Doch die Tatsache bleibt bestehen, daß auch die jüdischen Übersetzer bei der Unterscheidung der verschiedenen hebräischen Wurzeln nicht immer einer Meinung waren.
Don Isaac Abravanel und andere heben hervor, daß „ratsah“ ["morden"] im 4. Buch Moses (35, 27-30) gebraucht wurde, wo es um einen berechtigten Fall von Blutrache und um die Todesstrafe geht – beides fällt nicht unter die Kategorie von „morden“.
Auch einige bedeutende jüdische Philosophen waren der Überzeugung, daß „Du sollst nicht töten“ eine exakte Übersetzung des Sechsten Gebotes ist. Maimonides (Rabbi Moshe ben Maimon) beispielsweise schrieb, daß sich bei der Tötung eines Menschen in jedem Fall um eine Verletzung des Gebotes handelt, auch dann wenn mildernde Umstände die Übertretung gegenstandslos machen. Manche haben behauptet, daß diese Tradition der faktischen Aufhebung der Todesstrafe im rabbinischen Gesetz zugrunde liegt.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet, fällt es uns nicht schwer, einzugestehen, daß „Du sollst nicht töten“ nicht einfach nur das Ergebnis von Unwissenheit auf Seiten von Hieronymus oder der Übersetzer der King-James-Bibel ist. Sondern daß sich darin die legitime Entscheidung ausdrückt, die ganze Skala möglicher Bedeutungen der hebräischen Wurzel abzudecken.
Wie so oft lehrt uns eine genauere Untersuchung, daß das, was zunächst lachhaft offenkundig ist, in Wahrheit viel komplexer ist, als es beim ersten Blick zu sein scheint. Wir müssen sehr vorsichtig sein, bevor wir über einen scheinbaren Patzer ein voreiliges Urteil fällen.