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...Eckele: Die besten Ergebnisse erhält man, wenn man den Tupfer durch die Nase bis zur Rachenwand führt. Das kann man nicht gut bei sich selbst machen, wenn man ehrlich ist – es ist einfach sehr unangenehm und das Risiko für Fehler ist groß. Im Moment gilt deshalb, dass nur qualifiziertes Personal die Tests durchführen sollte. Das könnte sich aber bald ändern. Es gibt mittlerweile Daten dazu, dass auch Selbstabstriche weiter vorne aus der Nase ähnlich gute Ergebnisse liefern können wie professionell durchgeführte Abstriche aus dem Nasen-Rachenraum (European Respiratory Journal: Lindner et al., 2020). Trotzdem besteht die Gefahr, dass ein Schnelltest in manchen Fällen nicht anschlägt, auch wenn die Person infektiös ist. Eben, weil die Tests nicht so sensitiv sind wie die PCR-Testung.
Zur Rolle von Kindern bei der Pandemie:
Eckerle:
Es gibt da inzwischen radikale Lager. Die einen sagen: Kinder spielen überhaupt keine Rolle, lasst sie in Ruhe. Und die anderen behaupten, Kinder seien Infektionstreiber und wir müssten die Schulen schließen. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen.
Ein großes Problem ist, dass die Studienlage nach wie vor sehr schwierig ist. Die Veröffentlichungen kommen aus Ländern mit ganz unterschiedlichen Inzidenzen. Zudem sind die Maßnahmen in den Schulen zum Zeitpunkt der Studien meist nicht vergleichbar. Es ist extrem schwer, aus dieser Flut an Daten etwas Allgemeingültiges abzulesen. Die gute Nachricht ist zumindest: Eltern müssen sich in den allermeisten Fällen keine Sorgen um die Gesundheit ihrer Kinder machen. Es gibt nur ganz selten schwere Verläufe oder gar Todesfälle, selbst bei Kindern mit Immundefekten oder Tumorerkrankungen. Und im Gegensatz zur Influenza zeichnet sich ab, dass Kinder bei Sars-CoV-2 wahrscheinlich nicht überrepräsentiert sind oder sie als eine Art verstecktes Reservoir dienen. Das gilt zumindest, wenn die Inzidenz niedrig ist. Dann gibt es auch in Betreuungseinrichtungen kaum Fälle (MedRxiv: Hoehl et al., 2020). Wie das bei den aktuell hohen Inzidenzen ist, ist allerdings weniger klar. Ein Grund mehr, die Fallzahlen zu senken.
Klar ist, dass ein infiziertes Kind prinzipiell Familienmitglieder anstecken kann. Die Vorstellung, dass Kinder das Virus ausbremsen und nicht weiter übertragen, finde ich abwegig. Die Viruslast ist auch bei kleineren Kindern vergleichbar mit Erwachsenen. Und vieles deutet darauf hin, dass Kinder auch ähnlich oft infiziert sind, aber wegen der fehlenden oder nur leichten Symptomatik nicht getestet werden: Einer aktuellen Studie zufolge, an der auch unser Labor mitgewirkt hat, hatten Kinder ab sechs Jahren im Kanton Genf in der zweiten Welle genauso oft Antikörper gegen Sars-CoV-2 im Blut wie Erwachsene. Die Frage ist also eher, zu welchem Ausmaß Kinder zur Viruszirkulation auf Bevölkerungsebene beitragen und welche Schutzmaßnahmen an Schulen effektiv sind. Dazu brauchen wir dringend Daten. Wir werden nächstes Jahr eine Studie starten, bei der wir jedes Mal, wenn es ein Infektionscluster in der Schule gibt, die ganze Klasse sowie deren Lehrer und Familien untersuchen, und hoffen, dadurch mehr Einblick zu gewinnen.
Man hat sich sehr lange an den Daten aus der ersten Welle festgehalten. Aber damals hatten wir eine ganz andere Situation. Das Virus wurde in Clustern vor allem durch Reisende eingetragen, recht bald kam dann der Lockdown. Die Kinder waren dann mit ihren Eltern zu Hause und sind wahrscheinlich am wenigsten von allen aus dem Haus gegangen, wo sie sich hätten anstecken können. Das war also eine ziemlich künstliche Situation, die uns nicht viele Erkenntnisse über die Kinder bringen konnte. Leider hat man es dann im Sommer vielerorts verpasst, Studien für den Herbst und Winter vorzubereiten. Vielleicht auch aus der Hoffnung heraus, dass Kinder eben auch bei einem stärkeren Infektionsgeschehen in der Bevölkerung keine Rolle spielen würden. Aber so war es dann leider nicht. Sie spiegeln mindestens das wider, was in der Gesellschaft passiert.
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ZEIT ONLINE: Sie sagen, man habe es verpasst, rechtzeitig Studien vorzubereiten. Was meinen Sie damit?
Eckerle: Wir haben an meinem Institut zum Beispiel recht früh Studienanträge eingereicht, aber die wurden anfangs alle abgelehnt, weil es hieß, Kinder spielen ja sowieso keine Rolle und das sei nur eine akademische Frage. Zumindest hier in der Schweiz hatte ich manchmal das Gefühl, dass man da gar nicht unbedingt hinschauen wollte.
ZEIT ONLINE: Insgesamt hat die Wissenschaft zu Sars-CoV-2 in nur einem Jahr so viele Daten zusammengetragen wie noch nie zuvor zu einem Thema. Wie viel verstehen wir inzwischen von dem, wie das neue Coronavirus tickt und wie es Menschen schadet?
Eckerle: Die Grundlagen sind schon ziemlich gut erforscht, zum Beispiel wie sich das Virus überträgt und in die menschlichen Zellen gelangt. Viele offene Fragen gibt es beim Thema Long-Covid, also wenn Menschen auch Monate nach teils leichten Verläufen noch Symptome haben: eine bleierne Erschöpfung, Muskel- und Gelenkschmerzen, aber auch viele andere Beschwerden, auf die sich Mediziner oft keinen Reim machen können. Wie viele Menschen betrifft das? Was sind Risikofaktoren für einen solchen langen Verlauf und kann man ihn verhindern? Auch zu den Effekten des Virus außerhalb der Atemwege ist noch vieles unklar, zum Beispiel wie genau es das Herz oder Hirn schädigen kann. Und bei der Therapie gab es ebenfalls noch keinen Durchbruch. Am besten ist noch Dexamethason, das die Immunreaktion auf das Virus abbremst, aber spezifische antivirale Medikamente stehen bisher nicht zur Verfügung. Dabei wäre es so wichtig, ein funktionierendes Medikament zu haben, weil es auch weiterhin schwere Covid-Verläufe geben wird. Etwa bei Menschen, die sich nicht impfen lassen können oder wollen.
Derzeit sind zwei Expertengruppen im Einsatz. Eine davon ist zusammengestellt von der WHO und eine vom Fachmagazin Lancet, der auch ich angehöre. Ziel ist zum Beispiel herauszufinden, ob der Markt in Wuhan wirklich Ausgangspunkt der Verbreitung war. Politisch ist das natürlich ein brisantes Unterfangen, weil es ja darum geht, von wo aus das Virus um die Welt zog, auch wenn an diesem "Überspringen" ja erst mal niemand schuld ist. Aber wir wollen auch dazu beitragen, künftige Pandemien zu verhindern. Etwa indem wir klären, wo auf der Welt welche Virusstämme zirkulieren. Und vor allem, welche aus der riesigen Vielfalt sich besonders lohnen zu beobachten, weil sie Kandidaten für ein Überspringen auf den Menschen sind.
Eckele: Jeder wusste, dass es passieren würde. Aber was es bedeutet, wenn ein neues Virus einmal um die Welt geht und einen vollkommen überrollt, das hätte ich mir so auch nicht vorstellen können. Vor allem die extreme Irrationalität, mit der man sich jeden Tag herumschlagen muss. Dass es so viele Menschen gibt, die die offensichtlichsten Dinge leugnen. Die selbst dann, wenn die Intensivstationen und die Leichenhallen voll sind, immer noch sagen, dass diese Menschen an etwas anderem sterben, dass es das Virus nicht gibt oder noch nie isoliert wurde. Und das, während unser ganzer Gefrierschrank im Institut voller Virusproben ist. Außerdem habe ich unterschätzt, wie sehr man die gesellschaftlichen Aspekte mit einbeziehen muss. Man kann die besten Tests haben, Masken oder eben eine wirksame Impfung. Aber das alles nützt einem nichts, wenn die Bevölkerung nicht mit im Boot ist.
ZEIT ONLINE: Bei manchen ist wohl auch der Eindruck entstanden, die Wissenschaft sei in vielen Fragen gespalten.
Eckerle: Der Eindruck ist falsch. Erschreckt haben mich allerdings einige Kollegen, die immer wieder konträre Einzelmeinungen laut in den Medien kundtun und dabei den wissenschaftlichen Konsens komplett ignorieren. Diese oft verharmlosenden Botschaften haben im Sommer viele nur allzu gern aufgenommen. Wie viel Zeit da für sinnlose Diskussionen verschwendet wurde. Zum Beispiel, ob wir nicht doch alle schon immun sind, ob es überhaupt exponentielles Wachstum gibt oder dass viele PCR-Tests falsch-positiv sind. Unter Expertinnen und Experten weltweit, die sich seit Jahren mit dem Thema befassen, gibt es solche Diskussionen schlicht nicht. Wir aber haben sie in der Öffentlichkeit geführt und darüber haben wir die Gelegenheit verpasst, zum Beispiel auf die Strategien anderer Länder zu schauen und von ihnen wirklich zu lernen.
Eckerle: Die Schweiz war in einer sehr guten Ausgangssituation. Kurz nachdem ich am 31. Dezember 2019 Gerüchte von einem neuen Coronavirus gehört hatte, schrieb ich Christian Drosten an, dessen Labor ja innerhalb von Tagen dann den ersten Test entwickelte. Dadurch haben wir in unserem Referenzlabor schon Mitte Januar die Diagnostik aufgebaut, lange bevor es Ende Februar die ersten Corona-Fälle hier gab. Wir hatten alles parat, um die Pandemie von Anfang an zu kontrollieren. In der ersten Welle lief es auch noch gut. Ich hatte das Gefühl, dass in der Bevölkerung alle an einem Strang gezogen haben. Und dabei gab es keinen besonders strengen Lockdown in der Schweiz, die Menschen hatten ziemlich viele Freiheiten.
ZEIT ONLINE: Wann lief es aus dem Ruder?
Eckerle: Im Sommer gab es über viele Wochen schweizweit nur eine Handvoll Fälle. Da hätte man konsequent ansetzen müssen. [/b]Gleichzeitig gab es aber kaum noch Schutzmaßnahmen, es gab zum Beispiel nicht mal mehr eine Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr. Jede einzelne Maßnahme wurde dann endlos diskutiert. Und die Verantwortung ging nach der ersten Welle wieder an die Kantone zurück, sodass ein Flickenteppich an Regeln entstand.[/b] Die Wahrnehmung war je nach Region sehr verschieden. In der Westschweiz, wo ich lebe, hatten wir schon seit Anfang November wieder härtere Maßnahmen, die jetzt aber schon wieder gelockert werden. Dagegen glaubten Kollegen in der Deutschschweiz, die in der ersten Welle nur wenig betroffen war, noch bis in den Herbst nicht an eine zweite Welle. Dort hat man gewartet und gewartet, auch als die Intensivmediziner schon längst warnten, dass die Betten voll sind. Insgesamt gibt die Schweiz zurzeit kein gutes Bild ab, was das Management der Pandemie betrifft.
ZEIT ONLINE: Haben Sie eine Erklärung dafür?
Eckerle: Man setzt hier sehr viel auf Eigenverantwortung. Und viele finden es gut, dass man noch so viel machen kann, zum Beispiel Skifahren. Aber Menschen, die in der Klinik arbeiten, sehen jeden Tag, was die Pandemie bedeutet: dass auch junge Menschen auf der Intensivstation sterben, wie ausgebrannt das Klinikpersonal ist, wie viele Ärztinnen und Pfleger selbst infiziert sind. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass viele immer noch stolz auf den Schweizer Weg sind. Menschen von außerhalb schütteln zunehmend den Kopf. Die Schweiz ist ein so reiches Land, man hätte es nicht so weit kommen lassen müssen.
ZEIT ONLINE: War der Einfluss der Wirtschaft stärker als jener der Wissenschaft?
Eckerle: Die Wissenschaft spielt hier aktuell für politische Entscheidungen praktisch keine Rolle. Zwar gibt es die Nationale Taskforce, und dann gibt es ein paar Wissenschaftler, die öffentlich ihre Meinung sagen. Aber ich habe den Eindruck, dass die Wissenschaft in Deutschland viel stärker angehört wird. Wirtschaftsverbände haben in der Schweiz eine große Lobby. Dabei haben selbst die Wirtschaftswissenschaftler immer wieder gesagt, dass harte Maßnahmen in der Bilanz besser sind. Es kann gut sein, dass wir mit den weniger harten Maßnahmen am Ende genauso hohe Kosten verursachen, aber zusätzlich eben Tausende Tote zu beklagen haben.
Eckerle: Meine größte Angst ist, dass wir anfangen zu impfen und im gleichen Moment alle Maßnahmen fallen lassen, sodass es zu einer dritten oder vierten Welle kommt. Ich wünsche mir, dass nach dem Winter die meisten so sensibilisiert sind, dass wir diese Übergangsphase gut hinkriegen – auch wenn sie sich noch über das nächste Jahr ziehen sollte. Ich hoffe, dass die Menschen diese Geduld noch aufbringen können. Und ich bin sicher, dass es im Frühjahr, wenn es wärmer wird und die Leute wieder rausgehen können, auch wieder leichter wird.