2.
In Australien und Neuseeland ist im Moment Sommer. Auch in Europa sind die Infektionszahlen im April letzten Jahres stark zurückgegangen und im Juli war das Infektionsgeschehen in ganz Europa weitestgehend unter Kontrolle. Zeitgleich gab
es im Juli in Australien zu Beginn des dortigen Winters trotz aller restriktiven Maßnahmen eine zweite Welle. Das Infektionsgeschehen von COVID-19 ist bekannterweise stark saisonal.
3. Die Bevölkerungsdichte von Australien beträgt ca. 3,3 Einwohner/Quadratkilometer. In Deutschland beträgt der Wert ca. 230 Einwohner/Quadratkilometer. 89% der australischen Bevölkerung konzentriert sich auf einige wenige Metropolen.
Somit hat
Australien eine ganz andere Siedlungsstruktur als Deutschland.
Problematisch an dem Papier ist darüber hinaus die Annahme, dass gleiche Maßnahmen auch gleich wirken, d.h.
eine Übertragbarkeit auf andere Populationen und andere geographische Topologien möglich ist. Die Gültigkeit dieser Annahme ist jedoch zweifelhaft. Schon innerhalb von Deutschland lässt sich statistisch belegen, dass Lockdown-Maßnahmen lokal ganz unterschiedliche Wirkungen zeigen. Statt einer zweifelhaften globalen oder europaweiten Strategie erscheint daher eine lokale Betrachtung
von Wirkung und Wirksamkeit von Maßnahmen deutlich zwingender geboten.
Es ist somit fraglich, ob das angestrebte Ziel von zunächst 10 Neuinfektionen und dann eine weitere Absenkung auf Null überhaupt europaweit erreichbar ist. Das gilt insbesondere dann, wenn Grenzschließungen, wie die Autoren vorschlagen, vermieden werden sollen.
Die Gefahr ist groß, dass mit diesem Vorgehen aus der bisherigen Lockdown-Strategie ein dauerhafter massiver Lockdown wird.
Das Papier formuliert: “Die aktuellen Zahlen des RKI zeigen seit Wochen, dass der aktuelle Lockdown nicht ausreichend wirksam ist, um die Pandemie in einer absehbaren Zeit nachhaltig zu kontrollieren”. Hier ist herauszustellen, dass die Anzahl von Neuinfektionen seit Mitte Dezember in den meisten Bundesländern rückläufig ist. Die Behauptung des Papiers, dass diese Reduktion ohne eine NO-COVID Strategie nicht nachhaltig sei, ist rein hypothetisch und nicht empirisch untermauert.
Die Ausarbeitung der Kolleginnen und Kollegen endet mit eine langen Liste an Mythen, die, so der Tenor des Artikels, nur durch eine NO-COVID Strategie ausgeräumt werden können.
Auch die Aussage “Wir können die vulnerablen Gruppen schützen” wird als “Mythos” disqualifiziert. Auch wenn sich eklatante Schwachstellen beim Schutz der vulnerablen Bevölkerung gezeigt haben, so muss dem angeblichen Mythos entgegengehalten werden, dass jüngste Zahlen in Bayern einen deutlichen Rückgang von Ausbrüchen in Alten- und Pflegeheimen zeigen. Darüber hinaus stehen seit Dezember Impfungen zur Verfügung. Die Rolle der Impfung in der Bekämpfung der COVID-Epidemie wird von den Autoren in ihrer Ausarbeitung als eher untergeordnet angesehen. Insgesamt sehen wir eine Argumentation und Rechtfertigung der NO-COVID Strategie durch die Diskreditierung wesentlicher Themen der öffentlichen Diskussion als “Mythen” als unwissenschaftlich an.
Schließlich soll eine wichtige Maxime des Handelns aus den Lebenswissenschaften nicht unerwähnt bleiben. Sieht man Maßnahmen wie NO-COVID, aber auch schon Lockdown und Quarantäne, als aktive medizinische Interventionen an (nicht umsonst spricht man von nicht-pharmazeutischen Interventionen), so muss der Jahrhunderte alte Grundsatz Primum non nocere (‚in erster Linie nicht schaden‘) Berücksichtigung finden.
Jede aktive Maßnahme muss an allererster Stelle sicherstellen, dass sie nicht schadet. Schadet eine Maßnahme doch, ist die Verhältnismäßigkeit sicherzustellen. Das bedeutet, dass eine sorgfältige Kosten-Nutzen Abwägung unumgänglich ist, in der sowohl Kosten als auch der Nutzen berücksichtigt werden muss, wie wahrscheinlich das eine und das andere realisiert werden kann.
Dabei reicht es nicht, eine aktive Maßnahme durch erhofften aber unbelegten Nutzen oder gar durch Alternativlosigkeit zu begründen, wie es das Papier NO-COVID verfolgt, das sich zur Kosten-Nutzen-Abwägung nur mit Andeutungen äußert.
Vor dem Hintergrund des Unwissens und der nicht erfolgten Kosten-Nutzen-Abwägung sind aus statistisch-epidemiologischer Sicht, aber auch aus medizin-ethischer Sicht etliche der in der Ausarbeitung geplanten Maßnahmen als überaus kritisch zu bewerten.
Es ist unbestritten, dass eine Reduktion der Infektionszahlen erstrebenswert ist. Bei aller Kritik liefert das Papier durchaus Anregung zum Gedankenaustausch und der Vergleich mit Australien und Neuseeland offenbart auch neue Erkenntnisse. Beispielsweise testet Australien derzeit fast dreimal so viel wie Deutschland (ca. 1400 Tests/100.000 Einwohner in Australien versus ca. 550 Tests/100.000 Einwohner in Deutschland).
Ist also eine Erhöhung der Testzahlen ein Schlüssel zur Kontrolle von COVID-19? Zweifelsfrei hängen Dunkelziffer und Testgeschehen eng zusammen.
4 siehe CODAG Bericht Nummer 7:
https://www.covid19.statistik.uni-mu..._bericht_7.pdf