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Kampfkunst Kurzgeschichten

Tigerkralle, Löwenzahn - Teil 1

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Fünf Tiere prägen neben Bruce Lee und Ip Man das Bild der chinesischen Kampfkünste in der westlichen Welt. Den Legenden nach haben die alten Meister ihre Kampftechniken von diesen Lebewesen abgeschaut. Da wäre zunächst einmal die Gottesanbeterin. Jenes Insekt, welches mit langen Fangarmen Beutetiere greift und an sich heranzieht. Ihr folgt der Affe, der mit Agilität Angriffen entkommt, um blitzschnell zu kontern. Der Kranich ist für Balance bekannt und ebenso dafür mit den Flügeln verheerende Schläge auszuführen. Die Schlange wiederum nutzt ihren ganzen Körper für den todbringenden Biss. Häufig als am machtvollsten gesehen, da er vom gefährlichsten der fünf Tiere stammt, ist der Tiger-Stil. Stärke und Entschlossenheit kennzeichnen diese Kampfesweise. Es gibt mehrere Spielarten des Kung Fu und anderer Kampfkunsttraditionen, welche sich als Tigerstil sehen oder den Tiger als Inspiration nutzen. Die bekannteste davon ist das Hei Hu Quan: der Kampfstil des schwarzen Tigers.

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Einer der erfahrensten Hei Hu Quan-Meister in Europa tritt in diesem Moment aus dem Haus. Seine Ohren nehmen den Gesang der Vögel wahr, während die Strahlen der bereits vollständig aufgegangenen Sonne die Bäume, Büsche und Grünfläche vor ihm mit einem goldenen Glanz überzieht. Der Mann mit einer Größe von 1,90 legt die Hände an die Seiten und beugt sich zunächst in alle Richtungen, ehe er die Hüfte mehrmals abwechselnd mit und gegen den Uhrzeigersinn kreisen lässt. Der volle graubraune Bart und die bereits etwas gelichteten Haare verraten dem aufmerksamen Beobachter, dass der Meister schon seit einiger Zeit sein fünfzigstes Lebensjahr überschritten hat. Fast vier Jahrzehnte davon bestimmt die Kampfkunst einen Großteil der freien Zeit im Leben des Mannes.

In den zerschlissenen und grün verfärbten einstmaligen Wanderschuhen begibt er sich zu einem kleinen Schuppen in der unmittelbaren Nähe seines Wohnhauses. Da dieser Morgen im späten Frühling auffällig warm und trocken ist, trägt er eine alte olivgrüne Bundeswehrhose und darüber ein an den Ärmel bereits ausgefranstes ehemals hellgraues Sweatshirt. Nur kurz verschwindet er in der winzigen Holzhütte und kommt sogleich mit blankem Metall daraus hervor.

Die Waffe, welche er trägt, ist nicht lang genug für einen Speer und scheint dennoch für gezielte Stöße gemacht zu sein. An ihrer Spitze gabeln zwei parallel verlaufende kurze Blätter, die in einen massiven Stiel übergehen. Gut einen Meter dahinter ist, gleich einer Parierstange, ein beidseitiger Griff angebracht. In der Verlängerung des Schafts findet sich eine schmalere Metallstange, die in eine kreisförmige Scheibe mündet.
In den vielen Jahren, in denen er sich bereits mit dem unbewaffneten und bewaffneten Nahkampf beschäftigt hat, sind unzählige fremdartige Kriegswerkzeuge durch seine Hände gegangen. Jenes besondere Stück befindet sich erst seit Kurzem im Besitz des Meisters. Während er den Schaft fest in der Rechten hält, tragen ihn die Füße mit Schritten, die eines Kriegers würdig sind, auf die Fläche. Sein Blick schweift umher und er fixiert die gelben Ziele auf dem Boden für den bevorstehenden Kampf. Dann schwingt er die Waffe.

Ein, zwei Mal lässt er sie über dem Kopf kreisen. Danach umfasst er mit der Rechten eine Seite der Griffstange und mit der Linken den metallenen Schaft. Mit der Entschlossenheit eines Kriegsherren stößt er die Spitze hinab in sein Ziel. Das Herz des Feindes ist getroffen. 180 Grad wendet er die Blätter mit dem Drehen der Griffe, wodurch der blanke Stahl die Arbeit verrichtet. Dann reist er die Waffe nach oben, an der nun große Teile des Opfers hängen und braunes Blut herab bröckelt.
Während er seine Beute betrachtet, legt er die Stirn in Falten.
„Verdammt!“, flucht er in Gedanken. „Nicht alles herausgegangen.“
Brummend pflückt er den ausgerissenen Löwenzahn von der Spitze des Unkrautstechers und wirft den ärgerlichen Bewuchs in den bereitstehenden Eimer, ehe er auf seine Knie hinabgleitet, um von Hand den Rest der Wurzel aus dem Erdreich zu holen.

Fortsetzung folgt ...
Stichworte: erfahrung, kung fu, tiger
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