Zitat:
...Wer eine sinnvolle Handlungsempfehlung für den Herbst schreiben will, muss zunächst einmal die Unterschiede zwischen erster und zweiter Welle verstehen. Die erste Welle entstand bei uns, als das Virus eingeschleppt wurde, durch Skifahrer und andere Reisende, die es zunächst vor allem in ihrer eigenen Altersgruppe verbreitet haben. Es folgte die Ausbreitung bei den Alten, insbesondere in Altenheimen und Pflegeeinrichtungen. Dann gelang es schon, die exponentielle Verbreitung des Virus zu kontrollieren und damit die erste Welle zu stoppen, ohne dass es sich breit verteilt hätte. Auf diesem Erfolg dürfen wir uns nicht ausruhen. Wir müssen mit der Zunahme unseres Wissens über den Erreger unsere Konzepte überarbeiten. Und wir müssen uns vor allem darauf einstellen, dass die zweite Welle eine ganz andere Dynamik haben wird. Während das Virus mit der ersten Welle in die Bevölkerung eingedrungen ist, wird es sich mit der zweiten Welle aus der Bevölkerung heraus verbreiten. Denn in der Zwischenzeit hat es sich immer gleichmäßiger verteilt, über die sozialen Schichten und die Alterskohorten hinweg. Und nach der Urlaubssaison werden wir beobachten, dass sich die Neuansteckungen auch in geografischer Hinsicht gleichmäßiger verteilen werden als bisher.
Das alles hat Konsequenzen für die Verfolgung: Waren bisher die meisten Infektionsketten nachvollziehbar, können neue Fälle bald überall gleichzeitig auftreten, in allen Landkreisen, in allen Altersgruppen. Dann sind die personell schlecht ausgestatteten Gesundheitsämter endgültig damit überfordert, die Quarantäne jeder einzelnen Kontaktperson zu regeln. Viele von ihnen haben schon in der ersten Welle vor dieser Aufgabe kapituliert.
Aber sind wir der zweiten Welle deshalb schutzlos ausgeliefert? Nein. Denn die Verbreitung ist bei genauem Hinsehen nicht homogen, und das kann man sich zunutze machen. Infektionswissenschaftler beobachten eine überraschend ungleiche Verteilung der Infektionshäufigkeit pro Patient. Die Reproduktionszahl R bildet dabei nur einen Durchschnitt ab. Nehmen wir einen R-Wert von zwei als Beispiel, dann infiziert jeder Patient zwei weitere. Allerdings nur im Mittel. In unserem Beispiel stecken neun von zehn Patienten jeweils nur einen anderen an, aber einer der zehn infiziert gleich elf weitere. In der Summe haben dann zehn Patienten zwanzig Folgefälle verursacht. Stellen wir uns die zehn Infizierten nicht gleichzeitig vor, sondern nacheinander, dann haben wir eine Infektionskette. Neun der zehn Fälle in dieser Kette sind Einzelüberträger, sie spielen für die exponentielle Ausbreitung des Erregers keine Rolle. Bei einem der zehn kommt es zu einer Mehrfachübertragung, zu einem Cluster. Während bei Einzelübertragungen die Kette mitunter abreißt, können aus einem Cluster mehrere neue Ketten starten. Das bedeutet exponentielles Wachstum.
Es kommt also auf die Cluster an. Sie treiben die Epidemie. Auf sie müssen die Behörden ihre Kräfte konzentrieren, wenn die zweite Welle an vielen Stellen gleichzeitig beginnt. Wie funktioniert das?
Es hilft ein Blick nach Japan. Das Land warnte seine Bürger frühzeitig vor großen Menschenansammlungen, geschlossenen Räumen und engem Kontakt. Wie anderswo in Asien sind Masken weit akzeptiert. Statt viel und ungezielt zu testen, hat Japan früh darauf gesetzt, Übertragungscluster zu unterbinden. Dazu hat das Land offizielle Listen von typischen sozialen Situationen erstellt, in denen Übertragungscluster entstehen, und sie öffentlich bekannt gemacht. Die Gesundheitsbehörden suchen in der Kontakthistorie eines erkannten Falls gezielt nach bekannten Clusterrisiken.
Die gezielte Eindämmung von Clustern ist anscheinend wichtiger als das Auffinden von Einzelfällen durch breite Testung. Japan gelang es, die erste Welle trotz einer erheblichen Zahl importierter Infektionen ohne einen Lockdown zu beherrschen.
Ich plädiere nun dafür, im Fall der Überlastung nur (oder zumindest vor allem) dann mit behördlichen Maßnahmen auf einen positiven Test zu reagieren, wenn er von einem möglichen Clustermitglied stammt. Die vielen Tests, die die Politik derzeit vorbereitet, werden bald öfter positiv ausfallen und die Gesundheitsämter dann überfordern – schließlich kann man das Virus ja nicht wegtesten, man muss auf positive Tests auch reagieren. ...usw.