Steigende Verdoppelungszeiten - Wissenschaftlicher Unfug?
Dr. Florian Nill, Stand 09.04.2020
Der Begriff der Verdoppelungszeit T wurde in der Wissenschaft eigentlich erfunden, um strikt exponentielle Wachstumsprozesse I(t) zu beschreiben. In diesen Fällen ist die Verdoppelungszeit zeitlich unveränderlich und charakterisiert I(t) eindeutig bis auf einen konstanten Vorfaktor.
Nun werden wir in diesen Tagen von den Medien gerade überall mit täglich wachsenden Verdoppelungszeiten zu Covid-19 Statistiken überflutet, z.B.
https://www.deutschlandfunk.de/coron...icle_id=472799
https://www.sueddeutsche.de/wissen/c...uell-1.4844448 *
Dies wird mit der Erklärung verbunden, das exponentielle Wachstum verlangsame sich eben seit geraumer Zeit. Auf dieser Seite möchte ich darstellen,
dass auch lineares Wachstum als "verlangsamtes exponentielles Wachstum" verkleidet werden kann,
dass steigende Verdoppelungszeiten auch bei linearem Wachstum vorliegen,
dass hierfür die für exponentielles Wachstum gültige Formel falsche Zahlen liefert,
dass folglich diese Art von Beschreibung keinen wissenschaftlichen Mehrwert bringt.
Im Folgenden wird eine gewisse Vertrautheit im Umgang mit mathematischen Formeln vorausgesetzt. Eine kurze Einführung und Erläuterung des Unterschieds zwischen exponentiellem und linearem Wachstum werde ich in Kürze hier online stellen: Exponentielles vs. Lineares Wachstum - Eine Einführung für Einsteiger (in Vorbereitung)
Was bedeutet Verdoppelungszeit?
Wir bezeichnen mit I(t) die Summe aller gemeldeten Infizierten bis zum Tag t und definieren die Verdoppelungszeit T als die Zeitspanne, in der sich diese Zahl in der Zukunft verdoppelt haben wird
I(t+T) = 2 I(t) (1)
Im Allgemeinen ist nicht klar, wie diese Formel nach T aufzulösen ist. Und im Allgemeinen wird die Lösung auch eine zeitabhängige Verdoppelungszeit T(t) ergeben.
Verdoppelungszeiten bei exponentiellem Wachstum
Exponentielles Wachstum ist beschrieben durch die allgemeine Formel
I(t) = I0 Mt (2)
Hierbei ist I0 = I(0) der Initialwert und M der Step-Faktor, der sich als Quotient zweier aufeinander folgenden Werte von I(t) ergibt:
M = I(t) / I(t-1) (3)
Wenn wir die Gleichung (2) in (1) einsetzen, erhalten wir die folgende Beziehung zwischen M und T
MT = 2 (4)
Mithilfe des Logarithmus lässt sich diese Gleichung nach T auflösen
T = Log(2) / Log(M) (5)
Beispiel:
Bei einer Zuwachsrate von I(t) um täglich 30% gilt M = 1,3 und damit per Taschenrechner T = Log(2) / Log(1,3) ≈ 2,64 . Dieses Beispiel trifft in sehr guter Näherung auf die Situation in Deutschland bis ca. zum 20.03.2020 zu (s. Dashboard).
Verdoppelungszeiten bei linearem Wachstum
Lineares Wachstum liegt vor, wenn I(t) täglich um den gleichen Betrag A anwächst. Ausgehend vom Initialwert I0 = I(0) lautet die allgemeine Formel:
I(t) = I0 + At (6)
Durch Einsetzen in (1) verifiziert man leicht, dass hierfür die Verdoppelungszeit gegeben ist durch
T(t) = I0 /A + t (7)
d.h. die Verdoppelungszeit wächst ebenfalls linear. Man beachte, dass zudem beim linearen Wachstum die Zuwachsrate zur Zeit t+1 gerade dem Kehrwert 1/T(t) entspricht (Übungsaufgabe).
Beispiel:
Wir setzen I0 = 20.000 und A = 5.000. Damit ergibt sich tabellarisch folgende Zeitreihe für die Verdoppelungszeit T(t)
Tag t 0 1 2 3 4 5 6
Infizierte I(t) 20.000 25.000 30.000 35.000 40.000 45.000 50.000
Verdoppelungszeit T(t) 4 5 6 7 8 9 10
Ich denke, hier wird klar, dass die Auflistung der Verdoppelungszeiten bei linearem Wachstum keinerlei zusätzliche Informationen beibringt. Die Angabe der additiven Stepkonstanten A = 5.000 genügt vollständig, um die Datenreihe zu klassifizieren.
Verdoppelungszeiten bei unbekanntem Wachstum
Wenn man nun unbedingt auch einen unbekannten Wachstumsverlauf durch Verdoppelungszeiten beschreiben möchte, weil das in Zeiten von Epidemien eben jeder so macht, dann müsste man eigentlich zunächst den besten analytischen Ansatz für I(t) finden und daraus die Lösung von (1) bestimmen. Leider geht niemand so vor, weil alle Welt glaubt, die Formel (5) sei immer richtig, auch wenn gar keine Exponentialfunktion vorliegt (d.h. wenn der Step-Faktor M gar nicht konstant ist).
Um das Gegenteil zu beweisen, stellen wir uns jetzt mal dumm und behandeln das obige tabellarische Beispiel ohne weiter nachzudenken nach den Rechenvorschriften (3) und (5) für Exponentialkurven. Wir ergänzen die Tabelle also mit folgenden Werten
den fallenden Zuwachsraten pro Tag [I(t) - I(t-1)] / I(t-1) = M-1,
den ebenfalls fallenden Step-Faktoren I(t) / I(t-1) = M und
den daraus nach (5) berechneten angeblichen Verdoppelungszeiten Texp = Log(2) / Log (M)