Ryushin
10-02-2005, 07:25
Artikel in der Frankfurter Rundschau (http://www.fr-aktuell.de/ressorts/nachrichten_und_politik/aus_aller_welt/?cnt=629584) vom 10. Februar 2005
Ein beiläufiger Mord
Schüler prügeln offensichtlich grundlos einen Mann zu Tode - und dokumentieren ihre Tat mit einem Foto-Handy
In Stuttgart prügelten zwei Jugendliche einen Mann in der S-Bahn zu Tode. Auf die Frage nach ihrem Motiv antworteten sie: "einfach so". Die Polizei steht vor einem Rätsel. VON GABRIELE RENZ
Stuttgart · 9. Februar · Sie kamen von der Disco und fuhren nachts mit der Stadtbahn durch Stuttgart, trafen dort auf einen 46-jährigen Fahrgast, pöbelten ihn an, drangsalierten ihn. An der Endhaltestelle der S-Bahn schlugen die Jugendlichen auf den Mann ein, bis er hinfiel. Dann traten sie ihn so lange und heftig, dass er mit einer blutenden Kopfwunde am Boden liegen blieb und kurze Zeit später verstarb. "Einfach so", sagte der Realschüler in der Vernehmung auf die Frage nach dem Warum. Fassungslosigkeit macht sich breit. Die Polizei spricht von einer "sehr brutalen Tat" und von "ungeheuerlicher Gewalt".
In Baden-Württembergs Landeshauptstadt Stuttgart sind wie in jeder Stadt dieser Größenordnung Kapitalverbrechen keine Seltenheit. Sybille Ahlborn von der Polizeidirektion Stuttgart hat in den vergangenen Jahren eine "zunehmende Bewaffnung von Kindern und Jugendlichen" festgestellt. Doch die beiden Schüler waren nicht bewaffnet. Die Lokalpresse bezeichnete das Opfer als Obdachlosen, als lieferte dies ein Motiv. Der Mann war zwar sprachlich und durch eine Krankheit in seinen Bewegungen eingeschränkt, aber ohne "verwahrlostes Äußeres". "Sozial geschädigt" heißt dies im Polizeijargon.
Der 16-jährige Italiener und sein Freund, ein 15 Jahre alter Spanier, besuchten beide die 9. Klasse Mittelschule, galten als unauffällige Schüler und durchschnittlich begabt. Sie schwänzten mal die Schule und fuhren schwarz, aber gewalttätig? "Keinerlei Anzeichen", sagen die Lehrer, die Schuldirektoren, die Mitschüler. Von einer Intensivtäterkarriere, so die Polizei, seien die beiden "meilenweit entfernt" gewesen.
Seit 1990 steigt in Baden-Württemberg die registrierte Jugendkriminalität "kontinuierlich" an. In einem Positionspapier des Justizministeriums werden "bedenkliche Tendenzen" registriert: Die Täter werden immer jünger - und die Taten immer gewaltbetonter. "Die Art der Gewaltanwendung wird exzessiver, früher geltende Grenzen (kein Nachtreten bei am Boden liegendem Opfer) werden oft nicht mehr respektiert."
"Seelische Mangelernährung"
Die Autoren der Studie suchen Gründe: In der Sozialarbeit kursiere der Begriff "Verwöhn-Verwahrlosung": Kinder würden "materiell abgespeist", echte Zuwendung aber fehle. Das Ergebnis sei eine "seelische Mangelernährung", die sich auch in Aggressivität und Bindungsunfähigkeit äußern könne. Deshalb liege in den Familien auch der "Schlüssel zur Eindämmung der Kinderdelinquenz".
Kinder lernen kein Mitgefühl mehr
Einige Tage nach dem Mord erfahren die fassungslosen Eltern, die regelmäßig zu Schulsprechstunden gingen und die von der Polizei als überaus "behütende" Eltern beschrieben werden, dass ihre Kinder den Mann nicht nur zu Tode gequält haben, sondern dessen tödliche Verletzung mit dem Foto-Handy dokumentierten und damit vor Gleichaltrigen angaben. "Halt so", sagen sie auf die Frage nach dem Motiv.
"Kinder lernen keine Empathie mehr, kein Mitgefühl", sagt der Kriminalpsychologe Adolf Gallwitz. In der Schule werde nicht gelehrt, "wann man aufhören muss, wann es dem anderen weh tut". Und offensichtlich seien in den Elternhäusern oft auch nicht die Voraussetzungen für die richtige Persönlichkeitsentwicklung vorhanden. Gallwitz, der an der Polizeifachhochschule Villingen-Schwenningen unterrichtet, spricht von einem "Erziehungsdefizit", das einher gehe mit einem Defizit, sich in andere hineinzuversetzen. Viele Eltern seien überfordert: "Im geringsten Fall werden Kinder vernachlässigt". Prügelnde Jugendliche fassten in letzter Konsequenz "nicht unbedingt den Tod ins Auge", sondern "nur" eine schwere Körperverletzung. Die Jugendlichen, so der Professor, sähen diesen Vorgang jedoch als etwas an, das nichts mit ihnen zu tun habe.
Die Stuttgarter Polizei steht vor einem Rätsel. Der 46-jährige Mann soll sich in der S-Bahn zum Benehmen der beiden Jungs geäußert haben. War dies schon die Provokation? "Oft reicht es, den Falschen nur kurz anzusehen, um verprügelt zu werden", sagt Polizeisprecher Hermann Karpf. Gallwitz bestätigt: Oft provozierten Jugendliche so lange, bis sie einen Grund hätten, "sich schlagkräftig auszuagieren". Die Staatsanwaltschaft ermittelt noch, obwohl beide Schüler die Tat gestanden haben.
Nur das Motiv fehlt. Ein "nachvollziehbares". Nicht nur die Polizei, auch die Bevölkerung will die Bluttat verstehen. Man werde letztlich "nie verstehen, was in diesen Jugendlichen vorgeht", sagt Gallwitz. Die CDU-Fraktion im Stuttgarter Gemeinderat rea giert wie Politik reagiert: Sie fordert mehr Videoüberwachung. Eine Studie soll zudem Erkenntnisse über Gewalterfahrungen Jugendlicher und den Zusammenhang mit Medienkonsum bringen. Die Hilflosigkeit bei der Suche nach einer Begründung für diesen beiläufigen Mord aber bleibt.
Da bleibt mir wirklich die Spucke weg ...
Rgds,
Ryushin
Ein beiläufiger Mord
Schüler prügeln offensichtlich grundlos einen Mann zu Tode - und dokumentieren ihre Tat mit einem Foto-Handy
In Stuttgart prügelten zwei Jugendliche einen Mann in der S-Bahn zu Tode. Auf die Frage nach ihrem Motiv antworteten sie: "einfach so". Die Polizei steht vor einem Rätsel. VON GABRIELE RENZ
Stuttgart · 9. Februar · Sie kamen von der Disco und fuhren nachts mit der Stadtbahn durch Stuttgart, trafen dort auf einen 46-jährigen Fahrgast, pöbelten ihn an, drangsalierten ihn. An der Endhaltestelle der S-Bahn schlugen die Jugendlichen auf den Mann ein, bis er hinfiel. Dann traten sie ihn so lange und heftig, dass er mit einer blutenden Kopfwunde am Boden liegen blieb und kurze Zeit später verstarb. "Einfach so", sagte der Realschüler in der Vernehmung auf die Frage nach dem Warum. Fassungslosigkeit macht sich breit. Die Polizei spricht von einer "sehr brutalen Tat" und von "ungeheuerlicher Gewalt".
In Baden-Württembergs Landeshauptstadt Stuttgart sind wie in jeder Stadt dieser Größenordnung Kapitalverbrechen keine Seltenheit. Sybille Ahlborn von der Polizeidirektion Stuttgart hat in den vergangenen Jahren eine "zunehmende Bewaffnung von Kindern und Jugendlichen" festgestellt. Doch die beiden Schüler waren nicht bewaffnet. Die Lokalpresse bezeichnete das Opfer als Obdachlosen, als lieferte dies ein Motiv. Der Mann war zwar sprachlich und durch eine Krankheit in seinen Bewegungen eingeschränkt, aber ohne "verwahrlostes Äußeres". "Sozial geschädigt" heißt dies im Polizeijargon.
Der 16-jährige Italiener und sein Freund, ein 15 Jahre alter Spanier, besuchten beide die 9. Klasse Mittelschule, galten als unauffällige Schüler und durchschnittlich begabt. Sie schwänzten mal die Schule und fuhren schwarz, aber gewalttätig? "Keinerlei Anzeichen", sagen die Lehrer, die Schuldirektoren, die Mitschüler. Von einer Intensivtäterkarriere, so die Polizei, seien die beiden "meilenweit entfernt" gewesen.
Seit 1990 steigt in Baden-Württemberg die registrierte Jugendkriminalität "kontinuierlich" an. In einem Positionspapier des Justizministeriums werden "bedenkliche Tendenzen" registriert: Die Täter werden immer jünger - und die Taten immer gewaltbetonter. "Die Art der Gewaltanwendung wird exzessiver, früher geltende Grenzen (kein Nachtreten bei am Boden liegendem Opfer) werden oft nicht mehr respektiert."
"Seelische Mangelernährung"
Die Autoren der Studie suchen Gründe: In der Sozialarbeit kursiere der Begriff "Verwöhn-Verwahrlosung": Kinder würden "materiell abgespeist", echte Zuwendung aber fehle. Das Ergebnis sei eine "seelische Mangelernährung", die sich auch in Aggressivität und Bindungsunfähigkeit äußern könne. Deshalb liege in den Familien auch der "Schlüssel zur Eindämmung der Kinderdelinquenz".
Kinder lernen kein Mitgefühl mehr
Einige Tage nach dem Mord erfahren die fassungslosen Eltern, die regelmäßig zu Schulsprechstunden gingen und die von der Polizei als überaus "behütende" Eltern beschrieben werden, dass ihre Kinder den Mann nicht nur zu Tode gequält haben, sondern dessen tödliche Verletzung mit dem Foto-Handy dokumentierten und damit vor Gleichaltrigen angaben. "Halt so", sagen sie auf die Frage nach dem Motiv.
"Kinder lernen keine Empathie mehr, kein Mitgefühl", sagt der Kriminalpsychologe Adolf Gallwitz. In der Schule werde nicht gelehrt, "wann man aufhören muss, wann es dem anderen weh tut". Und offensichtlich seien in den Elternhäusern oft auch nicht die Voraussetzungen für die richtige Persönlichkeitsentwicklung vorhanden. Gallwitz, der an der Polizeifachhochschule Villingen-Schwenningen unterrichtet, spricht von einem "Erziehungsdefizit", das einher gehe mit einem Defizit, sich in andere hineinzuversetzen. Viele Eltern seien überfordert: "Im geringsten Fall werden Kinder vernachlässigt". Prügelnde Jugendliche fassten in letzter Konsequenz "nicht unbedingt den Tod ins Auge", sondern "nur" eine schwere Körperverletzung. Die Jugendlichen, so der Professor, sähen diesen Vorgang jedoch als etwas an, das nichts mit ihnen zu tun habe.
Die Stuttgarter Polizei steht vor einem Rätsel. Der 46-jährige Mann soll sich in der S-Bahn zum Benehmen der beiden Jungs geäußert haben. War dies schon die Provokation? "Oft reicht es, den Falschen nur kurz anzusehen, um verprügelt zu werden", sagt Polizeisprecher Hermann Karpf. Gallwitz bestätigt: Oft provozierten Jugendliche so lange, bis sie einen Grund hätten, "sich schlagkräftig auszuagieren". Die Staatsanwaltschaft ermittelt noch, obwohl beide Schüler die Tat gestanden haben.
Nur das Motiv fehlt. Ein "nachvollziehbares". Nicht nur die Polizei, auch die Bevölkerung will die Bluttat verstehen. Man werde letztlich "nie verstehen, was in diesen Jugendlichen vorgeht", sagt Gallwitz. Die CDU-Fraktion im Stuttgarter Gemeinderat rea giert wie Politik reagiert: Sie fordert mehr Videoüberwachung. Eine Studie soll zudem Erkenntnisse über Gewalterfahrungen Jugendlicher und den Zusammenhang mit Medienkonsum bringen. Die Hilflosigkeit bei der Suche nach einer Begründung für diesen beiläufigen Mord aber bleibt.
Da bleibt mir wirklich die Spucke weg ...
Rgds,
Ryushin