Zitat:
Allgemeine Impfpflicht – ein kleiner Piks, ein großes verfassungsrechtliches Problem
Zitat:
Ute Sacksofsky
Prof. Dr. Ute Sacksofsky, M.P.A (Harvard), ist Professorin für Öffentliches Recht und Rechtsvergleichung an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Zitat:
Je erschöpfter wir sind, desto dringender ist der Wunsch nach einem Wundermittel, das der Pandemie ein Ende bereitet. Die Impfung scheint als ein solches Heilsversprechen: Wenn nur alle mitmachen würden und sich impfen ließen, wäre es mit der Pandemie bald vorbei. Doch es machen nicht alle mit. Sollte man sie dann nicht dazu zwingen dürfen? Überwiegt nicht das gemeinschaftliche Interesse an der Pandemiebekämpfung das subjektive Interesse der Einzelnen an der „Impfverweigerung“? Am Rande sei bemerkt: Schon die Bezeichnung als „Impfverweigerer“ impliziert eine zumindest moralische Impfverpflichtung, denn verweigern kann man nur, was man eigentlich schuldig ist. Von moralischen Pflichten handelt dieser Beitrag freilich nicht, sondern es geht um die Frage einer in Recht gegossenen Impfpflicht. In der Politik wird eine solche Impfpflicht immer entschiedener gefordert. Doch hat eine solche in der derzeitigen Situation auch aus verfassungsrechtlicher Perspektive Bestand?
Zitat:
Der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit durch eine Impfung erscheint vielen Menschen als unwesentlich: ein kleiner Piks in den Oberarm. Die Nebenfolgen der Impfung sind weit überwiegend allenfalls minimal. Aus „objektiver Sicht“, d.h. dem bei Juristen beliebten „verständigen Dritten“, könnte daher die Intensität des Grundrechtseingriffs als gering einzustufen sein. Doch eine solche Blickweise trägt nicht. Grundrechte schützen Freiheiten individueller Menschen. Entscheidend ist also die Wahrnehmung derer, die das Grundrecht in Anspruch nehmen. Es geht nicht um eine „objektive“ Beurteilung des Grundrechtseingriffs – die in Wahrheit immer die des Mainstreams ist –, sondern für Grundrechte kommt es auf das Selbstverständnis der Betroffenen an, welches allenfalls einer Plausibilitätskontrolle unterzogen werden kann. Für die Religionsfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht dies mit großer Klarheit herausgestellt, aber dies gilt für alle Freiheitsrechte.
Für die Ablehnung einer Impfung kann es viele Gründe geben. Dazu mögen auch Gründe, die mit dem Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit nichts zu tun haben, wie etwa Wut auf „das System“ oder wirre Verschwörungserzählungen gehören. Es gibt aber auch Menschen, die der festen Überzeugung sind, dass Ihnen die Impfung gesundheitlich schadet. Aus der Perspektive solcher Betroffener ist die Impfung eben nicht eine lästige Bagatelle, sondern erscheint vergleichbar der Zuführung von Schadstoffen oder gar einem Gift. Eine solche Sichtweise mag vielen als absurd erscheinen, aber Grundrechte dienen eben gerade dem Schutz von Minderheiten. Dies gilt zumal, als inzwischen der enge Zusammenhang von psychischer und physischer Gesundheit bekannt ist. Die Eingriffsintensität ist also als äußerst hoch einzustufen.
Zitat:
Politisch gefordert wird eine Impfpflicht, aber kein „Impfzwang“. Die Impfpflicht soll also nicht zwangsweise durchgesetzt werden, sondern lediglich das Nicht-Befolgen der Pflicht durch eine Geldbuße sanktioniert werden. Man könnte daraus folgern, dass die Eingriffsintensität geringer einzustufen ist, weil ein zwangsweiser Eingriff nicht erfolgen wird. Eine solche Argumentation geht fehl. Es ist die Sichtweise der Ökonomen, Rechtspflichten nicht als Pflicht zur Befolgung aufzufassen, sondern den Nutzen (eines Verstoßes) gegen die Kosten (also die Sanktion) abzuwägen. Eine solche Sichtweise ist für das Recht allerdings äußerst bedenklich, denn es gibt sich damit selbst auf. Das Rechtssystem muss davon ausgehen, dass Rechtspflichten auch als Verpflichtungen gesehen werden. Möglicherweise verzichtet das Rechtssystem in bestimmten Konstellationen auf eine zwangsweise Durchsetzung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit, aber das kann nicht von vornherein „eingepreist“ werden. Freikaufen ist kein rechtsstaatliches Prinzip. Ganz abgesehen von dem diskriminierenden Effekt, den die Möglichkeit des Freikaufens mit sich bringt: Für diejenigen, die sich eine Geldbuße nicht leisten können, wird die Impfpflicht eben doch zum Zwang.
https://verfassungsblog.de/allgemein...iches-problem/
Ich habe nur ein paar Punkte zitiert, aber da steht noch mehr. Den Punkt mit dem "Freikaufen" finde ich übrigens sehr eindrücklich.
Gruß
Alef