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...Die interessante Frage sei nun, was der Gesetzgeber darüber hinaus noch verankern wolle. "Er könnte festlegen, nach welchen Kriterien die Entscheidungen getroffen werden sollen. Die letzte Verantwortung für die Beurteilung der konkreten medizinischen Situation liegt dann aber wieder bei den Ärztinnen und Ärzten. Dieser professionelle Entscheidungsspielraum lässt sich nicht eliminieren", sagt Marckmann.
Stefan Kluge sieht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts positiv. Als Direktor der Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) hofft er so auf mehr Rechtssicherheit für alle. "Die Vorgaben der Divi sind nicht verpflichtend oder bindend. Deshalb ist es zu begrüßen, wenn der Gesetzgeber klare Vorgaben macht", sagt Kluge. Auch für Ärztinnen und Ärzte würden Triageentscheidungen enormen psychischen Druck bedeuten.
Georg Marckmann ist Medizinethiker, Mitautor der Leitlinien – und verteidigt sie. Bei einer Triageentscheidung sei nur die Überlebenswahrscheinlichkeit bedingt durch die aktuelle Erkrankung relevant, sagt Marckmann. "Nicht die verbleibende Lebenserwartung und auch nicht die verbleibende Lebensqualität. Auch Begleiterkrankungen sind irrelevant, wenn sie die Überlebenswahrscheinlichkeit der aktuellen Krankheit nicht negativ beeinflussen. Eine Behinderung oder eine chronische Erkrankung sind kein Grund, jemanden zu benachteiligen." Doch darüber, ob eine Begleiterkrankung die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Patienten beeinflussen könnte, darüber würden in einer Triagesituation am Ende Ärztinnen und Ärzte urteilen.
Und genau darin sieht das Bundesverfassungsgericht ein "Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderung". So steht es im Beschluss. Die Befürchtung: Entscheider in der Klinik könnten Behinderungen "pauschal mit Komorbiditäten in Verbindung bringen" oder "stereotyp mit schlechten Genesungsaussichten" verbinden.
Marckmann kann diese Punkte nur eingeschränkt nachvollziehen. Natürlich könnte sich eine Benachteiligung für Menschen mit Behinderung oder Vorerkrankung ergeben, wenn "die Empfehlungen in der Praxis nicht angemessen befolgt werden". Die Wahrscheinlichkeit sei allerdings angesichts der Handlungsempfehlungen der Divi, des Mehraugenprinzips und der Vorgaben zur Dokumentation der Entscheidung sehr gering. "Offenbar haben die Richter hier wenig Vertrauen in die ärztlichen Entscheidungen gehabt."
Ein wichtiger Teil der Divi-Leitlinie sei ja bereits das Mehraugenprinzip, das das Bundesverfassungsgericht jetzt vorschlägt: Kein Arzt allein sollte darüber urteilen, welcher Patient intensivmedizinisch behandelt wird. "Auch wenn im unwahrscheinlichen Fall ein einzelner Arzt ein pauschales Urteil fällen würde, nach dem Menschen mit Behinderung immer eine schlechtere Prognose haben, gäbe es nach dem Mehraugenprinzip dann andere, die gegenhalten und feststellen: Es geht hier nur um die Wahrscheinlichkeit, ob der Patient die aktuelle Erkrankung, zum Beispiel die Corona-Infektion, tatsächlich überleben wird", sagt Marckmann. Außerdem sei wichtig, die Entscheidungen über eine Priorisierung genau zu dokumentieren – sowie eine entsprechende Weiterbildung für Intensivmedizinerinnen und Fachpfleger....Falls es zu einer Triagesituation kommen sollte, was Kluge in Hamburg für unwahrscheinlich hält, hofft er auf ein "medizinisch nachvollziehbares Gesetz". Ähnlich wie Georg Marckmann wäre auch Kluge nicht überrascht, wenn jenes am Ende große Ähnlichkeiten mit der vorhandenen Leitlinie habe.
Doch wie schnell kann ein Gesetz erlassen werden – oder eine andere Regelung getroffen werden? Die Verfassungsrichter lassen hier großen Spielraum: Der Gesetzgeber kann die Kriterien, wie im Triagefall entschieden werden muss, selbst definieren oder ein Verfahren anstoßen, in dessen Verlauf sich Ärzteschaft und Betroffene einigen. Karlsruhe schlägt spezifische Vorgaben zu Aus- und Weiterbildung in der Medizin und Pflege vor, um Diskriminierung vorzubeugen. Grundsätzlich sollte ein Mehraugenprinzip bei Triageentscheidungen gelten, die Dokumentation deutlich verbessert werden. ...