Das Flow-Erleben im Tai Chi Chuan [Archiv] - Kampfkunst-Board

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martin3
20-08-2008, 13:26
Hallo liebe Taichi-Freunde,

über Sommer hatte ich etwas Zeit zum Aufräumen und ich habe einen alten Artikel zur "inneren Motivation" gefunden, denn ich schon lange einmal im Zusammenhang mit Tai Chi Chuan vorstellen wollte. Jetzt habe ich es geschafft und hier kommt er. Ich hoffe, er macht Spaß. und führt zu einer interessanten Diskussion. Bin schon gespannt, was ihr das so seht.

Gruß

Martin Bödicker (Taichi Finder - Tai Chi Center Bilk (http://www.taichi-finder.de))

Das Flow-Erleben im Tai Chi Chuan

von Freya und Martin Bödicker

Tai Chi Chuan wird oft als Meditation in der Bewegung bezeichnet. Mit diesem Merkmal, der Gleichzeitigkeit von körperlicher Handlung und dem Erreichen eines meditativen Bewusstseinszustandes ist Tai Chi Chuan berühmt geworden. Diese Verschmelzung von innerer Ruhe und äußerer Bewegung führt zu einem speziellen Empfinden. Man ist ganz im hier und jetzt, hochgradig konzentriert. Alle Sorgen des Alltags sind vergessen und man fühlt sich einfach gut. Der eigene Körper, die Atmung und die Wechsel der Bewegungen werden wahrgenommen, ohne dass man sich darauf konzentriert. Ein inneres Erleben dieser Art beoachtete Mihaly Csikszentmihalyi auch bei Menschen, die ganz allgemein einer künstlerische Tätigkeit nachgingen. Er benannte diese Zustand als Flow-Erleben und versuchte ihn nachfolgenden Untersuchen näher zu bestimmen.

Erste Ergebnisse seiner Studie zeigten, dass viele Künstler auch ohne Aussicht auf Reichtum oder Berühmtheit ein beachtliches Ausmaß an Zeit und Anstrengung in ihre künstlerische Tätigkeit investierten. Keine der Belohnungen, die im normalen Arbeitsleben zur Motivation von Mitarbeitern angewendet werden (Geld, Anerkennung) spielten eine Rolle. Es lag also keine externe Motivation vor. Die künstlerische Handlung wurde um ihrer selbst willen ausgeführt. Die Motivation muss in den Merkmalen der Tätigkeit selbst zu finden sein. Man spricht deshalb von intrinsischer Motivation.

In seiner weiteren Arbeit fragte sich Mihaly Csikszentmihalyi, welches inneres Erleben ein durch intrinsische Motivation ausgelöstes Handeln hervorbringt und welche Faktoren die intrinsische Motivation beeinflussen. Dazu wurde eine Untersuchung an 200 Personen durchgeführt, die viel Zeit mit intrinisisch motivierten Aktivitäten, wie z.B. Schachspielen, Felsklettern, Tanzen, Basketball und Komponieren verbrachten. Es zeigte sich, dass viele Teilnehmer ihr Erleben als ein umfassendes Gefühl des völligen Aufgehens in der Tätigkeit, als einheitliches „Fließen" beschrieben. Diesen Zustand bezeichnet Mihaly Csikszentmihalyi als „Flow". Das Flow-Erleben kann durch folgende Komponenten näher beschrieben werden:

- Ich und Handlung werden als Einheit empfunden

- Die gesamte Konzentration ist auf die Handlung ausgerichtet

- Die eigenen Gedanken rücken völlig in den Hintergrund

- Verstärkte Wahrnehmung des eigenen Körpers und der Umgebung

- Es stellt sich ein Gefühl der Kontrolle über die jeweilige Situation ein

In seiner weiteren Erforschung des Flow-Erlebens findet Mihaly Csikszentmihalyi folgende Bedingungen, die für das Flow-Erlebnis notwendig sind:

- Passung von Fähigkeit und Anforderung (nicht zu schwer – nicht zu leicht)

- Klares Ziel bzw. Aufgabenstellung

- Schnelles Feedback auf das Handeln

Ich denke, auch im Tai Chi Chuan ist ein Flow-Erlebnis oft zu beobachten. Die Theorie von Mihaly Csikszentmihalyi gibt uns nun Hinweise, wie beim eigenen Üben des Tai Chi Chuan das Flow-Erleben leichter erreichen kann. Hier ein paar Vorschläge:

- Sich vor dem Üben ein klares Ziel setzen, z.B. ich versuche die Schultern zu entspannen.

- Ich wähle Bewegungen oder Formen die meinem Lernstand und meiner aktuellen körperlichen und geistigen Situation angemessen sind.

- Beim Üben einzelner Bewegungen versuche ich ein Gefühl für die Bewegungen zu finden und korrigiere sie bei Bedarf.

- Neben dem Verbessern des eigenen Übens kann man aber auch das Erlernen des Tai Chi Chuan so gestalten, das ein Flow-Erlebnis erfahren werden kann. Voraussetzungen sind hier:

- Die zu erlernenden Bewegungen sollten im Schwierigkeitsgrad zu den Fähigkeiten des Übenden passen.

- Die Korrekturtiefe des Unterrichts muss zu den Fähigkeiten des Übenden passen.

- Die Korrektur einer Bewegung muss klar und deutlich definiert sein.

- Es muss ein schnelles Feedback auf die Übung durch den Lehrer oder durch das eigene Gefühl erfolgen

Das Flow-Erlebnis in der Tai Chi-Gruppe ist sicherlich etwas ganz besonderes. Nicht umsonst stellt man so oft fest:Je langsamer man sich bewegt, desto größer ist das innere Erleben und desto schneller ist die Zeit um.

Copyright Bödicker GbR 2008

nagual
20-08-2008, 14:34
Interessante, wenn ich nicht ultra-neue Sache, und grundsätzlich stimme ich den Sachen auch im wesentlichen zu.

Als Anmerkung aber noch:

Ich würde doch ziemlich klar unterscheiden zwischen dem Energie-Fluss-Gefühl, wie man es von Taijiquan und Qigong kennt, und dem was allgemein als "Flow-Effekt" in diesen Psycho-Büchern bezeichnet wird.
Sicherlich gibt es auch konkrete Zusammenhänge, d.h. z.B. das Flow-Erleben bei einem Maler oder Bildhauer mit einem einigermaßen ausgeglichenen Energie=Qi-Zustand einhergeht, aber vielleicht braucht der Maler sogar bestimmte "komsiche" Zustände, um in einer bizarre Stimmung für ein bizarres Bild zu kommen, so als Beispiel. Oder ein Heavy-Metal-Musiker auch ein Flow für seine Musik braucht, aber innerlich ist er nicht wirklich in einem Qigong-Zustand, sondern eher aktiviert und nach außen gerichtet drauf.

Es gibt also wohl eine riesige Bandbreite, was dieses Psycho-Flow-Gefühl betrifft, während die Sache bei Qigong und Taiji viel eindeutiger vorgeschrieben ist, wie der Flow dabei auszusehen hat.

Und bei Ultra-langsamen Bewegungsübungen, wo Klaus ja so ein Fan von ist, tritt dann auch dieses Gefühl der fließenden Bewegungen etwas in den Hintergrund, so dass dann auch nur noch ein Psycho-Flow der besonderen Art übrigbleibt.

Deswegen meine ich, dass man diese Aspekte nicht zu sehr zu einem einzigen Flow-Effekt zusammenrühren sollte.

Hokum
20-08-2008, 15:03
Interessante, wenn ich nicht ultra-neue Sache, und grundsätzlich stimme ich den Sachen auch im wesentlichen zu.

Als Anmerkung aber noch:

Ich würde doch ziemlich klar unterscheiden zwischen dem Energie-Fluss-Gefühl, wie man es von Taijiquan und Qigong kennt, und dem was allgemein als "Flow-Effekt" in diesen Psycho-Büchern bezeichnet wird.

Deswegen meine ich, dass man diese Aspekte nicht zu sehr zu einem einzigen Flow-Effekt zusammenrühren sollte.


macht der artikel ja auch nicht.

interessant ist beim 'taiji-flow', dass der ganze körper aktiviert ist. ich denke viele leute in unserer gesellschaft kennen die eine oder andere form des flows, meistens allerdings nur was den geist betrifft. also beim autofahren, computerspielen, beim (geistigen) arbeiten etc.
der flow wo der körper ausführlich arbeitet ist dann für viele ungewohnt.

martin3
20-08-2008, 15:53
Hallo nagual,

danke für deinen Einwurf - vollkommen richtig.

Ich habe gar nicht daran gedacht, dass man die beiden Energieaspekte vermischen könnte. Ist aber richtig, kann schnell so gesehen werden, soll so aber nicht sein.

Ich fand das Flow-Erleben besonders aus dem Aspekt der intrinsischen Motivation so interessant. Es beschreibt sehr gut für mich, warum ich eine mittelalterliche chinesische Kampfkunst betreibe, obwohl ich noch nie in meinem Leben wirklich kämpfen musste und es hoffentlich auch nicht brauche.
Es bedarf für Taichi halt keiner extrinsischen Motivation. Die Motivation liegt in der Sache selbst. Tai Chi Chuan als effektive Kampfkunst dann anwenden zu können ist ein schöner und nutzlicher Nebeneffekt.

Gruß

Martin

Klaus
20-08-2008, 16:39
Hallo Martin, sehe ich ähnlich. Dieser "Flow-Effekt" wird später auch im normalen Leben eine Konstante, im Sport, und bei jedem Rumlaufen in der Wohnung oder bei der Arbeit. Und sowas ist wichtiger als "kämpfän könnän".

martin3
20-08-2008, 16:51
Hallo Klaus,

ja, hoffentlich kommt es so.

Aus mein er Erfahrung als Taichi-Lehrer kann ich sagen, dass gerade das so viele Leute in ihrem (Arbeits- und Alltags-) Leben vermissen. Was für eine traurige Tatsache. Beim Taichi kann man dann dazu zurückfinden. Der Kampf im Pushhandsformat (freies spielerisches, aber nicht koopratives Pushhands) ist für mich da auch ein Beispiel. Man ist ganz in der Situation. Einfach spitze.

Gruß

Martin