Ganz interessant, was der Henry hier veröffentlicht hat, finde ich.
„Liebe WT Freunde,
nach meiner Mitteilung, mich von der "öffentlichen" WT Bühne zu verabschieden, möchte ich mich zunächst einmal bei Euch allen für die mitunter "ergreifende Anteilnahme" in Form der Kommentare, wie auch der persönlichen Kontaktaufnahmen bedanken.
Es hat mich doch überrascht, dass so viele Leute meine Facebook Seite besucht und mir zum Schluss alles Gute gwünscht haben. Vielen Dank dafür!!
Gleichzeitig weckt wohl meine Ankündigung, mit einem Anwendungskonzept im kleinen Kreis weitermachen zu wollen Interesse und es kamen etliche Fragen auf, was denn inhaltlich dahinter steckt. Das Ganze in wenigen Sätzen zu beschreiben, ist schwierig. Ich versuche es aber trotzdem einmal so komprimiert als möglich zu beantworten.
Das traditionnelle Wing Tsun mit seinen Formen, Programmen und Sektionen, ist ein in sich geschlossenenes Ausbildungskonzept, das es dem Schüler/Ausbilder ermöglichen soll, einen technischen Zugang zu diesem System zu bekommen. Dabei ist der Lerninhalt so definiert, dass sich die Partner gegenseitig in einem technischen Rahmen bewegen, um die Bewegungsformen so schnell als möglich zu erlernen. Vor allem das Chi-Sao, erfährt dabei eine besondere Aufmerksamkeit, dauert es aufgrund der zahlreichen sog. Sektionen relativ lange, bis man diese Fertigkeiten erworben hat. Die werbewirksamen Aussagen der "gefühlten" und dadurch überlegenen Reaktionsfähigkeit, erweckt den Anschein, dass man sich in einer Auseinandersetzung erfolgreich einen Vorteil verschaffen könnte und somit in der Lage sei, den Konflikt deshalb zu seinen Gunsten zu entscheiden.
Meiner Auffassung nach ist das technische Lernkonzept auf Grund seiner Ausrichtung aber so geprägt, dass sich im Laufe der Zeit, der WT Praktiker nur noch in seiner "inzüchtigen" Blase bewegt und den Blick für Realitäten immer mehr verliert. Man glaubt ideologischer Weise, dass die erlernten Fähigkeiten dem entsprechen, was im Chaos eines Kampfes erforderlich ist. In vielen Fällen ist aber weder methodisch, noch körperlich das Training so ausgelegt, dass es zu solchen Fähigkeiten führt. Wenn wir uns in den medialen Werbedarstellungen anschauen, wie das System präsentiert wird, hat es oft mit realistischen Gegebenheiten noch nicht einmal ansatzweise etwas zu tun. Da greift der Partner a) in einer niemals realistischen Geschwindigkeit an, b) technisch fast immer WT Typisch an, c) fast nie unkooperativ, weil immer demomäßig an, d) oftmals nur mit einer einzigen Aktion an, um dann zu Boden zu gehen, e) noch nicht einmal gespielt so agressiv an, wie es wahrscheinlich der Fall wäre usw..
Ein großer Teil der Programme, seien es Schüler- oder Ausbilderinhalte, sind eher "akademischer" Natur, die technische "Raffinessen" als besondere Errungenschaften deklarieren, die aber bei genauer Betrachtung niemals in einer wilden "Schlägerei" anwendbar wären. Sie dienen allgemein der Bewegungsertüchtigung, von der man ungeprüft hofft, dass sie bei Bedarf "schon irgendwie" klappen müssten. Des Weiteren "entwöhnt" man sich zukzessive vom visuellen "Kämpfen", da das Chi-Sao Training einen enormen Zeitaufwand benötigt, um etwas zu erlangen, das aber in Wirklichkeit kaum zum Tragen käme.
Somit ist in vielen Fällen der hochgraduierte Ausbilder zwar ein WT Spezialist, aber leider kein SV Experte!
Natürlich gibt es hervorragende Wing Tsun Trainer, die diese von mir angeprangerten Probleme auch immer schon im Blick hatten und deshalb trotzdem ein gutes Training bieten. Aber in der Breite dessen, was präsentiert wird, ist das eben nicht so.
Ich habe, gemeinsam mit meinem Schwiegersohn, der selbst vom Boxen und MMA (mit BJJ Inhalten) kommt, seit einigen Jahren offen und ohne "Ehrkäsigkeiten" verschiedene Elemente aus dem Wing Tsun, dem Escrima (waffenlos) und dem Boxen zu einer Einheit des visuellen Kämpfens zusammengestellt und wir sind auf unserem Weg sicher auch noch nicht ganz angekommen. Auch im Chi-Sao Bereich, habe ich einige wenige machbare Trainingsinhalte ausgesucht, die nichts mit kleinkariertem "siehste, da hätte ich Dich getroffen" zu tun haben.
Ziel war es, ein zunächst "Stand-Up" Konzept zu entwickeln, das nach und nach ein unkooperatives Miteinander möglich macht und zum Erfolg führen kann. Gleichzeitig nimmt es im Gegensatz zum "traditionellen Weg" wesentlich weniger Zeit in Anspruch, um sich einigermaßen behaupten zu können.
Ich verstehe mich selbst als jemand, der nach 36 Jahren Wing Tsun und über 30 Jahre als Schulleiter, der schon immer die Realität im Auge hatte (wer mich kennt, weiß das), sich nun so "reif" fühlt, Ballast abzuwerfen und die Inhalte zu verbinden, die als mögliche Selbstverteidigung ohne Schnick Schnack in 2 Jahren (je nach Aufwand) locker zu erlernen sind. Das ist mein letztes Unterfangen, auf das ich mich freue.
Henry Müller“