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Kampfkunst Kurzgeschichten

Der siebte Kreis der Karate-Hölle - Teil 2

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Jeder Kampfkünstler kennt dieses Gefühl. Man rappelt sich auf, packt seine Trainingssachen und begibt sich zu den Räumlichkeiten, in denen der eigene Kampfstil betrieben wird. Doch die Motivation ist nicht da. Man wäre in der Lage sich 1000 Dinge vorzustellen, die man in diesem Moment mit größerer Freude erledigen würde. Eine innere Gewohnheit oder ein Pflichtgefühl treiben den Kampfkünstler dann an, sich dennoch auf den Weg zu begeben. Genauso erging es an jenem Mittwochabend Noah. Er setzte sich in den Bus zum Gemeindehaus und war schon zwanzig Minuten vor Trainingsbeginn da.

Nachdem er seinen Gi, den üblichen Karateanzug, samt schwarzem Gürtel angelegt hatte, wartete er auf die Kursteilnehmer. Die Zeit in dem kleinen Gymnastikraum vertrieb er sich mit einigen Fauststößen und Tritten in die Luft. Dann zeigte die große Digitaluhr an der Wand 18.57 und seine Hoffnung wuchs, dass heute niemand kommen würde.
„Grüezi“, klang da eine Frauenstimme von der Tür.
Es war Pia, der fleischgewordene Albtraum eines jeden Sensei, welche sich im Türrahmen verbeugte und strahlend den Gymnastikraum betrat.

Grundsätzlich war die brünette Pia nett. In jungen Jahren hatte sie vermutlich einmal eine ansprechende Figur gehabt. Aber ihre drei Kinder waren der Fünfundvierzigjährigen mittlerweile klar anzusehen. Vor ihrer Kinderpause war sie mal eine leidenschaftliche Kampfkünstlerin gewesen. Das lag zwar schon bald fünfzehn Jahre zurück, aber seit seiner letzten Vertretung wusste Noah, dass sich Pias Vergangenheit immer wieder Bahn brach. Pia hatte Wing Tschun* trainiert und stand nur im Karatetraining, weil sie etwas trainieren wollte und kein anderes passendes Angebot in der Nähe gefunden hatte. Das ließ sie regelmäßig jeden ungefragt wissen.
„Noch niemand da?“, fragte sie und lief freudestrahlend auf Noah zu. „Da bekomme ich ja hüt eine Privatlektion.“
Noah bemühte sich, daraufhin freundlich zu lächeln.

„Bin ich schon zu spät?“, fragte eine ältere Herrenstimme vom Türrahmen.
Das war Johann. Johann würde bald seinen 80. Geburtstag feiern und hatte eine neue Herausforderung gesucht. Noah schätzte, dass das korrekte und vollständige Anziehen des Gis als Herausforderung schon ausreichte. Heute war der kleine alte Herr mit den dicken Brillengläsern aber ordentlich gekleidet und hatte selbst den weißen Gürtel richtig herum gebunden.
„Nein, Du bist noch pünktlich“, sagte Noah. „Herzlich willkommen.“

Der junge Karate-Trainer war auf die Knie gesunken. Die traditionelle Begrüßungszeremonie verlangte es. Im selben Moment stürmte ein dunkelhaariger, großgewachsener und braungebrannter Mann in den Raum. Der Mann trug einen blauen Jogginganzug und Straßenschuhe.
„Buona sera!“, rief Luigi lautstark. „Verzeihung, ich habe Verkehr gefunden.“
Luigi war Inhaber der angesagtesten Pizzeria in der Stadt und alleine schon deshalb nicht häufig im Training. Bei ihm war sich Noah nicht sicher, ob es sich bei dem „Verkehr“ tatsächlich um einen Stau oder eher um eine attraktive Dame gehandelt hatte. Er versuchte dennoch, möglichst ruhig und gelassen zu bleiben.
„Schon gut“, sagte Noah. „Wir haben noch nicht angefangen. Zieh nur rasch Deinen Gi an und es kann losgehen.“
„Den habe ich leider nöd dabei. Ist das schlimm?“, fragte der Pizzabäcker unschuldig.
In passender Knieposition war Noah kurz davor seinen eigenen Kopf mehrfach kräftig auf den Boden zu schlagen.

* Hierbei sei das Augenmerk auf die Aussprache des Stils gelegt und nicht auf eine bestimmte Richtung oder Tradition.

Fortsetzung folgt …
Stichworte: karate, kata, training, unterricht
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Kommentare

  1. Benutzerbild von Reimeansrespect
    Der arme Kerl tut mir echt leid.