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Kampfkunst Kurzgeschichten

Der siebte Kreis der Karate-Hölle - Teil 4

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Noah finsterste Fantasien suchten nach einem schweren Kampfstab, mit dem er die drei Weißgurte hinaus auf die Straße prügeln könnte. Sein Schädel brummte. Pia und Johann waren sofort zu ihm gesprungen und halfen ihm wieder auf die Beine.
„Ich wiiss auch nöd, wie das passiere konnte“, sagte Johann aufgeregt. „Ich wollte es einfach nur zackig und haargenau machen.“
„Und dabei hast Du unseren Lehrer mit einem Block umgehaue“, sagte Luigi. „Hätte nicht gedacht, dass man einen Block so nutze kann.“

Eigentlich wollte Noah laut losschimpfen, aber etwas hielt ihn zurück. Das hatte er doch erst kürzlich gehört. Bei einem Seminar in Deutschland mit einem schwedischen Meister.
„Du hast recht“, sagte Noah nachdenklich. „Johann hat es zwar unbeabsichtigt getan, aber wirklich haargenau.“
Während er sich umblickte und in Gedanken wieder bei dem Seminar war, bemerkte er, dass die drei Karate-Schüler ihn erwartungsvoll ansahen.
„Wisst ihr eigentlich, wie Katas entstande sind?“, fragt er in die Runde.
„Es hat sie sich jemand ausgedacht, odr?“, sagte Pia.
„Joar und noin“, sagte Noah. „Es ist so eine Henne-und-Ei-Kiste. Erst war die Technik da, dann kam die Kata.“
Noah schwieg einen Moment und merkte mit Genugtuung, dass die drei Karatekas gebannt an seinen Lippen hingen.
„Stellt Euch vor Euch will jemand angreifen. Zum Beispiel packt jemand Euer Chnoche, um Euch zu Boden zu bringen. Luigi sei mal bitte so gut, greif min linke Chnoche.“
Luigi zuckte mit den Schultern und machte Anstalten nach dem Bein seines Trainers zu greifen. Sogleich schlug der tiefe Block mit dem linken Arm angedeutet wie ein Hammer gegen Luigis Schläfe. Der Pizzabäcker torkelte erschrocken zurück, wurde aber festgehalten. Noahs linke Hand ergriff das Handgelenk seines Sparringspartners und mit einem rechten Vorwärtsschritt folgte er diesem. Mit gebeugtem Ellenbogen stoppe Noah den Fauststoß wenige Zentimeter vor Luigis Kehle ab.
„Boah!“, sagte Luigi.
Pia atmete ein, um ebenfalls etwas zu sagen, doch Johann kam ihr zuvor.
„Wenn Du jetzt sagst, dass Du das beim Wing Tschun früher auch so gelernt hast, dann trete ich Dir auf die Quadratlatsche“, raunte er ihr leise zu und Pias Kiefer klappten wieder zusammen.

„Aber soll das nöd aigetli die Abwehr eines Tritts siin?“, fragte Luigi.
„Es kann alles siin, was Du darin siehst“, erklärte Noah. „Es ist eine Frage der Distanz. Unsere Hände arbeiten beim Karate als Gespann mitenand. Eine Bewegung leitet die nächste ein. In der Kata hängt alles zusammen. Man muss nur eine Idee davon haa, was man erreichen möchte.“
Ein Blick verriet ihm, dass alle drei jetzt bereit waren zu lernen.
„Wisst ihr, als die alten Meister in Okinawa mit der chinesischen Kampfkunst konfrontiert wo, haben sie die Techniken in der Anwendung geübt. Aber man wollte sie auch ohne Partner trainieren. Also schauten sie sich an, welche Anwendungsabläufe zusammenpassten und entwickelten daraus Katas zu bestimmten Themen. Das Geniale daran ist jedoch, dass nicht zwangsläufig jede Bewegung nur eine mögliche Anwendung hat, sondern in unterschiedlichen Situationen genutzt werden kann. Stellen wir uns also zunächst einmal vor, ich werde von einem Ringerangriff überrascht. Luigi, komm nochmal bitte langsam.“
Luigi tat, wie ihm geheißen.
„Dann greife ich direkt mit stabilem Stand und voller Wucht seine empfindliche Schläfe an. Gehen wir jetzt davon aus, dass er damit aus der Bahn geworfen wird und flüchtet, dann halte ich ihn mit meiner zurückgehenden Hand fest und überrenne ihn mit meinem Fauststoß.“
Während Noah das vormachte, nickten seine drei Schüler einmütig und anerkennend. Davon beflügelt dachte er laut weiter.
„Wenn das aber nicht ausgereicht hat, dann muss es ja für mich Möglichkeiten geben fortzusetzen. Was könnte das sein, wenn er den Chnoche umgreift und auf mich zudrückt?“
Luigi deutete diese Situation erneut langsam an.
„Vielleicht ein Schlag mit dem anderen Arm, odr?“, sagte Johann.
„Und Du solltest den Chnoche in Sicherheit bringen“, sagte Pia.
Noah nahm das Bein zurück und deutete gleichzeitig einen Schlag mit dem rechten Arm gegen Luigis Nacken an. Noahs linke Hand zog dabei an Luigis Ohr, was den Pizzabäcker zu einem spitzen Laut veranlasste. Alle mussten lachen.
„Das ist aber nicht sehr nett“, beschwerte sich Luigi.
„Das ist Selbstverteidigung“, sagte Noah. „Dafür wurde Karate ursprünglich entwickelt. Und so wurden auch die Katas gebaut.“
Noah machte die Bewegungskombination in die Luft vor und aus dem Bunkai-Training, wie so eine Entschlüsselung einer Kata genannt wird, wurde wieder eine Kata.
„Das ist jetzt zwar nöd mehr die Taikyoku Shodan, aber der innere Block war nun mal die Lösung des Problems und die freie Hand wird nicht einfach an der Hüfte geparkt, sondern hat in der Anwendung immer auch eine Aufgabe.“
Die Schüler hingen gebannt an seinen Lippen.
„Wollen wir mal versuchen für Euch eine eigene Kata zu bauen?“

Die restliche Zeit verging wie im Flug. Noah hatte gar nicht bemerkt, dass sie schon eine halbe Stunde überzogen hatten. Pia war es aufgefallen, da sie nach Hause musste. Nach dem Abgrüßen verabschiedeten sich alle drei Weißgurte einzeln von ihrem Vertretungstrainer.
„Das war der spannendste Unterricht, den ich jemals hatte“, sagte Johann.
„Das ging mir genauso“, sagte Pia.
„Mir hat es auch sehr viel Spaß mit Euch gemacht“, sagte Noah. „Mal sehen, wann sich ergibt das zu wiederholen.“
„Selma ist eine tolle Trainerin“, sagte Luigi. „Aber wenn sie je mal wieder keine Zeit hat, dann wäre es super, wenn Du einspringst.“
„Sehr gerne“, sagte Noah.

Alle waren gegangen und Noah hatte die Eingangstür zum Gemeindehaus abgeschlossen. Er lief hinaus auf den Vorplatz und wendete sich nach Norden. Dann stellte er seine Tasche ab und verbeugte sich.
„Danke, Sensei Jesse“, dachte er.
Während er seine Tasche aufnahm, entschloss er sich, diesem sympathischen Schweden bei Gelegenheit eine E-Mail zu schreiben. Jetzt ging es aber erst einmal nach Hause.
Noah war Karateka. Und das fühlte sich an diesem Abend richtig gut an.

Ende.
Stichworte: anwendungen, karate, kata, training
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Kommentare

  1. Benutzerbild von Gast
    Tolle Geschichte. Befürchte aber dass das hier in diesem Blog-Bereich etwas untergeht.
  2. Benutzerbild von Magister Scriptor
    Danke für das Lob! Ich werde mal einen Hinweis im Forum posten. Vielleicht findet sich so noch der eine oder andere Leser, der Spaß an der Geschichte hat.