchin nicht Teil des Lehrsystems von Funakoshi. Insofern gibt es keine "Shotokan Sanchin". Allerdings wird sie in einigen Shotokan-Schulen geübt, wie z.B. Fudokan bei Jorga oder die Keio Schule, wobei bei Letzterer die Frage ist, inwieweit sie sich zu Recht auf Funakoshi berufen aber wir warten am besten eh auf Henning. :D

Gibukai
10-02-2023, 16:01
Hallo,

danke für die freundlichen Worte über meine Bücher – sie freuen mich wirklich!

Ganz grundsätzlich ist es eher ungünstig, wenn heutzutage von „Shōtōkan-Ryū“ geredet/geschrieben wird und damit eine Art inhaltlich wie organisatorisch einheitliches Konstrukt gemeint sein soll. Bereits im Sport-Karate sind z. B. das „Shōtōkan-Ryū“ der JKA und der SKI mehr oder weniger verschieden voneinander, auch wenn das nicht unmittelbar auffällt. Wenn unter „Shōtōkan-Ryū“ aus historischer Sicht vereinfacht das von G. Funakoshi (1868–1957) unterrichtete Karate gemeint sein sollte, müsste bitte ebenso beachtet werden, dass er durchaus je nach unterrichteter Gruppe unterschiedlichen Lehrstoff vermittelte. Dies betraf etwa die Anzahl der Kata oder sogar bestimmte Kata selbst (d. h. in Gruppe X lehrte er Kata A ohne sie in Gruppe Y oder Gruppe Z zu lehren und umgekehrt).

G. Funakoshi selbst kannte die Kata Sanchin, und zwar wahrscheinlich in verschiedenen Ausführformen bzw. aus verschiedenen Übertragungslinien. Bereits in seinem ersten Artikel über Karate von 1913 listet er Sanchin als ein in Okinawa verbreitetes Tī (d. h. eine Kata) auf (vgl. meine Übersetzung in Band III, S. 10 ff. (https://www.gibukai.de/buch-shop/shōtōkan-überlieferte-texte-historische-untersuchungen-band-iii/)). In seinem ersten Karate-Buch von 1922 beschreibt er kurz den Stand „Sanchin-Dachi“ und fügt eine Skizze hinzu. Zu beachten ist hierbei, dass er 1925 quasi denselben Text mit nur einem kurzen Zusatz nutzt, um „Naihanchi-Dachi“ vorzustellen. „Sanchin-Dachi“ ließ er ab da wegfallen. Übrigens handelte es sich 1922 möglicherweise um eine Art Druckfehler, so dass auch 1922 „Naihanchi-Dachi“ statt „Sanchin-Dachi“ im Text hätte stehen sollen. Druckfehler solcher Art kamen regelmäßig vor, was umgekehrt aber nicht bedeuten muss, dass der 1922er Sanchin-Dachi tatsächlich ein solcher war. Doch die Möglichkeit kann ich nicht ausschließen.

1925 listet er in seinem zweiten Buch den Namen der Kata in der Aussprache „Sanshin“ und der Bedeutung „Dreimaliges Voranschreiten“. Sanshin wäre also der korrekte Name innerhalb des Funakoshi-Karate.

Der verlinkte Film entstand im Vorfeld des fünfzigsten Geburtstags des Karate-Klubs der Keiō-Universität und sollte die Kata-Ausführungen, die die Senior-Mitglieder jenes Karate-Klubs in ihren Anfangsjahren meist unter G. Funakoshi selbst lernten und trainierten, dokumentieren und so bewahren helfen. Bereits während der Feierlichkeiten zum zehnjährigen Bestehen im Jahre 1934 gehörte Sanshin (Sanchin) zu den damals vorgeführten Kata des Keiō-Klubs (vgl. Band II, S. 47 (https://www.gibukai.de/buch-shop/shōtōkan-überlieferte-texte-historische-untersuchungen-band-ii/)). Und schon 1931 war Sanshin „Prüfungs-Kata“ zum Erlangen der Lizenz der dritten Stufe (Sandan) jenes Karate-Klubs (vgl. Band III, S. 210 ff. (https://www.gibukai.de/buch-shop/shōtōkan-überlieferte-texte-historische-untersuchungen-band-iii/)).

Mit anderen Worten war Sanshin eindeutig Teil des Lehrgebäudes des Karate-Klubs der Keiō-Universität, der sich selbst stolz in der direkten Linie von G. Funakoshi sieht, obgleich diese in seinen Anfangsjahren noch nicht als „Shōtōkan-Ryū“ bezeichnet wurde. Denn der historische Shōtōkan wurde erst 1938 errichtet.

Wie eingangs angedeutet, lernten und übten allerdings nicht alle Gruppen, für die G. Funakoshi als Lehrmeister fungierte, die Kata Sanshin. Keiō galt im Funakoshi-Karate-Umfeld über Jahrzehnte als der „Kata-Klub“, da dort die meisten Kata geübt wurden. Dies hing u. a., aber nicht ausschließlich, mit dem Alter dieses Karate-Klubs zusammen. Im Unterschied dazu lehrte beispielsweise der Karate-Klub der Waseda-Universität, dem mein Karate-Lehrer, M. Harada (1928–2021), angehörte, „nur“ fünfzehn Kata. Wer an weiteren Abläufen interessiert war, musste diese nach dem Zweiten Weltkrieg von Keiō-Mitgliedern lernen. Jedenfalls führte dieser Umstand dazu, dass im Waseda-Klub Sanshin kein Teil des Lehrgebäudes war, obwohl auch dieser ein früher Klub in der direkten Linie von G. Funakoshi war.

Nachdem ab 1938 der Shōtōkan als Hauptquartier für das Karate von G. Funakoshi und seinen dritten Sohn, Y. Funakoshi (1906–1945), errichtet worden war, konnten sich die Funakoshis unabhängig von den verschiedenen Karate-Klubs außerhalb daran machen, ein in sich schlüssiges Lehrgebäude auszuarbeiten, das die Inhalte und das Lernziel des Funakoshi-Karate, ab 1939 „Shōtōkan-Ryū“ genannt, bestmöglich vermittelte. U. a. wurden hierfür neue Kata zusammengestellt, z. B. „Taikyoku“, „Ten no Kata“, „Matsukaze no Kon“. Allerdings konnte aus historischen Gründen dieses Lehrgebäude nie vollendet werden, da aufgrund des Zweiten Weltkriegs G. Funakoshi aus Tōkyō evakuiert wurde, der Shōtōkan infolge von Brandbombenabwürfen abbrannte und Ende 1945 Y. Funakoshi starb. Erfreulicherweise sind zumindest die Grundlagen dieses Lehrgebäudes und die Lernziele recht klar in Wort und Bild festgehalten worden, insbesondere in G. Funakoshis „Einführung in das Karate“ (https://www.gibukai.de/buch-shop/karate-nyumon-funakoshi/) von 1943. Wer sich dafür interessiert, sollte dieses Werk sehr genau lesen …

Jedenfalls fehlt in der 1943er Kata-Liste der Name Sanshin. Doch tatsächlich sollte diese Kata wohl während der Hochzeit des historischen Shōtōkan in dessen Lehrgebäude eingegliedert werden. Dabei handelt es sich um historisches Wissen, das mündlich überliefert wurde. Allerdings scheiterte dies wohl aus den zuvor genannten Gründen. Ebenfalls der mündlichen Überlieferung (historischem Wissen) zufolge, gliche diese Shōtōkan-Version von Sanchin den heutigen Versionen im Gōjū-Ryū oder Shitō-Ryū usw. nicht! Sie sollte u. a. in Fudō-Dachi ausgeführt werden und sähe dann etwa grob so wie auf den beigefügten Fotos aus.

47835

Abgesehen davon lernten später natürlich auch hier und da JKA-Trainer usw. Sanchin-Fassungen aus dem Gōjū-Ryū oder Shitō-Ryū usw. Jedoch hat dies nichts mit der oben kurz umrissenen historischen Sanshin des Funakoshi-Karate zu tun.

Grüße,

Henning Wittwer

Ergün
10-02-2023, 19:26
Hallo Gibukai,
danke für diese Erläuterungen. Ich finde es immer wieder spannend, wieviel Wissen man sich auch nach jahrelangen Karate Training dazukommen kann!
Und wie ich bereits eingangs erwähnte: Die Arbeit an den Büchern kann man nicht hoch genug einschätzen, vor allem da mit vielen Unwahrheiten oder Mythen aufgeräumt wird.
Gruss aus Köln!

Katamaus
10-02-2023, 20:01
Die Arbeit an den Büchern kann man nicht hoch genug einschätzen

:halbyeaha

Also Leute: Kaufen, kaufen, kaufen,… damit es sowas auch weiterhin gibt.