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Kampfkunst Kurzgeschichten

Cobra Kai wirkt - Teil 1

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Laut schreiend liefen die Kinder durcheinander. Ihnen beim Fangenspielen zuzusehen, bedeutete für Juliano immer eine große Freude. Die zwanzig anwesenden Jungen und Mädchen im Alter von fünf bis acht Jahren teilten mit ihm und seiner im vierten Monat schwangeren Frau Susann die Leidenschaft für das Wing Chun. Jene chinesische Kampfkunst bildete die Grundlage für den Selbstbehauptungskurs, welcher in den Zeiten der ausklingenden Corona-Pandemie den Kleinen die Selbstsicherheit für ihren Alltag vermittelte.

Der Trainer erwischte sich bei einem verliebten Blick in Richtung seiner besseren Hälfte, deren Babybauch sich nun bereits leicht unter dem schwarzen T-Shirt mit den roten, aufgestickten Schriftzeichen abzeichnete. Ihre dunkle Haut, die langen, zu einem Zopf gebändigten, gekräuselten Haare und die trotz Schwangerschaft nach wie vor athletische Figur erinnerten ihn daran, warum er so verliebt blieb. Die strengen Gesichtszüge seiner Holden, denen er nun von der anderen Hallenseite gewahr wurde, gemahnten ihn allerdings, dass er im Begriff war, seinen Einsatz zu verpassen.
„Kinderdiebe!“, rief Juliano und lief ebenso wie Susann auf die jungen Kampfkünstler zu, die sofort ihr Spiel unterbrachen und zur Notausgangstür der Trainingshalle rannten.

Das taten alle Kinder. Alle bis auf den Jungen mit den schulterlangen, hellbraunen Haaren. Der Bursche plante, am kommenden Samstag seinen achten Geburtstag zu feiern, und gehörte zu den Schülern, die schon seit längerem im Kurs dabei waren. Anstatt sich gleich in Bewegung zu setzen, verharrte er zwischen seinen beiden Trainern. Als Juliano und Susann sich ihm näherten, rannte er in die entgegengesetzte Richtung der anderen Kinder und versuchte lachend, in einem großen Bogen an der Wand entlang doch noch zur verabredeten „sicheren Zone“ zu gelangen. Die Kampfkunstlehrerin hätte selbst ohne ihre erfreuliche Kugel kaum eine Chance gehabt, ihn einzuholen. Es kostete ebenso den Sohn italienischer Gastarbeiter einige Mühe, jedoch schaffte er es, den Racker, der auf den Namen Ingmar hörte, am linken Arm zu packen.
„Öööh!“, rief der Gefangene.
„Was rufen wir?!“, forderte sein Lehrer.
„Feuer! Feuer! Lassen Sie mich los!“, schrie der Junge, drehte seinen Arm hoch und löste mit der freien Hand schließlich gekonnt den festen Griff.

Während Ingmar mehr hopsend als laufend und mit einem dicken Grinsen zu den anderen Kindern gelangte, konnte der Wing Chun-Lehrer nicht verhehlen, dass ihn die Leistung des Jungen wieder einmal beeindruckte. In wenigen Monaten sollte er den Burschen in die Gruppe der Älteren einführen. Bis dahin galt es jedoch noch etwas zu klären.
„So, was hat Ingmar gerade richtig und was hat er falsch gemacht?“, fragte Juliano, während er und seine Frau zu den Wing Chun-Schülern traten.
Sofort schnellten neunzehn Finger nach oben.
„Marie.“
„Er hat sich gut befreit, ist aber nicht gleich in Sicherheit gelaufen. Darum wurde er auch gefangen.“
„Sehr richtig!“, lobte Susann.
Marie entsprach dem Musterbeispiel einer tollen Entwicklung. Der Trainer erinnerte sich noch gut daran, wie schüchtern das Mädchen bei seinem Probetraining gewesen war. Jetzt war sie, zusammen mit ihrer Freundin Lisa, die Beste in seiner Gruppe.
„Warum hast du das denn gemacht?“, fragte Juliano nun Ingmar direkt.
„Nur aus fun“, gab der Junge grinsend zurück. „Immerhin hätte ich es auch so fast geschafft.“
„Das ist aber nicht der richtige Weg“, erwiderte der Trainer. „Wir üben hier, eine Gefahr zu erkennen und ihr so schnell wie möglich zu entkommen. Das weißt du ja.“
„Jo“, witzelte Ingmar. „Aber das kann ich schon. Das ist langweilig. Ich mache es mir spannender.“
Der Wing Chun-Trainer versuchte ruhig zu bleiben.
„Kinder fordern uns heraus“, sagte er in Gedanken zu sich selbst. „Sich aufzuregen bringt nichts ...“
„Du hast recht, Ingmar“, entgegnete der stattdessen. „Es ist dadurch spannender. Bei einem echten Kinderdieb musst du jedoch sofort wegrennen, denn ...“
„Da tue ich das auch, bestimmt!“, unterbrach der Schüler.
„... denn wir verhalten uns immer eher so, wie wir üben“, beendete Juliano seinen Satz. „Jetzt geht es an die Pratze. Vorher sollen bitte alle noch etwas trinken.“

Die Kinder stürmten zu ihren mitgebrachten Wasserflaschen und Susann trat an ihren Mann heran.
„Du hast wirklich eine Engelsgeduld mit diesem Störenfried“, bemerkte sie. „Dabei erinnerst du mich irgendwie an Mister Miyagi.“
„Danke für das Lob“, seufzte der Wing Chun-Lehrer. „Wenn es nur endlich auch mal einen Effekt hätte. Es ist immer das Gleiche mit ihm. Ich hoffe, er versteht es irgendwann.“

Fortsetzung folgt in Kürze ...

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