mietheman
28-03-2006, 16:38
Der Ursprung des Taijiquan
Eine möglicherweise wahre Geschichte
"Gib doch endlich auf. Du wirst es nie schaffen, mich zu besiegen", lachte Meister Wu gutmütig. "Deine Beine sind viel zu kurz, deine Arme sind zu dünn, dein Rücken ist zu schwach und dein Wille zu unbeständig. Finde dich damit ab, dass du nie ein Meister der Kampfkunst werden wirst. Für dich wird es immer einen Stärkeren geben."
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als Chang San Feng mit einem Aufschrei der Wut erneut auf ihn eindrang und erst mit dem linken, dann mit dem rechten Fuß gegen den Kopf seines Lehrers trat. Dieser breitete seine Arme aus wie ein Kranich seine Flügel und fegte Changs Beine beiseite wie lästige Mücken. Dann wich er ein paar Schritte zurück, stellte sich auf ein Bein und wartete unbeweglich. Als Chang erneut auf ihn zustürzte, täuschte er einen niedrigen Tritt in die Magengrube vor und drehte sich dann, als sein Schüler dem vermeintlichen Tritt ausweichen wollte, unvermittelt um und schlug ihm mit dem Handrücken auf das linke Ohr.
Chang fiel trotz des scheinbar mühelos ausgeführten Schlags zu Boden, sprang aber sofort wieder auf, um seinen Lehrer erneut anzugreifen. Dieser hob eine Hand. "Es ist genug. Du hast nicht die Kraft, um einen alten Mann zu besiegen. Bitte den Buddha um Beistand. Aber gehe zuerst in die Küche und hilf den Novizen beim Reiskochen."
Welch eine Schmach, mit den Neulingen in der heißen Küche arbeiten zu müssen, während sich die anderen Mönche abmühten, Erleuchtung zu erlangen und vollkommene Meisterschaft über ihre Körper zu gewinnen. Aber statt seinem Meister zu gehorchen, wie es einem demütigen Diener Buddhas angestanden hätte, wandte Chang sich trotzig ab und rannte in den Wald, wo er sich ungestört wusste und nur von schweigenden Bäumen umgeben war und nicht vom Spott der muskelbepackten Mönche des Shaolin-Klosters gestört wurde.
Es stimmte, dass seine Beine, verglichen mit den Stelzen, die Wu, der Meister des Kranichstils, Beine nannte, kurz waren und dass seine Arme verglichen mit den Eisenstäben, die Chow, dem Meister des Affenstils, dort aus den Schultern wuchsen, wo normale Menschen ihre Arme hatten, zu dünn waren. Und sein Rücken war, verglichen mit dem von Lo, dem Meister des Tigerstils, immer noch schwach, obwohl er seit vier Jahren unermüdlich trainierte und hundert Mal am Tag die vielen Treppenstufen zum Tempel mit dem schwersten Stein, den er heben konnte, empor lief, obwohl er nur in der Pferdestellung aß und meditierte, obwohl er am Morgen fünfhundert Liegestütz machte und am Abend noch einmal fünfhundert.
Aber in einem täuschten sich alle: Sein Wille war weder unbeständig noch schwach, er glich dem des erhabenen Buddha, der sich vor langer Zeit geschworen hatte, so lange zu meditieren, bis er erleuchtet wäre. Der indische Prinz Siddharta war die große Inspiration des einfachen Bauernsohnes Chang. Er wollte es seinem Vorbild nachmachen, nur wollte er nicht erleuchtet werden - das war wohl eher etwas für ältere Männer und Hochgeborene -, sondern der stärkste Mann des Reichs der Mitte und der beste Kämpfer der Shaolin werden. Auf diese Weise wollte er den Ahnen Ehre erweisen und den Respekt seiner Familie erringen, die ihn wegen seiner körperlichen Schwäche verstoßen hatte. Den Männern des Dorfes, die ihn als Kind geschlagen und verspottet hatten, wollte er noch zu Lebzeiten zum unsterblichen Mythos werden. Er wollte, dass man Gedichte über seine Heldentaten verfasste und dass die Damen des Hofes sich die Augen ausweinten vor Sehnsucht nach ihm. Chang geriet ins Träumen. Er sah sich auf seidenen Kissen ruhen, von vier wunderschönen Konkubinen und seiner Frau Nummer Eins umgeben, er sah Söhne, viele Söhne, die seinen Geist nach seinem Tode mit Stolz erfüllen und vor seiner Ahnentafel Opfer bringen würden. Er träumte, dass der Sohn des Himmels ihn um Hilfe gegen die Barbaren des Nordens anflehte, er sah sich Armeen aufstellen und siegreich in den kaiserlichen Palast einziehen, wo er selbst zum Kaiser gekrönt werden würde.
Der Schrei eines Vogels brachte Chang zurück in die Gegenwart. Er stampfte zornig mit dem Fuß auf. Und wenn es ihm nicht gelang, dann wollte er wenigstens bei dem Versuch sterben und auf diese Weise ein Held werden, von dem sich kommende Generationen bewundernd erzählen würden. Das schwor sich Chang San Feng an diesem Morgen.
Er lief in den Wald, das Lachen Meister Wus noch in seinen Ohren. An einer Stelle, an der die Bäume besonders dicht wuchsen, verbeugte er sich kurz vor ihnen und bat sie hastig um Verzeihung, bevor er mit Händen und Füßen auf sie einschlug. Wenigstens auf die Bäume war Verlass. Sie blieben stehen, wenn man sie angriff und wichen nicht feige aus.
Der Versuch, Berge zu versetzen
Etwas ruhiger geworden, lief er weiter. Auf einer Lichtung stellte er sich in die Pferdestellung und begann mit seinen Atemübungen. Er atmete mit einer solchen Macht ein, dass ihm einige Äderchen in den Nasenflügeln platzten, dann führte er die Hände vor der Brust zusammen, hielt die Luft an, bis sein Gesicht rot anlief, ließ den Atem durch den ganzen Körper zirkulieren und atmete dann explosionsartig durch den Mund aus, wobei er mit den Händen einen imaginären Berg, der seine Brust zu zerquetschen drohte, von sich schob. Dann atmete er wieder kraftvoll ein, hielt den Atem an, zirkulierte die kosmische Lebenskraft und schob mit der Ausatmung den Berg zu den Seiten weg. Schließlich hob er im dritten Atemzyklus den Berg über seinen Kopf empor.
Stunde um Stunde versetzte er mit der Kraft seines Willens die Berge, die seinen schmächtigen Körper zu erdrücken drohten; Stunde um Stunde zwang er die Lebenskraft durch seinen Körper zu zirkulieren; Stunde um Stunde platzten in seinem Gehirn kleine Blutgefäße und plötzlich auch ein etwas größeres. Da versagten ihm die Beine den Dienst, und er fiel mit dem Gesicht voran auf den weichen Waldboden - und direkt vor die Füße Buddhas.
"Wohlgetan, Mönch, doch wisse, der Körper, den du heute stählst, wird schon morgen verfallen. Die Berge, die du heute versetzt, werden dir morgen den Blick auf das Nirwana versperren." So sprach der Erhabene und schritt davon. Und Chang San Feng fiel in einen tiefen Schlaf.
Als er wieder zu sich kam, hatte sich um ihn herum eine merkwürdige Gesellschaft versammelt, die ihn zunächst nur stumm ansah, dann aber mit Ratschlägen und auch Spötteleien nicht zurückhielt.
Ein kleiner, noch ganz junger Berg meinte: "Wenn du stehen solltest wie ein Berg, wärest du doch sicherlich einer von uns geworden und nicht ein Mensch mit zwei Beinen, oder?"
Und ein ungestümer Wind brüllte ihm ins Gesicht: "Menschlein, du kannst dich anstrengen so sehr du willst, nie wirst du atmen wie ich. Keiner kann sich mit mir messen. Gib es also auf!"
Ein Tiger hob den schlaffen Arm von Chang San Feng mit seiner Pranke und meinte abschätzend: "Nicht schlecht für einen Menschenschwächling, aber ich hätte dir schon als Zweijähriger den Arm brechen können."
Und ein Pferd stieg auf die Hinterhufe und wieherte: "Pferdestellung! Wenn ich das schon höre. Lächerlich! Nie im Leben werdet ihr kleinen Menschen so stark sein wie ein Pferd."
Chang hielt sich die Ohren zu, als der Spott und die Überheblichkeit der merkwürdigen Versammlung über ihn hereinbrachen. Er zwang sich, den immer gleichen Satz zu denken: "Ich nehme Zuflucht zum Buddha, dem Erhabenen, dem Juwel im Lotos." Und etwas leiser dachte er noch: "Buddha, ich flehe dich an, hilf mir jetzt."
"Mein Wille ist stärker als der eure", schrie er den Wesen entgegen. "Der Wille eines Menschen ist unbezwingbar." Dann wurde er wieder ohnmächtig, und es wurde ganz still in seinem Herzen.
Die Weisheit einer kleinen Schlange
Als er wieder zu sich kam, saß vor ihm nur noch eine kleine Schlange, die sah ihn aus klugen Augen an und zischte: "Warum willst du immer nur von den Starken lernen? Warum imponieren dir nur Kraft und Schnelligkeit? Hast du denn die Worte von Meister Laotse vergessen, der uns lehrte, dass das Weiche das Harte besiegt? Lerne vom stillen Wasser und vom Flüstern des Windes, und wenn du bereit bist, werde ich dich als meinen Schüler annehmen und dir zeigen, wie du unbesiegbar werden kannst." Damit hatte sie sich schon davon geschlängelt.
Chang San Feng ignorierte die Worte der Schlange, die er ziemlich anmaßend und außerdem lächerlich fand. Es gab nur einen Weg zu siegen: Man musste stärker, schneller und ausdauernder sein als alle anderen. Dann war man unbesiegbar. Mit diesem Gedanken machte er sich auf den Weg zurück zum Kloster.
Aber obwohl er den Weg schon hundert und aberhundert Mal gegangen war, erkannte er nicht Baum noch Strauch und nach ein paar Stunden musste er sich kleinlaut eingestehen, dass er sich verlaufen hatte. Er schaute nach dem Stand der Sonne, aber die schien sich die ganze Zeit über nicht bewegt zu haben. Noch immer war sie dort, wo sie gestanden hatte, als er den Berg versetzt hatte. Nur - sie brannte nicht mehr auf ihn herab, sondern ließ eine Art goldenes Dämmerlicht auf in hernieder tropfen. Kein Windhauch ließ die Blätter der Bäume erzittern, kein Laut drang durch die dicke Stille. Da schlug er vor Wut und Verzweiflung mit den Fäusten immer wieder gegen einen der Eisenholzbäume, bis ihm die Haut in Fetzen herunterhing und er von oben bis unten mit seinem eigenen Blut bespritzt war. Erst dann hörte er auf und setzte sich dumpf auf den Boden, kreuzte automatisch die Beine und begann zu meditieren.
Wieder erschien ihm der Buddha. Der Erhabene hielt in seiner rechten Hand ein Schwert und in der linken eine Blume. Mit einer langsamen Bewegung, so als ob er sich durch dicken Honig hindurch bewegte, schlug er mit dem Schwert auf die Blume ein. Und siehe da: Das Schwert zerbrach und fiel in zwei Teilen zu Boden. Der Erwachte lächelte und ging an der Blume riechend davon.
Chang San Feng schüttelte den Kopf. Er verstand nicht, was der Buddha ihm sagen wollte. Vor Selbstmitleid fing er an zu weinen. Als seine Tränen endlich versiegt waren und er wieder klar denken konnte, hörte er in der Nähe einen Bach plätschern, zu dem ging er hin und tauchte seine schmerzenden Hände in das eiskalte, klare Wasser. Als er sie wieder herauszog, traute er seinen Augen nicht: das Blut war verschwunden, und die Haut war unversehrt - wie die eines jungen Mädchens. Er dankte zuerst dem Buddha und dann dem Fluss und beschloss eine Weile am Ufer sitzen zu bleiben und sich auszuruhen. Als er dem trägen Lauf des Wassers zusah, fiel ihm die kleine Schlange ein und ihr Rat, vom stillen Wasser zu lernen. Er musste lachen. Was sollte er denn schon vom Wasser lernen?
Die Lehre des Wassers
Aber je länger er auf den Bach sah, und je ruhiger es in ihm wurde, desto mehr öffnete er sich der ewigen Botschaft des Wassers. So ein Bach war doch ein geheimnisvolles Wesen, dachte er, ein Wunder, das immer gleich zu sein schien und doch in jedem Augenblick völlig anders war. Sein Rauschen schien eintönig und war doch in Wahrheit voller Feinheiten, voller Nuancen, die nur von denen wahrgenommen werden konnten, die bereit waren, den Lärm der Gedanken verstummen zu lassen und der Weisheit des Wassers zuzuhören.
Seit ewigen Zeiten sprudelte das Wasser dieses Baches aus der Erde hervor; ein paar Mal hatte er seinen Lauf geändert, er war mal breiter, mal schmaler gewesen, aber immer war er dieser Bach und gleichzeitig ständig neu und noch nie da gewesen.
Was musste er seither alles gesehen haben: Menschen hatten ihn mit Flößen und Booten befahren, Brücken über ihn gebaut, ihn eingedämmt und umgeleitet, und noch immer floss er seiner Bestimmung entsprechend dahin - ruhig, stetig und voller Würde. Menschen waren in seinen Fluten ertrunken, unerwünschte Mädchen waren gleich nach der Geburt in ihm ertränkt worden, Jungen hatten in ihm gebadet, ein paar abergläubische Bauern hatten kostbares Öl auf ihm ausgegossen und es angezündet, um so die Götter anzuflehen, ihre Felder vor Überschwemmungen zu beschützen. Eines Tages waren sich hier die Söhne des Himmels und die barbarischen Horden aus den nördlichen Steppen begegnet, es war eine Schlacht geschlagen worden, und Hunderte von toten Soldaten hatten das Wasser blutrot gefärbt.
Den Bach schien das alles nicht zu stören, Tag für Tag floss er unbeirrt dahin. Chang fragte sich, wer wohl länger auf dieser Erde sein würde, der Bach ohne Namen oder der Sohn des Himmels auf seinem fernen Thron?
Er versank wieder in seine Meditation, und dieses Mal erschien ihm Meister Lao, der alte Weise vom Berge, und sprach zu ihm: "Bist nicht auch du wie fließendes Wasser? Immer gleich und doch immer anders? Fließt nicht auch du deiner Bestimmung entgegen? Und kommst nicht auch du ständig an und bist doch immer unterwegs?"
Chang San Feng fragte ihn: "Werde auch ich mich in den großen Ozean ergießen?" Laotse lachte: "Natürlich wirst du das, es ist deine Bestimmung." "Aber wer werde ich dort sein? Wer wird mich als den Helden erkennen, der ich bin?"
"Du wirst nur ein Wasser unter vielen sein, nicht mehr zu unterscheiden von all den anderen. Du wirst vergessen, dass du einmal ein mächtiger Held warst, einen Namen hattest, eine Geschichte, einen Anfang und ein Ende. Aber wisse, du wirst aus dem Meer emporsteigen in den Himmel, dich dort in Wolken verwandeln, über das Land hinwegziehen, dich in den Bergen abregnen und wieder in die Erde sickern. Und Jahrtausende später wirst du wieder zum Fluss werden, nur zu einem ganz anderen, einem, der keine Erinnerung mehr an das hat, was er jetzt zu sein glaubt." Der Alte ritt lachend auf seinem Ochsen davon.
Nun war Chang vollends verwirrt. Er ein Fluss? Teil des riesigen Ozeans? Was wollte ihm der alte Mann nur sagen? "So sage mir, ehrwürdiger Meister, wer ich bin", rief er ihm hinterher. Aber der Weise war schon nicht mehr zu sehen. Nur sein Lachen und das Schnauben seines Ochsen waren noch zu hören.
In der Mitte des Baches hatten sich einige Zweige ineinander verkeilt, und das Wasser floss sanft um sie herum. Plötzlich aber hörte Chang San Feng ein gewaltiges Rauschen, und er sah mit Erstaunen, wie eine riesige Flutwelle heranschoss, die die Bäume in Sekundenschnelle mit sich fortgerissen hatte. Dann floss der Bach wieder ruhig vor sich hin und plätscherte leise.
"Ist das Wasser schwach, gibt es nach und fließt um einen Widerstand herum. Ist es aber stark, so reißt es jeden Widerstand mit sich fort. Nichts ist so nachgebend wie Wasser und doch ist nichts so mächtig. Lerne vom Wasser, Chang San Feng."
Er wandte sich um, um zu sehen, wer zu ihm sprach, aber die kleine Schlange war schon wieder im Gebüsch verschwunden. Nur ihren Schwan* sah er gerade noch. Chang schüttelte den Kopf und beugte sich vor, um sich zu waschen. Da erschrak er, denn er erkannte das Gesicht nicht, das ihm aus irren Augen entgegenstarrte. Auf seinem kahlgeschorenen Mönchskopf war langes, schwarzes Haar gewachsen, das ihm bis auf die Schultern reichte, die buschigen Augenbrauen verdeckten beinahe seine Augen, und im Gesicht wuchs ihm ein Bart, der bis auf die Brust herunterhing. Seine Mönchsrobe war zerfetzt und sein Körper ausgemergelt und schmutzig. Das Gesicht im Wasser war nicht länger das des Mönches Chang, sondern das eines Wahnsinnigen, eines Dämonen der Finsternis.
Der Kampf mit dem inneren Dämon
Schreiend rannte er vor seinem eigenen Spiegelbild davon und rief immer wieder den Namen des Buddha, des edlen Erwachten, damit dieser ihn zurück in die Gemeinschaft der Mönche führen möge. Aber außer dem Bach und den Bäumen hörte niemand seine Schreie. Chang lief und lief und kam schließlich aus dem Wald heraus auf eine Ebene, auf der nichts wuchs außer ein paar Steinen.
Und nachdem er eine Weile sinnlos vor sich hin gewandert war, stand er am Rand einer Klippe und blickte über eine endlose Wüste, in der nichts lebte. Die Sonne brannte auf ihn nieder und versengte ihm die Haut. Da kam ein kleiner Lufthauch auf, der ihn streichelte. Chang San Feng aber wurde wütend und dachte an die Worte des allgewaltigen Windes und schrie höhnisch: "Wo ist jetzt deine Macht, o Herrscher der Lüfte?"
Da erhob sich ein solches Getöse, dass er sich die Ohren zuhalten musste, und vor ihm verdichtete sich die Luft zu einer Wand aus Staub und Stein, die unaufhörlich auf ihn zugerückt kam. Er warf sich zu Boden und krallte sich an einem Felsen fest, als der Wind mit der Macht von zehntausend Pferden über ihn hinwegraste.
Dann wurde es wieder still. "Der Wind ist sanft und entspannt, wenn er ruht, aber wenn er erwacht, ist er mächtiger als alles, was sich ihm entgegenstellt. Selbst das Wasser unterwirft sich dem Wind. Lerne vom Wind! Entspanne dich, wenn dir dein Gegner gegenübersteht. Bewege dich nicht, wenn er sich nicht bewegt. Wenn er dann angreift, konzentriere all deine Kraft. Bewegt er sich langsam, bewege auch du dich langsam. Bewegt er sich schnell, bewege auch du dich schnell." Wieder sah Chang San Feng wie die kleine Schlange eilig davon kroch.
Lange stand er auf der Klippe, dachte über die Worte nach und sah auf die öde Landschaft herab. Die Schlange war weise, daran hatte er nun keinen Zweifel mehr, auch wenn er noch nicht wusste, wie er ihre Botschaft umsetzen sollte. Je länger er stand, desto mehr verbrannte die Sonne ihm die Haut, die Zunge klebte ihm am Gaumen, und er kam fast um vor Durst. Vor sich sah er Schemen, Angreifer, die ihm nach dem Leben trachteten. Sie griffen ihn an, traktierten ihn mit Schlägen und mit Tritten. Chang dachte an den Rat der kleinen Schlange und stand einfach da, wartete ab und war wie der stille Wind. Dann als einer der Schatten in seine Nähe kam, wich er dem Angriff aus, drehte sich wie ein Wirbelsturm um die eigene Achse, konzentrierte all seine Kraft in der rechten Hand und schlug nur ein einziges Mal zu. Die Schemen verschwanden.
Nicht widerstehen, sondern ausweichen
Da machte Chang sich wieder auf den Weg. Nach einiger Zeit tauchte ein Dorf vor ihm auf, und er ging direkt zum Marktplatz, um nach der Sitte der buddhistischen Wandermönche um Nahrung zu bitten. Er sah einen Stand mit saftigen Wassermelonen, auf den ging er zu und bat um ein Stück. Der Verkäufer sah ihn an, rümpfte die Nase, griff nach dem Messer, mit dem er eben noch eine Melone gespalten hatte, und bedeutete ihm zu verschwinden.
Chang San Feng erinnerte sich, dass er keineswegs wie ein sanfter Mönch aussah, sondern eher wie ein wildes Tier. "Wenn ich schon so aussehe, will ich mich auch so benehmen", dachte er mit der Logik eines Wahnsinnigen und stürzte sich zähnefletschend auf die Melonen. Der Saft lief ihm in Strömen Kinn und Hals herunter, als er nach Herzenslust hineinbiss und laut schmatzte. Der Verkäufer stach mit dem Messer auf ihn ein, aber Chang wich - weiterkauend - geschickt aus, griff sich noch ein Stück und ging zufrieden lachend davon. Der Verkäufer warf mit Steinen nach ihm, und ein paar Kinder gesellten sich dazu, bewarfen ihn ebenfalls aus sicherer Entfernung und riefen ihm Schimpfworte hinterher.
Chang San Feng musste noch lauter lachen. Die Worte berührten ihn nicht, und die Steinchen taten seinem abgehärteten Körper nicht weh. Schließlich hatte man im Shaolin-Kloster mit Eisenstäben auf ihn eingeschlagen, Holzlatten auf seinem Rücken und seinen Unterarmen zerbrochen und Bambusstöcke in seinen Bauch und Hals gebohrt. Was störten ihn da ein paar Steine! Als ihn aber einer am Kopf traf, da war es doch aus mit seiner Gelassenheit, und er schrie vor Schmerz auf.
Da hörte er eine vertraute Stimme, die flüsterte: "Denke an das Wasser. Widerstehe nicht, sondern gebe nach. Weiche aus, sei klug. Steine sind härter als Köpfe!"
Er fing an zu genießen, mit welcher Beweglichkeit und Anmut sein Körper den Steinen auswich, und schon bald wurde er nicht mehr getroffen. Schließlich gaben die Kinder und der Mann erschöpft auf und ließen ihn in Ruhe.
Von nun an provozierte Chang San Feng solche Zwischenfälle, um die Kunst des Ausweichens zu lernen. Er stahl und ließ sich erwischen, er rempelte die Reichen an, um mit ihren Leibwächtern und Dienern zu kämpfen, er beleidigte die Bonzen und verhöhnte die Anhänger des Meistes Konfutse. Bald war er für seine Beweglichkeit ebenso berühmt wie für seine Unverschämtheit. Er trat auf Märkten auf und verdiente Geld damit, sich mit Steinen bewerfen zu lassen. Wer ihn traf, dem versprach er ein Stück feinster Jade, das er in einem Ringkampf gewonnen hatte, aber er brauchte es nie herzugeben. "Wenn ich das schon damals im Kloster gekonnt hätte, hätte Meister Wu mich nie schlagen können", dachte er wehmütig und wurde von einer großen Sehnsucht gepackt, in die Gemeinschaft der Mönche zurückzukehren. Unverzüglich machte Chang sich auf den Weg.
Die Kunst einer Frau
Unterwegs traf er eine schöne junge Frau, die am Straßenrand vor einem Haus saß und webte. Als er an ihr vorbei wollte, stand sie plötzlich auf und stellte sich ihm in den Weg. Chang San Feng wich ihr höflich aus, weil sie ihn an seine Schwester erinnerte, und wollte an ihr vorbeigehen, aber wohin er sich auch drehte und wendete, immer stand sie vor ihm. Da wurde er wütend und wollte die edle Dame wegstoßen, aber da wo sie eben noch gestanden hatte, war nun nur noch Luft. Dafür traf ihn plötzlich ein Stoß in den Rücken, der ihn zu Boden warf. Über sich hörte er das vergnügte Lachen der Schönen. "Man sollte einen Gegner nie nach dem Aussehen beurteilen, Chang, sonst erlebt man unangenehme Überraschungen." Wieder trat er nach ihr, aber sie wich ihm aus und schlug ihm wieder auf den Rücken, so dass er erneut das Gleichgewicht verlor.
"Ausweichen allein genügt nicht. Weiche aus, wenn der andere angreift, folge, wenn dieser sich zurückzieht. Das ist der zweite Teil der Lehre. Übe das Folgen!" Damit war sie verschwunden.
"Folgen." Chang kaute das Wort in seinem Geist hin und her. Ausweichen war gut, es brachte so manchen Angreifer zur Verzweiflung. Aber die junge Frau hatte recht, man musste den Gegner in die Enge treiben, ihm keinen Raum lassen, eine neue Strategie zu planen und seine Kräfte für einen erneuten Angriff zu sammeln. Er wurde sehr vergnügt, als er daran dachte, wie Meister Chow sich über ihn wundern würde.
Chang San Feng wanderte weiter dem Kloster Shaolin entgegen. Er watete durch den Bach, an dessen Ufer er vor so langer Zeit meditiert und das wahre Wesen des Wassers verstanden hatte. Nachdem er den Wald durchquert hatte, in dem er damals auf die Bäume eingetreten hatte und von der merkwürdigen Versammlung der Tiere und Naturwesen verhöhnt und belehrt worden war, traf er auf der Straße einige seiner Brudermönche.
Freudestrahlend lief er auf sie zu, sie aber nahmen Zuflucht zum Namen des Buddha, nannten ihn einen daoistischen Zauberer und nahmen ihre Kampfstellung ein. Verblüfft hielt er an, sagte ihnen seinen Namen und fragte nach Meister Wu und Meister Lo. Sie tuschelten untereinander, ohne ihre Kampfstellung für einen Moment aufzugeben, und riefen ihm schließlich aus sicherer Entfernung zu, dass er ein Dämon sein müsse, denn Chang San Feng, ihr Brudermönch, war vor vielen Jahren verschwunden. Nur einige zerrissene und blutgetränkte Kleidungsstücke hatte man gefunden. Sie hatten Räucherstäbchen angezündet und für eine günstige Wiedergeburt gebetet. Wu und Lo waren längst gestorben.
Chang schrie sie an: "Aber seht doch, ich lebe. Wiedergeboren worden bin ich tatsächlich. Ich habe von den Naturgewalten, den Tieren und von einer schönen Frau gelernt."
Als sie daraufhin aber mit ihren Stöcken auf ihn losgingen, da hatte er die Lehren der Schlange, des Windes und des Wassers vergessen und rannte weinend davon.
Der Traum der weißen Dämonen
Nun gab es kein Zurück mehr, er wusste nicht länger, ob er Mensch war oder Dämon, ob er noch im Reich der Mitte lebte oder in den Abgründen der Unterwelt. Der Buddha war ihm schon seit Jahren nicht mehr erschienen, Meister Lao hatte sich nie wieder sehen lassen, er hatte die Anhänger Meister Konfutses verhöhnt, seine eigenen Brüder hatten ihn bedroht, er hatte gestohlen und gelogen, seit Jahren die Ahnen nicht mehr geehrt oder in Dankbarkeit an seine Eltern gedacht. Er war zu einem Tier geworden, das völlig allein und ohne Sinn die Welt durchstreifte. Da legte er sich auf die kühle Erde und wünschte sich zu sterben, um so aus diesem Alptraum zu erwachen. Über ihm zogen die Sterne ihre Bahn und folgten ewigen Gesetzen. Aber statt zu sterben, schlief er ein.
In seinem Traum sah er merkwürdige Menschen: Sie waren riesengroß und bleich mit langen Nasen, und sie trugen eine merkwürdige Kleidung. Sie öffneten den Mund und heraus kamen schreckliche Laute, die er nur schwer als Sprache erkannte. Das mussten die weißen Dämonen sein, von denen er gehört hatte, die in einem fernen barbarischen Land lebten, in dem die Ahnen keine Ruhe fanden, weil niemand ihnen Nahrung gab und sie ehrte.
Die weißen Dämonen bewegten sich langsam, als ob sie krank im Kopf wären und führten Bewegungen aus, die ihn an irgend etwas erinnerten. Es war eine Art Tanz, die Bewegungen waren schön anzusehen, waren gleichmäßig und elegant, aber ihr Sinn entging ihm. Einer der Dämonen trat auf ihn zu und drückte ihm eine Schriftrolle in die Hand. Als Chang aufwachte, erwartete er halb, in seiner Hand eine Schriftrolle zu halten, aber die Hand war leer.
Eines Abends ruhte er sich auf einem Stein aus und dachte über alles nach, was ihm widerfahren war. Da sah er in einiger Entfernung eine kleine Schlange liegen, die sich im Schein der untergehenden Sonne räkelte. Plötzlich stieß ein riesiger Kranich, leichte Beute vermutend, auf sie herab. Er hackte mit dem Schnabel zu, die Schlange aber wich elegant und mühelos aus, und als er den Kopf zurückzog, um erneut zuzustoßen, biss sie ihn in den Hals.
Chang wollte der Schlange zu Hilfe eilen, denn er wusste, dass er in ihrer Schuld stand und dass sie gegen den übermächtigen Vogel keine Chance hatte. Aber er stand wie angewurzelt und konnte sich nicht vom Fleck bewegen. So kämpften die beiden Tiere eine Stunde lang, bis der Kranich erschöpft und blutend von seiner nicht so leichten Beute abließ und davonflog. Die Schlange aber schaute Chang San Feng stumm aus ihren starren Augen an und wartete.
In diesem Augenblick wurde er erleuchtet. Zuerst sah er vor sich Gautama Buddha, den Erhabenen, der ihn schweigend anlächelte und ihm eine Blume reichte. Daneben stand Laotse, dem die Tränen die Wangen herabliefen und der sich vor Lachen den Bauch hielt. Überragt wurden die beiden von der hageren Gestalt Meister Konfutses, der ihm anerkennend und verzeihend zunickte.
Dann verschwanden die drei, und Chang fiel ins Nichts. Dieses Nichts war das Tao, der Urgrund des Seins, das nicht beschrieben, sondern nur erfahren werden kann. In diesem Nichts, das doch All und Alles war, begann sich ein feuriger Kreis zu drehen, der aus zwei Schlangen gebildet wurde, die einander in die Schwänze bissen und sich dabei immer schneller um sich selbst drehten. Die eine Schlange war dunkel und hatte ein helles Auge, die andere war hell mit einem dunklen Auge. Aus der ekstatischen Vereinigung dieser beiden Kräfte, dem Yin und dem Yang, wurden die zehntausend Wesen geboren.
Chang San Feng verstand mit einem Mal, wieso der Tag der Nacht weicht und warum die Nacht dem Tag folgen muss. Er verstand auch das wahre Wesen der Menschen, die geboren werden, wachsen, reifen und wieder vergehen müssen, er begriff den Lauf der Sterne, die sich in endlosen Kreisen bewegen, und den ewigen Tanz des Universums. Er sprang auf und tanzte diesen Tanz mit. Da aber das Universum in ganz anderen Zeitmaßstäben denkt als ein Mensch, konnte ein daoistischer Einsiedler, der zufällig vorbeikam, keine äußere Bewegung sehen. Er sah nur ein überirdisches Leuchten um Chang San Feng herum, der still dastand und den Tanz des Universums tanzte. Also setzte er sich zu seinen Füßen, und auch er wurde erleuchtet.
Die Gesetze des Universums
Als Chang San Feng Tage später aus seiner scheinbaren Erstarrung erwachte, und der Daoist ihn bat, sein Schüler werden zu dürfen, nickte er nur und sprach die folgenden Sätze: "Das erste Gesetz lautet: 'Das Weiche überkommt das Harte.' Das zweite Gesetz lautet: 'Der Geist führt, der Körper folgt.' Das dritte: 'Werde ich angegriffen, ziehe ich mich zurück; zieht sich der Angreifer zurück, folge ich.' Das vierte: 'In der Ruhe bin ich wie ein Berg, in der Bewegung wie fließendes Wasser.' Das fünfte: 'Je langsamer ich mich bewege, desto schneller komme ich voran.'"
Er legte seinem ersten Schüler die Hand auf die Schulter. "Meine Methode soll das Tao ehren, das die Mutter aller Wesen ist. Darum will ich sie die Faust des großen Absoluten nennen." Taijiquan war geboren.
Die nächsten Jahre verbrachten die beiden damit, zu meditieren, den Tanz des Universums zu tanzen und Tiere und Menschen zu beobachten. Sie studierten die Bewegungen des Affen, des Hahns und des Kranichs, sie ahmten den Tiger nach und natürlich die Schlange. Sie lernten auch weiterhin von Wind und Wasser, von den Bergen und Wolken und vom Lauf der Planeten.
Zunächst wurden sie verspottet, da sie gemäß der Erkenntnis, dass das Langsame die Mutter des Schnellen ist, ihre Übungen im Zeitlupentempo ausführten. Doch nach und nach verbreitete sich ihr Ruhm, denn viele forderten sie heraus, aber niemand konnte sie besiegen.
Doch der Meister und sein Schüler hatten längst das Interesse am Kämpfen, an Ruhm und Ehre verloren und zogen sich tiefer in die Berge zurück. Manche sagen, sie lebten dort von Mondlicht und Tautropfen, kleideten sich mit Spinnweben, schliefen auf dem weichen Gras und unterhielten sich mit Tieren und Pflanzen, Sternen und Göttern. Andere hielten sie gar für Götter oder zumindest für Unsterbliche und flehten sie um Beistand an.
Wir wissen nicht, was wirklich mit Chang San Feng geschah, aber einer anderen Quelle zufolge heißt es, dass er Jahre später wieder die Gesellschaft der Menschen suchte und eine gewisse Berühmtheit als Vogelfänger erlangte. Dazu benutzte er allerdings weder ein Netz noch eine Falle, sondern lediglich seine Hand.
Wie das möglich sein soll? Nun, verstehen kann man es eigentlich nicht, da es außer ihm niemals jemandem gelungen ist, aber es heißt, er habe ein paar Sonnenblumenkerne auf den Rücken seiner Hand gelegt und unbeweglich gewartet, bis sich eine Amsel niedersetzte, um sie aufzupicken. In dem Augenblick aber, in dem sich der satte Vogel gegen die Hand stemmte, um sich emporzuschwingen, gab Chang San Feng etwas nach und die Amsel fand keinen Widerstand, gegen den sie sich hätte abstoßen können. Den staunenden Zuschauern schien es, als ob der Vogel auf der Hand kleben blieb. Nach einer Weile war er so erschöpft, dass der Käufer ihn direkt von der Hand nehmen und in den Käfig tun konnte, den Chang ebenfalls verkaufte.
Es war nur merkwürdig, dass die Vögel am nächsten Morgen immer verschwunden waren, weil die Stäbe der Käfige nicht eng genug gesteckt waren. Sobald die Vögel nämlich die Sonnenblumenkerne verdaut hatten, waren sie dünn genug, um zwischen den Stäben hindurch in die Freiheit zu schlüpfen. Kamen die Käufer, um sich zu beklagen, war Chang San Feng schon weitergezogen.
Auf jeden Fall, so berichten verschiedene Chronisten übereinstimmend, lebte der Meister länger, als es je ein Mensch vor ihm getan hatte und erfreute sich Zeit seines Lebens bester Gesundheit. Eines Tages verschwand er und wurde nie mehr gesehen. Da sein Körper nie gefunden wurde, entstand die Legende, dass er tatsächlich unsterblich geworden sei und China verlassen habe, um in anderen Ländern zu leben und zu lehren.
Copyright © 1997, 2006 Manfred Miethe
www.manfredmiethe.com
Dao: So Wörter wie "Schwan*" einer Schlange dürfen nicht ganz geschrieben werden, da sie sonst automatisch vom Programm editiert werden. Habe jetzt in Schwan* umgeändert, damit man weiß was ******* überhaupt heißt
Eine möglicherweise wahre Geschichte
"Gib doch endlich auf. Du wirst es nie schaffen, mich zu besiegen", lachte Meister Wu gutmütig. "Deine Beine sind viel zu kurz, deine Arme sind zu dünn, dein Rücken ist zu schwach und dein Wille zu unbeständig. Finde dich damit ab, dass du nie ein Meister der Kampfkunst werden wirst. Für dich wird es immer einen Stärkeren geben."
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als Chang San Feng mit einem Aufschrei der Wut erneut auf ihn eindrang und erst mit dem linken, dann mit dem rechten Fuß gegen den Kopf seines Lehrers trat. Dieser breitete seine Arme aus wie ein Kranich seine Flügel und fegte Changs Beine beiseite wie lästige Mücken. Dann wich er ein paar Schritte zurück, stellte sich auf ein Bein und wartete unbeweglich. Als Chang erneut auf ihn zustürzte, täuschte er einen niedrigen Tritt in die Magengrube vor und drehte sich dann, als sein Schüler dem vermeintlichen Tritt ausweichen wollte, unvermittelt um und schlug ihm mit dem Handrücken auf das linke Ohr.
Chang fiel trotz des scheinbar mühelos ausgeführten Schlags zu Boden, sprang aber sofort wieder auf, um seinen Lehrer erneut anzugreifen. Dieser hob eine Hand. "Es ist genug. Du hast nicht die Kraft, um einen alten Mann zu besiegen. Bitte den Buddha um Beistand. Aber gehe zuerst in die Küche und hilf den Novizen beim Reiskochen."
Welch eine Schmach, mit den Neulingen in der heißen Küche arbeiten zu müssen, während sich die anderen Mönche abmühten, Erleuchtung zu erlangen und vollkommene Meisterschaft über ihre Körper zu gewinnen. Aber statt seinem Meister zu gehorchen, wie es einem demütigen Diener Buddhas angestanden hätte, wandte Chang sich trotzig ab und rannte in den Wald, wo er sich ungestört wusste und nur von schweigenden Bäumen umgeben war und nicht vom Spott der muskelbepackten Mönche des Shaolin-Klosters gestört wurde.
Es stimmte, dass seine Beine, verglichen mit den Stelzen, die Wu, der Meister des Kranichstils, Beine nannte, kurz waren und dass seine Arme verglichen mit den Eisenstäben, die Chow, dem Meister des Affenstils, dort aus den Schultern wuchsen, wo normale Menschen ihre Arme hatten, zu dünn waren. Und sein Rücken war, verglichen mit dem von Lo, dem Meister des Tigerstils, immer noch schwach, obwohl er seit vier Jahren unermüdlich trainierte und hundert Mal am Tag die vielen Treppenstufen zum Tempel mit dem schwersten Stein, den er heben konnte, empor lief, obwohl er nur in der Pferdestellung aß und meditierte, obwohl er am Morgen fünfhundert Liegestütz machte und am Abend noch einmal fünfhundert.
Aber in einem täuschten sich alle: Sein Wille war weder unbeständig noch schwach, er glich dem des erhabenen Buddha, der sich vor langer Zeit geschworen hatte, so lange zu meditieren, bis er erleuchtet wäre. Der indische Prinz Siddharta war die große Inspiration des einfachen Bauernsohnes Chang. Er wollte es seinem Vorbild nachmachen, nur wollte er nicht erleuchtet werden - das war wohl eher etwas für ältere Männer und Hochgeborene -, sondern der stärkste Mann des Reichs der Mitte und der beste Kämpfer der Shaolin werden. Auf diese Weise wollte er den Ahnen Ehre erweisen und den Respekt seiner Familie erringen, die ihn wegen seiner körperlichen Schwäche verstoßen hatte. Den Männern des Dorfes, die ihn als Kind geschlagen und verspottet hatten, wollte er noch zu Lebzeiten zum unsterblichen Mythos werden. Er wollte, dass man Gedichte über seine Heldentaten verfasste und dass die Damen des Hofes sich die Augen ausweinten vor Sehnsucht nach ihm. Chang geriet ins Träumen. Er sah sich auf seidenen Kissen ruhen, von vier wunderschönen Konkubinen und seiner Frau Nummer Eins umgeben, er sah Söhne, viele Söhne, die seinen Geist nach seinem Tode mit Stolz erfüllen und vor seiner Ahnentafel Opfer bringen würden. Er träumte, dass der Sohn des Himmels ihn um Hilfe gegen die Barbaren des Nordens anflehte, er sah sich Armeen aufstellen und siegreich in den kaiserlichen Palast einziehen, wo er selbst zum Kaiser gekrönt werden würde.
Der Schrei eines Vogels brachte Chang zurück in die Gegenwart. Er stampfte zornig mit dem Fuß auf. Und wenn es ihm nicht gelang, dann wollte er wenigstens bei dem Versuch sterben und auf diese Weise ein Held werden, von dem sich kommende Generationen bewundernd erzählen würden. Das schwor sich Chang San Feng an diesem Morgen.
Er lief in den Wald, das Lachen Meister Wus noch in seinen Ohren. An einer Stelle, an der die Bäume besonders dicht wuchsen, verbeugte er sich kurz vor ihnen und bat sie hastig um Verzeihung, bevor er mit Händen und Füßen auf sie einschlug. Wenigstens auf die Bäume war Verlass. Sie blieben stehen, wenn man sie angriff und wichen nicht feige aus.
Der Versuch, Berge zu versetzen
Etwas ruhiger geworden, lief er weiter. Auf einer Lichtung stellte er sich in die Pferdestellung und begann mit seinen Atemübungen. Er atmete mit einer solchen Macht ein, dass ihm einige Äderchen in den Nasenflügeln platzten, dann führte er die Hände vor der Brust zusammen, hielt die Luft an, bis sein Gesicht rot anlief, ließ den Atem durch den ganzen Körper zirkulieren und atmete dann explosionsartig durch den Mund aus, wobei er mit den Händen einen imaginären Berg, der seine Brust zu zerquetschen drohte, von sich schob. Dann atmete er wieder kraftvoll ein, hielt den Atem an, zirkulierte die kosmische Lebenskraft und schob mit der Ausatmung den Berg zu den Seiten weg. Schließlich hob er im dritten Atemzyklus den Berg über seinen Kopf empor.
Stunde um Stunde versetzte er mit der Kraft seines Willens die Berge, die seinen schmächtigen Körper zu erdrücken drohten; Stunde um Stunde zwang er die Lebenskraft durch seinen Körper zu zirkulieren; Stunde um Stunde platzten in seinem Gehirn kleine Blutgefäße und plötzlich auch ein etwas größeres. Da versagten ihm die Beine den Dienst, und er fiel mit dem Gesicht voran auf den weichen Waldboden - und direkt vor die Füße Buddhas.
"Wohlgetan, Mönch, doch wisse, der Körper, den du heute stählst, wird schon morgen verfallen. Die Berge, die du heute versetzt, werden dir morgen den Blick auf das Nirwana versperren." So sprach der Erhabene und schritt davon. Und Chang San Feng fiel in einen tiefen Schlaf.
Als er wieder zu sich kam, hatte sich um ihn herum eine merkwürdige Gesellschaft versammelt, die ihn zunächst nur stumm ansah, dann aber mit Ratschlägen und auch Spötteleien nicht zurückhielt.
Ein kleiner, noch ganz junger Berg meinte: "Wenn du stehen solltest wie ein Berg, wärest du doch sicherlich einer von uns geworden und nicht ein Mensch mit zwei Beinen, oder?"
Und ein ungestümer Wind brüllte ihm ins Gesicht: "Menschlein, du kannst dich anstrengen so sehr du willst, nie wirst du atmen wie ich. Keiner kann sich mit mir messen. Gib es also auf!"
Ein Tiger hob den schlaffen Arm von Chang San Feng mit seiner Pranke und meinte abschätzend: "Nicht schlecht für einen Menschenschwächling, aber ich hätte dir schon als Zweijähriger den Arm brechen können."
Und ein Pferd stieg auf die Hinterhufe und wieherte: "Pferdestellung! Wenn ich das schon höre. Lächerlich! Nie im Leben werdet ihr kleinen Menschen so stark sein wie ein Pferd."
Chang hielt sich die Ohren zu, als der Spott und die Überheblichkeit der merkwürdigen Versammlung über ihn hereinbrachen. Er zwang sich, den immer gleichen Satz zu denken: "Ich nehme Zuflucht zum Buddha, dem Erhabenen, dem Juwel im Lotos." Und etwas leiser dachte er noch: "Buddha, ich flehe dich an, hilf mir jetzt."
"Mein Wille ist stärker als der eure", schrie er den Wesen entgegen. "Der Wille eines Menschen ist unbezwingbar." Dann wurde er wieder ohnmächtig, und es wurde ganz still in seinem Herzen.
Die Weisheit einer kleinen Schlange
Als er wieder zu sich kam, saß vor ihm nur noch eine kleine Schlange, die sah ihn aus klugen Augen an und zischte: "Warum willst du immer nur von den Starken lernen? Warum imponieren dir nur Kraft und Schnelligkeit? Hast du denn die Worte von Meister Laotse vergessen, der uns lehrte, dass das Weiche das Harte besiegt? Lerne vom stillen Wasser und vom Flüstern des Windes, und wenn du bereit bist, werde ich dich als meinen Schüler annehmen und dir zeigen, wie du unbesiegbar werden kannst." Damit hatte sie sich schon davon geschlängelt.
Chang San Feng ignorierte die Worte der Schlange, die er ziemlich anmaßend und außerdem lächerlich fand. Es gab nur einen Weg zu siegen: Man musste stärker, schneller und ausdauernder sein als alle anderen. Dann war man unbesiegbar. Mit diesem Gedanken machte er sich auf den Weg zurück zum Kloster.
Aber obwohl er den Weg schon hundert und aberhundert Mal gegangen war, erkannte er nicht Baum noch Strauch und nach ein paar Stunden musste er sich kleinlaut eingestehen, dass er sich verlaufen hatte. Er schaute nach dem Stand der Sonne, aber die schien sich die ganze Zeit über nicht bewegt zu haben. Noch immer war sie dort, wo sie gestanden hatte, als er den Berg versetzt hatte. Nur - sie brannte nicht mehr auf ihn herab, sondern ließ eine Art goldenes Dämmerlicht auf in hernieder tropfen. Kein Windhauch ließ die Blätter der Bäume erzittern, kein Laut drang durch die dicke Stille. Da schlug er vor Wut und Verzweiflung mit den Fäusten immer wieder gegen einen der Eisenholzbäume, bis ihm die Haut in Fetzen herunterhing und er von oben bis unten mit seinem eigenen Blut bespritzt war. Erst dann hörte er auf und setzte sich dumpf auf den Boden, kreuzte automatisch die Beine und begann zu meditieren.
Wieder erschien ihm der Buddha. Der Erhabene hielt in seiner rechten Hand ein Schwert und in der linken eine Blume. Mit einer langsamen Bewegung, so als ob er sich durch dicken Honig hindurch bewegte, schlug er mit dem Schwert auf die Blume ein. Und siehe da: Das Schwert zerbrach und fiel in zwei Teilen zu Boden. Der Erwachte lächelte und ging an der Blume riechend davon.
Chang San Feng schüttelte den Kopf. Er verstand nicht, was der Buddha ihm sagen wollte. Vor Selbstmitleid fing er an zu weinen. Als seine Tränen endlich versiegt waren und er wieder klar denken konnte, hörte er in der Nähe einen Bach plätschern, zu dem ging er hin und tauchte seine schmerzenden Hände in das eiskalte, klare Wasser. Als er sie wieder herauszog, traute er seinen Augen nicht: das Blut war verschwunden, und die Haut war unversehrt - wie die eines jungen Mädchens. Er dankte zuerst dem Buddha und dann dem Fluss und beschloss eine Weile am Ufer sitzen zu bleiben und sich auszuruhen. Als er dem trägen Lauf des Wassers zusah, fiel ihm die kleine Schlange ein und ihr Rat, vom stillen Wasser zu lernen. Er musste lachen. Was sollte er denn schon vom Wasser lernen?
Die Lehre des Wassers
Aber je länger er auf den Bach sah, und je ruhiger es in ihm wurde, desto mehr öffnete er sich der ewigen Botschaft des Wassers. So ein Bach war doch ein geheimnisvolles Wesen, dachte er, ein Wunder, das immer gleich zu sein schien und doch in jedem Augenblick völlig anders war. Sein Rauschen schien eintönig und war doch in Wahrheit voller Feinheiten, voller Nuancen, die nur von denen wahrgenommen werden konnten, die bereit waren, den Lärm der Gedanken verstummen zu lassen und der Weisheit des Wassers zuzuhören.
Seit ewigen Zeiten sprudelte das Wasser dieses Baches aus der Erde hervor; ein paar Mal hatte er seinen Lauf geändert, er war mal breiter, mal schmaler gewesen, aber immer war er dieser Bach und gleichzeitig ständig neu und noch nie da gewesen.
Was musste er seither alles gesehen haben: Menschen hatten ihn mit Flößen und Booten befahren, Brücken über ihn gebaut, ihn eingedämmt und umgeleitet, und noch immer floss er seiner Bestimmung entsprechend dahin - ruhig, stetig und voller Würde. Menschen waren in seinen Fluten ertrunken, unerwünschte Mädchen waren gleich nach der Geburt in ihm ertränkt worden, Jungen hatten in ihm gebadet, ein paar abergläubische Bauern hatten kostbares Öl auf ihm ausgegossen und es angezündet, um so die Götter anzuflehen, ihre Felder vor Überschwemmungen zu beschützen. Eines Tages waren sich hier die Söhne des Himmels und die barbarischen Horden aus den nördlichen Steppen begegnet, es war eine Schlacht geschlagen worden, und Hunderte von toten Soldaten hatten das Wasser blutrot gefärbt.
Den Bach schien das alles nicht zu stören, Tag für Tag floss er unbeirrt dahin. Chang fragte sich, wer wohl länger auf dieser Erde sein würde, der Bach ohne Namen oder der Sohn des Himmels auf seinem fernen Thron?
Er versank wieder in seine Meditation, und dieses Mal erschien ihm Meister Lao, der alte Weise vom Berge, und sprach zu ihm: "Bist nicht auch du wie fließendes Wasser? Immer gleich und doch immer anders? Fließt nicht auch du deiner Bestimmung entgegen? Und kommst nicht auch du ständig an und bist doch immer unterwegs?"
Chang San Feng fragte ihn: "Werde auch ich mich in den großen Ozean ergießen?" Laotse lachte: "Natürlich wirst du das, es ist deine Bestimmung." "Aber wer werde ich dort sein? Wer wird mich als den Helden erkennen, der ich bin?"
"Du wirst nur ein Wasser unter vielen sein, nicht mehr zu unterscheiden von all den anderen. Du wirst vergessen, dass du einmal ein mächtiger Held warst, einen Namen hattest, eine Geschichte, einen Anfang und ein Ende. Aber wisse, du wirst aus dem Meer emporsteigen in den Himmel, dich dort in Wolken verwandeln, über das Land hinwegziehen, dich in den Bergen abregnen und wieder in die Erde sickern. Und Jahrtausende später wirst du wieder zum Fluss werden, nur zu einem ganz anderen, einem, der keine Erinnerung mehr an das hat, was er jetzt zu sein glaubt." Der Alte ritt lachend auf seinem Ochsen davon.
Nun war Chang vollends verwirrt. Er ein Fluss? Teil des riesigen Ozeans? Was wollte ihm der alte Mann nur sagen? "So sage mir, ehrwürdiger Meister, wer ich bin", rief er ihm hinterher. Aber der Weise war schon nicht mehr zu sehen. Nur sein Lachen und das Schnauben seines Ochsen waren noch zu hören.
In der Mitte des Baches hatten sich einige Zweige ineinander verkeilt, und das Wasser floss sanft um sie herum. Plötzlich aber hörte Chang San Feng ein gewaltiges Rauschen, und er sah mit Erstaunen, wie eine riesige Flutwelle heranschoss, die die Bäume in Sekundenschnelle mit sich fortgerissen hatte. Dann floss der Bach wieder ruhig vor sich hin und plätscherte leise.
"Ist das Wasser schwach, gibt es nach und fließt um einen Widerstand herum. Ist es aber stark, so reißt es jeden Widerstand mit sich fort. Nichts ist so nachgebend wie Wasser und doch ist nichts so mächtig. Lerne vom Wasser, Chang San Feng."
Er wandte sich um, um zu sehen, wer zu ihm sprach, aber die kleine Schlange war schon wieder im Gebüsch verschwunden. Nur ihren Schwan* sah er gerade noch. Chang schüttelte den Kopf und beugte sich vor, um sich zu waschen. Da erschrak er, denn er erkannte das Gesicht nicht, das ihm aus irren Augen entgegenstarrte. Auf seinem kahlgeschorenen Mönchskopf war langes, schwarzes Haar gewachsen, das ihm bis auf die Schultern reichte, die buschigen Augenbrauen verdeckten beinahe seine Augen, und im Gesicht wuchs ihm ein Bart, der bis auf die Brust herunterhing. Seine Mönchsrobe war zerfetzt und sein Körper ausgemergelt und schmutzig. Das Gesicht im Wasser war nicht länger das des Mönches Chang, sondern das eines Wahnsinnigen, eines Dämonen der Finsternis.
Der Kampf mit dem inneren Dämon
Schreiend rannte er vor seinem eigenen Spiegelbild davon und rief immer wieder den Namen des Buddha, des edlen Erwachten, damit dieser ihn zurück in die Gemeinschaft der Mönche führen möge. Aber außer dem Bach und den Bäumen hörte niemand seine Schreie. Chang lief und lief und kam schließlich aus dem Wald heraus auf eine Ebene, auf der nichts wuchs außer ein paar Steinen.
Und nachdem er eine Weile sinnlos vor sich hin gewandert war, stand er am Rand einer Klippe und blickte über eine endlose Wüste, in der nichts lebte. Die Sonne brannte auf ihn nieder und versengte ihm die Haut. Da kam ein kleiner Lufthauch auf, der ihn streichelte. Chang San Feng aber wurde wütend und dachte an die Worte des allgewaltigen Windes und schrie höhnisch: "Wo ist jetzt deine Macht, o Herrscher der Lüfte?"
Da erhob sich ein solches Getöse, dass er sich die Ohren zuhalten musste, und vor ihm verdichtete sich die Luft zu einer Wand aus Staub und Stein, die unaufhörlich auf ihn zugerückt kam. Er warf sich zu Boden und krallte sich an einem Felsen fest, als der Wind mit der Macht von zehntausend Pferden über ihn hinwegraste.
Dann wurde es wieder still. "Der Wind ist sanft und entspannt, wenn er ruht, aber wenn er erwacht, ist er mächtiger als alles, was sich ihm entgegenstellt. Selbst das Wasser unterwirft sich dem Wind. Lerne vom Wind! Entspanne dich, wenn dir dein Gegner gegenübersteht. Bewege dich nicht, wenn er sich nicht bewegt. Wenn er dann angreift, konzentriere all deine Kraft. Bewegt er sich langsam, bewege auch du dich langsam. Bewegt er sich schnell, bewege auch du dich schnell." Wieder sah Chang San Feng wie die kleine Schlange eilig davon kroch.
Lange stand er auf der Klippe, dachte über die Worte nach und sah auf die öde Landschaft herab. Die Schlange war weise, daran hatte er nun keinen Zweifel mehr, auch wenn er noch nicht wusste, wie er ihre Botschaft umsetzen sollte. Je länger er stand, desto mehr verbrannte die Sonne ihm die Haut, die Zunge klebte ihm am Gaumen, und er kam fast um vor Durst. Vor sich sah er Schemen, Angreifer, die ihm nach dem Leben trachteten. Sie griffen ihn an, traktierten ihn mit Schlägen und mit Tritten. Chang dachte an den Rat der kleinen Schlange und stand einfach da, wartete ab und war wie der stille Wind. Dann als einer der Schatten in seine Nähe kam, wich er dem Angriff aus, drehte sich wie ein Wirbelsturm um die eigene Achse, konzentrierte all seine Kraft in der rechten Hand und schlug nur ein einziges Mal zu. Die Schemen verschwanden.
Nicht widerstehen, sondern ausweichen
Da machte Chang sich wieder auf den Weg. Nach einiger Zeit tauchte ein Dorf vor ihm auf, und er ging direkt zum Marktplatz, um nach der Sitte der buddhistischen Wandermönche um Nahrung zu bitten. Er sah einen Stand mit saftigen Wassermelonen, auf den ging er zu und bat um ein Stück. Der Verkäufer sah ihn an, rümpfte die Nase, griff nach dem Messer, mit dem er eben noch eine Melone gespalten hatte, und bedeutete ihm zu verschwinden.
Chang San Feng erinnerte sich, dass er keineswegs wie ein sanfter Mönch aussah, sondern eher wie ein wildes Tier. "Wenn ich schon so aussehe, will ich mich auch so benehmen", dachte er mit der Logik eines Wahnsinnigen und stürzte sich zähnefletschend auf die Melonen. Der Saft lief ihm in Strömen Kinn und Hals herunter, als er nach Herzenslust hineinbiss und laut schmatzte. Der Verkäufer stach mit dem Messer auf ihn ein, aber Chang wich - weiterkauend - geschickt aus, griff sich noch ein Stück und ging zufrieden lachend davon. Der Verkäufer warf mit Steinen nach ihm, und ein paar Kinder gesellten sich dazu, bewarfen ihn ebenfalls aus sicherer Entfernung und riefen ihm Schimpfworte hinterher.
Chang San Feng musste noch lauter lachen. Die Worte berührten ihn nicht, und die Steinchen taten seinem abgehärteten Körper nicht weh. Schließlich hatte man im Shaolin-Kloster mit Eisenstäben auf ihn eingeschlagen, Holzlatten auf seinem Rücken und seinen Unterarmen zerbrochen und Bambusstöcke in seinen Bauch und Hals gebohrt. Was störten ihn da ein paar Steine! Als ihn aber einer am Kopf traf, da war es doch aus mit seiner Gelassenheit, und er schrie vor Schmerz auf.
Da hörte er eine vertraute Stimme, die flüsterte: "Denke an das Wasser. Widerstehe nicht, sondern gebe nach. Weiche aus, sei klug. Steine sind härter als Köpfe!"
Er fing an zu genießen, mit welcher Beweglichkeit und Anmut sein Körper den Steinen auswich, und schon bald wurde er nicht mehr getroffen. Schließlich gaben die Kinder und der Mann erschöpft auf und ließen ihn in Ruhe.
Von nun an provozierte Chang San Feng solche Zwischenfälle, um die Kunst des Ausweichens zu lernen. Er stahl und ließ sich erwischen, er rempelte die Reichen an, um mit ihren Leibwächtern und Dienern zu kämpfen, er beleidigte die Bonzen und verhöhnte die Anhänger des Meistes Konfutse. Bald war er für seine Beweglichkeit ebenso berühmt wie für seine Unverschämtheit. Er trat auf Märkten auf und verdiente Geld damit, sich mit Steinen bewerfen zu lassen. Wer ihn traf, dem versprach er ein Stück feinster Jade, das er in einem Ringkampf gewonnen hatte, aber er brauchte es nie herzugeben. "Wenn ich das schon damals im Kloster gekonnt hätte, hätte Meister Wu mich nie schlagen können", dachte er wehmütig und wurde von einer großen Sehnsucht gepackt, in die Gemeinschaft der Mönche zurückzukehren. Unverzüglich machte Chang sich auf den Weg.
Die Kunst einer Frau
Unterwegs traf er eine schöne junge Frau, die am Straßenrand vor einem Haus saß und webte. Als er an ihr vorbei wollte, stand sie plötzlich auf und stellte sich ihm in den Weg. Chang San Feng wich ihr höflich aus, weil sie ihn an seine Schwester erinnerte, und wollte an ihr vorbeigehen, aber wohin er sich auch drehte und wendete, immer stand sie vor ihm. Da wurde er wütend und wollte die edle Dame wegstoßen, aber da wo sie eben noch gestanden hatte, war nun nur noch Luft. Dafür traf ihn plötzlich ein Stoß in den Rücken, der ihn zu Boden warf. Über sich hörte er das vergnügte Lachen der Schönen. "Man sollte einen Gegner nie nach dem Aussehen beurteilen, Chang, sonst erlebt man unangenehme Überraschungen." Wieder trat er nach ihr, aber sie wich ihm aus und schlug ihm wieder auf den Rücken, so dass er erneut das Gleichgewicht verlor.
"Ausweichen allein genügt nicht. Weiche aus, wenn der andere angreift, folge, wenn dieser sich zurückzieht. Das ist der zweite Teil der Lehre. Übe das Folgen!" Damit war sie verschwunden.
"Folgen." Chang kaute das Wort in seinem Geist hin und her. Ausweichen war gut, es brachte so manchen Angreifer zur Verzweiflung. Aber die junge Frau hatte recht, man musste den Gegner in die Enge treiben, ihm keinen Raum lassen, eine neue Strategie zu planen und seine Kräfte für einen erneuten Angriff zu sammeln. Er wurde sehr vergnügt, als er daran dachte, wie Meister Chow sich über ihn wundern würde.
Chang San Feng wanderte weiter dem Kloster Shaolin entgegen. Er watete durch den Bach, an dessen Ufer er vor so langer Zeit meditiert und das wahre Wesen des Wassers verstanden hatte. Nachdem er den Wald durchquert hatte, in dem er damals auf die Bäume eingetreten hatte und von der merkwürdigen Versammlung der Tiere und Naturwesen verhöhnt und belehrt worden war, traf er auf der Straße einige seiner Brudermönche.
Freudestrahlend lief er auf sie zu, sie aber nahmen Zuflucht zum Namen des Buddha, nannten ihn einen daoistischen Zauberer und nahmen ihre Kampfstellung ein. Verblüfft hielt er an, sagte ihnen seinen Namen und fragte nach Meister Wu und Meister Lo. Sie tuschelten untereinander, ohne ihre Kampfstellung für einen Moment aufzugeben, und riefen ihm schließlich aus sicherer Entfernung zu, dass er ein Dämon sein müsse, denn Chang San Feng, ihr Brudermönch, war vor vielen Jahren verschwunden. Nur einige zerrissene und blutgetränkte Kleidungsstücke hatte man gefunden. Sie hatten Räucherstäbchen angezündet und für eine günstige Wiedergeburt gebetet. Wu und Lo waren längst gestorben.
Chang schrie sie an: "Aber seht doch, ich lebe. Wiedergeboren worden bin ich tatsächlich. Ich habe von den Naturgewalten, den Tieren und von einer schönen Frau gelernt."
Als sie daraufhin aber mit ihren Stöcken auf ihn losgingen, da hatte er die Lehren der Schlange, des Windes und des Wassers vergessen und rannte weinend davon.
Der Traum der weißen Dämonen
Nun gab es kein Zurück mehr, er wusste nicht länger, ob er Mensch war oder Dämon, ob er noch im Reich der Mitte lebte oder in den Abgründen der Unterwelt. Der Buddha war ihm schon seit Jahren nicht mehr erschienen, Meister Lao hatte sich nie wieder sehen lassen, er hatte die Anhänger Meister Konfutses verhöhnt, seine eigenen Brüder hatten ihn bedroht, er hatte gestohlen und gelogen, seit Jahren die Ahnen nicht mehr geehrt oder in Dankbarkeit an seine Eltern gedacht. Er war zu einem Tier geworden, das völlig allein und ohne Sinn die Welt durchstreifte. Da legte er sich auf die kühle Erde und wünschte sich zu sterben, um so aus diesem Alptraum zu erwachen. Über ihm zogen die Sterne ihre Bahn und folgten ewigen Gesetzen. Aber statt zu sterben, schlief er ein.
In seinem Traum sah er merkwürdige Menschen: Sie waren riesengroß und bleich mit langen Nasen, und sie trugen eine merkwürdige Kleidung. Sie öffneten den Mund und heraus kamen schreckliche Laute, die er nur schwer als Sprache erkannte. Das mussten die weißen Dämonen sein, von denen er gehört hatte, die in einem fernen barbarischen Land lebten, in dem die Ahnen keine Ruhe fanden, weil niemand ihnen Nahrung gab und sie ehrte.
Die weißen Dämonen bewegten sich langsam, als ob sie krank im Kopf wären und führten Bewegungen aus, die ihn an irgend etwas erinnerten. Es war eine Art Tanz, die Bewegungen waren schön anzusehen, waren gleichmäßig und elegant, aber ihr Sinn entging ihm. Einer der Dämonen trat auf ihn zu und drückte ihm eine Schriftrolle in die Hand. Als Chang aufwachte, erwartete er halb, in seiner Hand eine Schriftrolle zu halten, aber die Hand war leer.
Eines Abends ruhte er sich auf einem Stein aus und dachte über alles nach, was ihm widerfahren war. Da sah er in einiger Entfernung eine kleine Schlange liegen, die sich im Schein der untergehenden Sonne räkelte. Plötzlich stieß ein riesiger Kranich, leichte Beute vermutend, auf sie herab. Er hackte mit dem Schnabel zu, die Schlange aber wich elegant und mühelos aus, und als er den Kopf zurückzog, um erneut zuzustoßen, biss sie ihn in den Hals.
Chang wollte der Schlange zu Hilfe eilen, denn er wusste, dass er in ihrer Schuld stand und dass sie gegen den übermächtigen Vogel keine Chance hatte. Aber er stand wie angewurzelt und konnte sich nicht vom Fleck bewegen. So kämpften die beiden Tiere eine Stunde lang, bis der Kranich erschöpft und blutend von seiner nicht so leichten Beute abließ und davonflog. Die Schlange aber schaute Chang San Feng stumm aus ihren starren Augen an und wartete.
In diesem Augenblick wurde er erleuchtet. Zuerst sah er vor sich Gautama Buddha, den Erhabenen, der ihn schweigend anlächelte und ihm eine Blume reichte. Daneben stand Laotse, dem die Tränen die Wangen herabliefen und der sich vor Lachen den Bauch hielt. Überragt wurden die beiden von der hageren Gestalt Meister Konfutses, der ihm anerkennend und verzeihend zunickte.
Dann verschwanden die drei, und Chang fiel ins Nichts. Dieses Nichts war das Tao, der Urgrund des Seins, das nicht beschrieben, sondern nur erfahren werden kann. In diesem Nichts, das doch All und Alles war, begann sich ein feuriger Kreis zu drehen, der aus zwei Schlangen gebildet wurde, die einander in die Schwänze bissen und sich dabei immer schneller um sich selbst drehten. Die eine Schlange war dunkel und hatte ein helles Auge, die andere war hell mit einem dunklen Auge. Aus der ekstatischen Vereinigung dieser beiden Kräfte, dem Yin und dem Yang, wurden die zehntausend Wesen geboren.
Chang San Feng verstand mit einem Mal, wieso der Tag der Nacht weicht und warum die Nacht dem Tag folgen muss. Er verstand auch das wahre Wesen der Menschen, die geboren werden, wachsen, reifen und wieder vergehen müssen, er begriff den Lauf der Sterne, die sich in endlosen Kreisen bewegen, und den ewigen Tanz des Universums. Er sprang auf und tanzte diesen Tanz mit. Da aber das Universum in ganz anderen Zeitmaßstäben denkt als ein Mensch, konnte ein daoistischer Einsiedler, der zufällig vorbeikam, keine äußere Bewegung sehen. Er sah nur ein überirdisches Leuchten um Chang San Feng herum, der still dastand und den Tanz des Universums tanzte. Also setzte er sich zu seinen Füßen, und auch er wurde erleuchtet.
Die Gesetze des Universums
Als Chang San Feng Tage später aus seiner scheinbaren Erstarrung erwachte, und der Daoist ihn bat, sein Schüler werden zu dürfen, nickte er nur und sprach die folgenden Sätze: "Das erste Gesetz lautet: 'Das Weiche überkommt das Harte.' Das zweite Gesetz lautet: 'Der Geist führt, der Körper folgt.' Das dritte: 'Werde ich angegriffen, ziehe ich mich zurück; zieht sich der Angreifer zurück, folge ich.' Das vierte: 'In der Ruhe bin ich wie ein Berg, in der Bewegung wie fließendes Wasser.' Das fünfte: 'Je langsamer ich mich bewege, desto schneller komme ich voran.'"
Er legte seinem ersten Schüler die Hand auf die Schulter. "Meine Methode soll das Tao ehren, das die Mutter aller Wesen ist. Darum will ich sie die Faust des großen Absoluten nennen." Taijiquan war geboren.
Die nächsten Jahre verbrachten die beiden damit, zu meditieren, den Tanz des Universums zu tanzen und Tiere und Menschen zu beobachten. Sie studierten die Bewegungen des Affen, des Hahns und des Kranichs, sie ahmten den Tiger nach und natürlich die Schlange. Sie lernten auch weiterhin von Wind und Wasser, von den Bergen und Wolken und vom Lauf der Planeten.
Zunächst wurden sie verspottet, da sie gemäß der Erkenntnis, dass das Langsame die Mutter des Schnellen ist, ihre Übungen im Zeitlupentempo ausführten. Doch nach und nach verbreitete sich ihr Ruhm, denn viele forderten sie heraus, aber niemand konnte sie besiegen.
Doch der Meister und sein Schüler hatten längst das Interesse am Kämpfen, an Ruhm und Ehre verloren und zogen sich tiefer in die Berge zurück. Manche sagen, sie lebten dort von Mondlicht und Tautropfen, kleideten sich mit Spinnweben, schliefen auf dem weichen Gras und unterhielten sich mit Tieren und Pflanzen, Sternen und Göttern. Andere hielten sie gar für Götter oder zumindest für Unsterbliche und flehten sie um Beistand an.
Wir wissen nicht, was wirklich mit Chang San Feng geschah, aber einer anderen Quelle zufolge heißt es, dass er Jahre später wieder die Gesellschaft der Menschen suchte und eine gewisse Berühmtheit als Vogelfänger erlangte. Dazu benutzte er allerdings weder ein Netz noch eine Falle, sondern lediglich seine Hand.
Wie das möglich sein soll? Nun, verstehen kann man es eigentlich nicht, da es außer ihm niemals jemandem gelungen ist, aber es heißt, er habe ein paar Sonnenblumenkerne auf den Rücken seiner Hand gelegt und unbeweglich gewartet, bis sich eine Amsel niedersetzte, um sie aufzupicken. In dem Augenblick aber, in dem sich der satte Vogel gegen die Hand stemmte, um sich emporzuschwingen, gab Chang San Feng etwas nach und die Amsel fand keinen Widerstand, gegen den sie sich hätte abstoßen können. Den staunenden Zuschauern schien es, als ob der Vogel auf der Hand kleben blieb. Nach einer Weile war er so erschöpft, dass der Käufer ihn direkt von der Hand nehmen und in den Käfig tun konnte, den Chang ebenfalls verkaufte.
Es war nur merkwürdig, dass die Vögel am nächsten Morgen immer verschwunden waren, weil die Stäbe der Käfige nicht eng genug gesteckt waren. Sobald die Vögel nämlich die Sonnenblumenkerne verdaut hatten, waren sie dünn genug, um zwischen den Stäben hindurch in die Freiheit zu schlüpfen. Kamen die Käufer, um sich zu beklagen, war Chang San Feng schon weitergezogen.
Auf jeden Fall, so berichten verschiedene Chronisten übereinstimmend, lebte der Meister länger, als es je ein Mensch vor ihm getan hatte und erfreute sich Zeit seines Lebens bester Gesundheit. Eines Tages verschwand er und wurde nie mehr gesehen. Da sein Körper nie gefunden wurde, entstand die Legende, dass er tatsächlich unsterblich geworden sei und China verlassen habe, um in anderen Ländern zu leben und zu lehren.
Copyright © 1997, 2006 Manfred Miethe
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Dao: So Wörter wie "Schwan*" einer Schlange dürfen nicht ganz geschrieben werden, da sie sonst automatisch vom Programm editiert werden. Habe jetzt in Schwan* umgeändert, damit man weiß was ******* überhaupt heißt