Hallo,
welche Karate-Schulrichtung als „japanisch“ oder „okinawanisch“ eingeordnet wird, ist, wie ich oben schon schrieb, eine höchst persönliche, oft heuchlerische Angelegenheit. Heute dient so eine Einteilung vor allem monetären, politischen, seltener ideologischen Interessen.
G. Funakoshi (1868–1957) wurde beispielsweise im Königreich Ryūkyū geboren, lernte von ebenfalls dort geborenen Karate-Adepten und zog mit Mitte Fünfzig (d. h. als Okinawaner in der Mitte seines Lebens) nach Tōkyō, um dort sein Karate zu unterrichten. In Tōkyō war er in okinawanischen Kulturvereinen u. ä. aktiv. Seinen Karate-Schülern erklärte er geschichtliche und sprachliche Punkte Okinawas. Selbst der Name seiner Übungsstätte, Shōtōkan, erinnert an Okinawa. Trotzdem nahm er vor allem sprachliche und organisatorische Anpassungen (Dan-Kyū-System) vor, um sein „okinawanisches“ Karate in Tōkyō („japanische“ Hauptstadt) einbinden zu können. Er vertrat die Auffassung, dass Karate sich der Kultur des jeweiligen Orts bzw. Landes anpassen müsse, d. h. z. B. japanische Terminologie in Tōkyō, aber andere Sprachen in anderen Ländern. Dabei verändert sich der technische, taktische, inhaltliche Kern seines Karate nicht zwingend, nur die „Garnitur“ (Sprache, Etikette usw.). Wer anhand solcher Oberflächlichkeiten Unterscheidungslinien zieht, verfügt einfach über wenig Verständnis für Karate.
Tatsache ist, dass bereits Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre von okinawanischen Karate-Adepten von „weltweitem“ Karate geschrieben worden ist (vgl. dazu mein Higaonna-Buch, S. 16, 78, 114). Angesichts dessen wirkt das zwanghafte geografische Abgrenzen von heute mehr als kleingeistig.
Dennoch haben bestimmte Personengruppen starkes Interesse daran. Die Präfektur Okinawa unterstützt den Bau eines großen Karate-Zentrums in Okinawa („Okinawa Karate Kaikan“), zu dessen Eröffnung ein Buch mit geschichtlichen Hintergründen veröffentlicht werden soll. Vom Verleger wurde ich gebeten, einen Eintrag über G. Funakoshi zu verbessern bzw. umzuschreiben. Seine Vorgabe war allerdings, dass ich mich auf die Zeit in Okinawa konzentrire, nicht die Zeit ab 1922 in Tōkyō. Eine derartige Manipulation hat mich sehr „erstaunt“. So etwas ist leider Usus und auf diese Weise verfestigt sich in den Köpfen eine geografische Trennung zwischen Karate in Okinawa und Japan, die sich aber so überhaupt nicht rechtfertigen lässt …
Grüße,
Henning Wittwer