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Kampfkunst Kurzgeschichten

Die Zerstörung der Bundesnotbremse

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In seinem kleinen Büro ging Rolf auf und ab. Dieser Freitagnachmittag gestaltete sich für ihn ausgesprochen frustrierend. Soeben hatte er die Auslegungshinweise des Gesundheitsamts zum neuen Infektionsschutzgesetz erhalten. Erneut erschien dies für den hauptberuflichen Tae Kwon Do-Lehrer ein klares Verbot zu sein, den geliebten Kampfsport mit anderen zu teilen. Dabei nutzte er bereits alle sich bietenden Möglichkeiten.
Die Kinder im Alter von 5 bis 13 Jahren durften sich auf Training im Freien und in Fünfergruppen freuen. Dass er dieses Training nur kontaktfrei durchziehen konnte, war zu verschmerzen. Ob seine Nasenschleimhaut die bis zu fünf Schnelltests pro Woche auf das tückische neue Corona-Virus lange mitmachen würde, musste sich noch zeigen. Zumindest wusste er nun immer ganz genau, dass er selbst niemanden anstecken konnte. Diese Sorge trieb Rolf bereits seit dem März 2020 um.

Seine Großtante Helga war kurz nach Weihnachten im Alter von 78 Jahren an COVID-19 verstorben. Ihr Tod muss furchtbar und einsam gewesen sein. Zur Beerdigung durfte der Kampfsport-Trainer nicht einmal kommen. Nur der engste Familienkreis nahm von der geliebten Verwandten Abschied.
Sein eigenes Immunsystem hielt der 46 Jahre alte Vater eines vierzehn Jahre alten Sohnes aus diesem Grund bewusst fit. Er duschte jeden Morgen kalt, ernährte sich gesund, war viel an der frischen Luft und aß nur zwischen 8 und 12 Uhr etwas. Das Intervallfasten überbrückte er mit Flüssigkeit in Form von Mineralwasser. Zweimal täglich gurgelte er außerdem jeweils 30 Sekunden mit Salzwasser. Vor drei Wochen erhielt Rolf zudem, dank seiner Frau, die erste Impfdosis. Ein Hoffnungsschimmer in dieser Zeit der Gefahren und Entbehrungen.

Der Tae Kwon Do-Sportler konnte mit Recht von sich behaupten, nicht zur Fraktion der Verschwörungstheoretiker und Corona-Leugner zu gehören. Lange bevor sie als Accessoire in Mode kam, gehörte die FFP2-Maske zu seiner festen Ausstattung. Seit Februar 2020 besuchte er nur noch eine befreundete Familie und hielt, abgesehen vom Training, zu jedem Mitmenschen einen Sicherheitsabstand außerhalb der Reichweite seiner Yop-Chagi [seitlichen Stoßtritte]. In den vergangenen 13 Monaten lernte Rolf die Bedeutung von Landesverordnungen und von den Allgemeinverfügungen seines Landkreises kennen. Er fand sich im Dschungel der Vorgaben und Verbote zurecht und zusammen mit seiner besseren Hälfte stets ein gute Lösung für sein Dojang [Kampfkunstschule].
Seine Frau, eine glücklicherweise zweifach geimpfte, jedoch kurz vor dem Burn-out stehende Krankenschwester einer COVID-19-Intensivstation, war ihm ohnehin eine wunderbare Stütze. Im Moment vermochte Rolf nicht sicher zu sagen, ob er ihr genug zurückgab. Zumindest managte er den Alltag des Sohnemanns, der seine Schule seit Dezember nicht mehr von innen gesehen hatte. Die gesamte Situation schien für den Tae Kwon Do-Lehrer maximal unerträglich und nun machte ein verunglücktes Bundesgesetz alles noch schlimmer.

„Zerstörung“ nannte es sein Sohn, wenn es einer Seite gelang, durch mit Fakten untermauerte Argumente die Position der Gegenseite vollständig zu widerlegen. Rolf hatte erwartet, dass Anfang dieser Woche ein Shitstorm biblischen Ausmaßes genau das vollbringen würde. Die Erwartung kam in ihm auf, als er den Wortlaut des Gesetzes einen Tag nach seiner Veröffentlichung gelesen hatte und seinen Augen nicht trauen wollte. Doch nichts dergleichen geschah. Der Protest erschien sehr verhalten. Das durfte so nicht bleiben.
Rolf atmete tief durch, während er ein letztes Mal aus dem Fenster in den blauen Himmel blickte. Wenige Schritte trugen ihn zu seinem Schreibtisch, auf dem der angeschaltete Laptop bereits wartete. Der Tae Kwon Do-Lehrer begann zu schreiben.

„Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Doktor Merkel,

mein Name ist Rolf Schmidt, ich bin hauptberuflicher Kampfsportlehrer und mit einer Intensivschwester verheiratet. Als Hinterbliebener einer Corona-Toten und Vater eines 14-Jährigen erlebe ich die Krise vielleicht etwas intensiver als viele Bürger. Ihre klare Haltung und der Entschluss, bundeseinheitlich zu handeln, um die Pandemie einzudämmen, wurde von mir begrüßt.
Mit großer Überraschung habe ich das überarbeitete Infektionsschutzgesetz, allgemein als „Bundesnotbremse“ bekannt, gelesen. Da ich mir nicht vorstellen kann, dass Ihnen alle Einzelheiten bewusst sind, möchte ich Sie heute auf eine Passage hinweisen. Diese kann so unmöglich in Ihrem Sinne gewesen sein und ist zudem weder verhältnismäßig, noch geeignet, um die Ausbreitung des Virus zu unterbinden.

Im „Vierten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021“ heißt es unter Artikel 1.6:

„die Ausübung von Sport ist nur zulässig in Form von kontaktloser Ausübung von Individualsportarten, die allein, zu zweit oder mit den Angehörigen des eigenen Hausstands ausgeübt werden“

Das Bundesgesetz verbietet damit ab einer dreitägigen Inzidenz von 100 oder mehr in einem Landkreis jeglichen Kontakt- und Mannschaftssport im Amateurbereich, unabhängig davon wo und mit wem dieser ausgeführt wird. Die Absurdität dieses Verbots wird manchem auf den ersten Blick nicht deutlich, wenn man hierfür keine Beispiele nennt. Ich liefere Ihnen diese heute gerne.
Sobald ich mit meinem Sohn in unserem Garten Kampfsport mit Kontakt übe, verstößt dies gegen den Wortlaut des Gesetzes! Das Gesetz nimmt hier nämlich gerade nicht Familienangehörige vom Kontaktsportverbot heraus.
Noch abstruser wird das Ganze, wenn man sich bewusst macht, dass nur Individualsportarten zugelassen sind und nicht etwa das individuelle Sporttreiben. Sollte mein Sohn also die Mannschaftssportart Fußball in unserem Garten alleine üben, verstößt auch dies gegen den Wortlaut des Gesetzes.
Sie mögen sich nun darauf berufen, dass wohl selbstverständlich sei, dass das nicht so gemeint wäre. Ich bedauere, Sie auf den Umstand hinweisen zu müssen, dass die Auslegung eines Gesetzes entgegen seinem Wortlaut in Deutschland nicht zulässig ist.

Wie ein derartiger Unsinn den Weg durch Bundestag und Bundesrat, bis hin zur Unterschrift durch den Bundespräsidenten, nehmen konnte, entsetzt mich. Dies ist insbesondere deshalb ärgerlich, da die Aerosolforscher und Experten für medizinische Hygiene uns mittlerweile sehr gute Handreichungen gegeben haben, um eine Ansteckung mit dem Corona-Virus zu verhindern.
Sport im Freien ist demnach bereits eine recht sichere Angelegenheit. Bei Kontaktsport sollte eine Mund-Nasen-Bedeckung getragen werden, um auch wirklich jegliches Restrisiko auszuschließen. Ich selbst habe etliche Sparringsrunden mit FFP2-Maske hinter mir. Das ist nicht immer angenehm, jedoch für den Eigenschutz und den Schutz der Mitmenschen sinnvoll. Ihr Gesetz schließt diese Möglichkeit jedoch aus.
Des Weiteren ist der Text sehr auslegungsbedürftig und sorgt in der Praxis bei den Beteiligten für erhebliche Rechtsunsicherheiten. Unser Landkreis hat deshalb entschieden, jede Form von organisiertem Sport für alle ab 14 Jahren zu untersagen. Auch wenn sich fünf Erwachsene weiträumig auf einem Fußballplatz verteilen und sich niemals näher als vier Meter kommen, ist so ein verabredetes Individualsporttraining im Moment bei uns nicht zulässig. Dass dies bei den Bürgern für Unverständnis und Verärgerung sorgt, sollte sofort klar werden.

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
ich ersuche Sie hiermit mit Nachdruck, das Bundesgesetz entweder umgehend zu überarbeiten oder wieder aufzuheben, bevor dies das Bundesverfassungsgericht tut, welches hierzu noch weit mehr Gründe geliefert bekommt.
Sorgen Sie stattdessen dafür, dass die Menschen sich regelmäßig testen lassen, sich an der frischen Luft treffen und beim Unterschreiten des Sicherheitsabstandes eine Maske tragen. Schnüren Sie ein Finanzpaket, das in der Pandemie die Löhne der vielen Kolleginnen meiner Frau erhöht, die aufgrund der Belastung ihren Beruf aufgegeben haben oder aufgeben wollen. Diese zu halten müsste nun Ihre vordringlichste Aufgabe sein. Sorgen Sie gleichzeitig dafür, dass in allen Bereichen Konzepte ermöglicht werden, um ein sicheres, öffentliches Leben zu gewährleisten. Wir haben in diesem Frühling 2021 die Möglichkeit für Outdoor-Veranstaltungen, Schnelltests sind flächendeckend verfügbar, sodass Erkrankte in Quarantäne geschickt werden können und sich die Verbleibenden weit weniger Sorgen um eine Ansteckung machen müssen. Es gibt sehr gute Luftreiniger für Innenräume und wir alle sind an Masken gewöhnt. Der sichere Betrieb von Schulen, Theatern und Geschäften muss auch möglich sein, wenn das RKI uns bestätigt, dass im Moment drei von 1000 Bürgern eines Landkreises das Virus aktiv in sich tragen (das entspräche in etwa einer Inzidenz von 300).

Hochachtungsvoll,
Rolf Schmidt“

Einen Moment zögerte der Kampfsportlehrer, die E-Mail zu verschicken, dann klickte er doch auf „senden“. Sein Smartphone fand den Weg in seine Hand. Schnell tippte er eine WhatsApp-Nachricht an alle Ü13-Schüler hinein, für die er extra eine eigene Gruppe eröffnet hatte. Hierzu gehörten auch der Ortspolizist und ein Anwalt, mit dem er heute noch seine Möglichkeiten für eine Klage beim Bundesverfassungsgericht besprechen wollte. Folgende Mitteilung ging an die Tae Kwon Do-Begeisterten:

„Ich bin ab 17 Uhr im Stadtpark und übe individuell Poomsae [Formen]. Jeder kann mir zuschauen. Ich trainiere langsam. Zugerufene Fragen beantworte ich.“

Rolf rechnete damit, dass er sicher ein gutes Dutzend bekannter Gesichter zu sehen bekäme. Sie würden aufeinander aufpassen und sich an die AHA-Regeln halten. Und dies musste auch so sein.

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Liebe Freunde der Kampfkunst,

ich freue mich auf Eure Kommentare zu dieser sehr aktuellen Kurzgeschichte. Übrigens: Der KKB-Blog hat eine Wertungsfunktion.

Bitte bleibt gesund.

Herzliche Grüße,

Euer Magister Scriptor

Aktualisiert: 28-07-2021 um 10:48 von Magister Scriptor (Der Name des Charakters lautet nun richtig Rolf Schmidt.)

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