Ganz vorneweg:
Ich will hier in dem Thread keinerlei WERTENDE Vergleiche mit anderen KKs anstellen.
Das führt nur wieder zum üblichen und auch berechtigten Streit.
Was ich jedoch ausdrücklich wünsche, ist das auf Techniken und Kampfebenen eingegangen wird, allerdings OHNE in ein „das ist besser als das“ zu verfallen. Eine nüchterne Darstellung der Sichtweisen ist mir am liebsten, was dann erfolgversprechender ist, kann jeder Leser selbst entscheiden.
Ich platziere den Thread auch NICHT im WingTsun-Forum, weil viele der Kritiker, an die dies primär gerichtet ist, dort gar nicht vorbeischauen…
Ich rede hier auch NICHT von allen *ing *ungs, denn die kann hier wohl aufgrund der Vielfalt der Stile keiner tun. Ich rede hier ausschließlich vom Leung Ting WingTsun, wie es hier in Deutschland durch die EWTO verbreitet wird. Die EWTO hat europaweit an über 2.000 Schulen Lizenzen vergeben und hat damit weit über 50.000 Mitglieder in ganz Europa.
Bitte nicht so was wie „im Wing Chun“ ist es aber anders… Mich interessieren keine historischen Hintergründe oder Äußerungen, WT sei nur ein „Bastard“, o.ä.
In den KK-Foren polarisiert wenig mehr, als die ewige Auseinandersetzung über WT, die in meine Augen von BEIDEN Seiten mit wenig Sachverstand geführt wird.
Ich möchte hier vordergründig SV-relevante Techniken behandeln, und keine Techniken aus Wettkampfsportarten, die dort aufgrund der geltenden Regeln effektiv sind, einer SV-Situation aber nicht gerecht werden. Dazu werde ich bald auch einen Thread machen, denn der Unterschied zwischen Dojo/Wettkämpfen und Straße ist hier sehr vielen noch unklar… WT dient ausschließlich der Selbstverteidigung.
Im Folgenden führe ich einige weit verbreitete Gerüchte/Aussagen an, die ich danach aus meiner EIGENEN, ganz PERSÖNLICHEN Sicht darstelle.
Ich höre schon wieder Kommentare wie „hat dich die EWTO dafür bezahlt?“. Bitte, einfach sein lassen…
WT ist „die Beste“ Selbstverteidigung
Diese Behauptung habe ich nicht von der EWTO oder offiziellen Vertretern gehört. Mein Lehrer sagt dazu nur, dass dies wie eine „meiner ist größer als Deiner“-Diskussion unter pubertierenden Jugendlichen daherkommt. So ist es wohl auch. Ich meine nicht das „WT das Beste“ ist. Genauso wenig wie ich das über MT oder jede andere KK sagen würde.
Einige KKs haben allerdings bessere „Vorraussetzungen“ für eine erfolgreiche Anwendung in der Selbstverteidigung. Und diesen Schuh müssen sich insbesondere die KKs anziehen, die nur auf einer Ebene verteidigungsfähig sind (Faustkämpfer, Ringer u.ä.). Diese sollten sich ihrer Defizite bewusst sein und diese entweder durch andere KKs ausgleichen oder dem Gegner ihre Distanz aufzwingen, was in der SV aber sehr schwierig sein kann.
WT ist eine defensive Selbstverteidigung
Das ist schlichtweg falsch. Einer der Grundsätze im WT ist, das es keine Verteidigung im Sinne von rein passiven Blocks gibt. Jede Verteidigung ist zumindest gleichzeitig auch die Vorbereitung für den Angriff. „Angriff ist die beste Verteidigung“ heißt es hierzu von den Vertretern des Stils. Was durchaus richtig sein kann, ist das ein WTler auch den ersten Schlag abwarten kann – das ist aber denke ich in jeder KK möglich.
Die Verteilung zwischen Aktivität und Passivität bestimmt wie bei den anderen KKs der Kämpfer selbst. Und nicht das System.
WT ist (zu) weich
WT ist weder hart noch weich. Alle Haltungen haben einen gewissen, jedoch beschränkten Spielraum. Wird dieser überschritten, dienen sehr schnelle Wendungen dazu, sich aus der KRAFTLINIE des Angreifers zu bewegen. Dies erscheint in meinen Augen durchaus sinnvoll. Stupides „Gegenhalten“ gegen einen – in den meisten Fällen - stärkeren Gegner erscheint MIR nicht als sinnvolle Alternative. Wichtig zu verstehen ist dabei, das diese Weichheit als „kurzfristiges Nachgeben um dem Schlag auszuweichen und GLEICHZEITIG einen Gegenangriff vorzubereiten“ gesehen werden muss.
Dieses Vorgehen empfinde ich auch abseits der KKs im normalen Leben durchaus sinnvoll. Erstmal nachgeben und danach von einer anderen Seite erneut versuchen. Anstatt „mit dem Kopf durch die Wand“.
WT ist uneffektiv
Schade, dass man so ein Argument vergleichsweise oft hören muss. Leider wird dies von den Leuten weder mit Fakten untermauert noch entspricht es meinen Erfahrungen. Ich bin bis jetzt extrem gut damit gefahren und habe nur in seltenen Fällen überhaupt „nennenswerte“ Treffer abbekommen, während ich mich stets „durchsetzen“ konnte. Oft eindeutig, manchmal weniger eindeutig.
Die Kettenfauststösse sind schwach
Diese Einschätzung liegt leider daran, das viele WTler und erstrecht Nicht-WTler das Prinzip eines WT-Fauststosses nicht verstanden haben. Ich erlebe immer wieder, wie unfähig sich selbst WTler anstellen, die schon 1-2 Jahre WT gemacht haben.
Der Clou ist, das die Schläge sehr wohl mit Körperunterstützung durchgeführt werden. Zwar nicht mit der Hüfte, dafür aber mit dem gesamten Körpergewicht. Dazu müssen die Schläge allerdings vor (nicht neben) dem Körper geführt werden. Bei einem Schritt nach vorne wird damit die gesamte Körperkraft „hinter den Schlag gesetzt. Auch wenn es mir manche hier nicht glauben, kann ich mit einem solchen Schlag auf den Brustkorb selbst meine 120kg Kollegen problemlos „rumschubsen“. OHNE jedes Ausholen mit dem Arm. Die Fingerspitzen berühren vor dem Schlag bereits die Brust und ziehen sich keine Zentimeter zum Ausholen zurück. Würde ein solcher Schlag zum Kopf geführt werden, hätte er verheerende Folgen.
Die EWTO zockt seine Mitglieder nur ab
Die EWTO unter Leitung von Kernspecht hat sich zweifelsohne ein profitables Geschäftsmodell aufgebaut. Allerdings wird den Mitgliedern dafür auch einiges geboten. Ich betrachte es als „Qualitätssicherung“ das jede zweite Prüfung von KRK oder einem anderen hochgraduierten Meister abgenommen werden muss.
Jede Prüfung kostet zwischen 15 und 25 Euro. Wird die Prüfung vom Großmeister abgenommen, zahlt man zusätzlich 30-50 Euro und erhält dafür ein 4-stündiges Seminar mit Kernspecht persönlich und wird auch von ihm selbst geprüft. Und bis jetzt war mir dies jedes Mal das Geld wert. Zusätzlich eine Jahresgebühr von 40 Euro. Abzeichen oder Urkunden etc. müssen nicht zusätzlich bezahlt werden. Es gibt WT-Trainingshosen, die ich persönlich sehr stylish finde, die aber nicht „Pflicht“ sind. Eine schwarze Hose und ein weißes Hemd (bzw. grau/schwarz, je nach Grad) sind aber wohl erwünscht. Und solche Kleidungsvorschriften gibt es ja wohl in den meisten KKs. Handschuhe etc. zählen für mich zur normalen Ausstattung eines jeden KKlers.
Ein WTler hat gegen Grappler keine Chance
Immer wieder höre ich, dass WTler am Boden bzw. gegen Grapplingtechniken keine Chance hätte. Dies ist einfach Bullshit. Ich denke, ein WTler ist einer der unangenehmsten Gegner für einen Grappler am Boden. Permanente Bewegung mit Armen und Beinen, speziell Ellenbogen und Knien sowie Züge, Kopf/Armhebel machen es jedem reinen Grappler sehr schwer einen WTler am Boden verlässlich und mit wenig Verletzungen zu fixieren. Kernspecht selbst hat früher viel gerungen, und diese Erfahrungen GANZ SICHER auch in „sein“ WT einfließen lassen…
Mal ganz abgesehen davon, dass Bodenkampf in der SV vermieden werden sollte.
WTler sind arrogant und beschäftigen sich nicht mit anderen Stilen
Das mag bei einigen Schülern der Fall sein. WT ist nun mal konträr zu den gängigen Stilen konstruiert. Man steht mit dem Gewicht hinten, die Faust vertikal, fließende Universalbewegungen statt vorgefertigter Angriffs-/Verteidigungskombinationen.
Dies heißt ja nicht, dass WT deswegen überlegen ist. Aber es ist sehr wohl „inkompatibel“ mit vielen anderen Stilen. Daraus kann sich ein gewisses Unverständnis für andere KKs ableiten. Auch kann das WT dadurch in meinen Augen ÜBERHAUPT NICHT mit anderen KKs kombiniert werden. Wichtig ist, sich diese Techniken trotzdem anzuschauen und Angriffsmuster der potentiellen Gegner zu kennen.
Ganz nebenbei hat Kernspecht zu früherer Zeit den „Budo-Zirkel“ gegründet und hat neben Ringerstilen auch Karate und andere KKs INTENSIV trainiert.
Die „antrainierten“ Reflexe sind nicht in der Realität einsetzbar
Noch eine Halbwahrheit. EINIGE Bewegungen können nicht mit den im Chisao trainierten Reflexen gekontert werden. Das stimmt. Hierbei ist sehr wohl ein aktives Handeln erforderlich (z.B. gegen einen Schwinger), da hier vor dem Treffer in der Regel kein Kontakt zustande kommt, der die reflexartigen Verformungen auslöst.
Allerdings schärft WT die Sinne auch soweit, als das geringste Anzeichen eines Schlages, sowie deren Richtung und Intention einigermaßen sicher erkannt werden kann. Dafür liegen dann zahlreiche Optionen bereit, diesen Schlag zu kontern. Und im weiteren Kampfverlauf durch den zwangsweise zustande kommenden Kontakt seine Reflexe wieder einsetzen zu können. Und diese Reflexe funktionieren – aus eigener Erfahrung – extrem gut, selbst unter Drogeneinfluss oder unerwarteten Angriffen…
Kraft bringt im WT gar nichts
Richtig ist: Kraft bringt, sinnvoll eingesetzt, immer einen Vorteil. Auch oder erstrecht im WT.
Anekdote: Beim Training ist vor ein paar Jahren mal ein echter „Arnie“ aufgetaucht. Arme fast wie meine Oberschenkel, 140kg, 1,95 m, ein Koloss vom Feinsten.
Er hatte vorher 8! Jahre Kickboxen trainiert. Ich hab mir ihn als Trainingspartner genommen. Wir haben ungefähr 6 Wochen miteinander trainiert (fast alle Übungen im WT sind Partnerübungen). Und ob ihr es mir glaubt, oder nicht: Er hatte keine Chance gegen mich. Wendung nach links, rechts, hin und her. Er war irgendwie völlig hilflos. Das schöne war, das er jeden Treffer „quittiert“ hat, d.h. schwere Treffer zum Kopf auch als solche erkannt hat und nicht ständig „nachgeschlagen“ hat. Naja, jedenfalls hat er es nicht geschafft, mich zu treffen. Selbst Tritte hat er ganz schnell gelassen, da er fast immer umgeflogen ist und mich auch nicht richtig traf. Das hat ihn natürlich wahnsinnig gemacht, dass so ein „halbes Hemd“ (ich: um die 80kg) ihn so ausspielt.
Was soll ich sagen, nach 4 Wochen war der Spieß VÖLLIG umgedreht und ich hatte 0,00 Chancen mehr. Der hat mich so was von bedrängt, das ich durch den ganzen Raum getappelt bin. ICH konnte KEINEN Schlag mehr treffen, er dafür aber einige. Wenn er sein Knie angehoben hat (was er vorher nie tat), war ich völlig weg.
Diese Liste ist in keiner Weise vollständig. Wir können gerne in diesem Thread über die Punkte diskutieren oder auch neue „Kritikpunkte“ hervorbringen.
Allerdings bitte ich dabei um einigermaßen fachliche Kommentare. NICHT so was wie „Ich war dreimal da und fand es uneffektiv.“
WT ist eine KK die mindestens 1-2 Jahre intensive Trainingszeit benötigt um effektiv zu werden (Außer du bist der oben zitierte „Arnie“). Davor sind die Schüler in den meisten Fällen eine leichte Beute für andere KKler wie MT, KB oder Grappler, die dies genauso lange betreiben.
Das liegt daran, dass zum Teil sehr komplexe Zusammenhänge zwischen Haltung, Schritten und Körperspannung hergestellt werden müssen, was in einer kürzeren Zeit nur in Ausnahmefällen glückt.
In der Hoffnung auf eine konstruktive Diskussion, statt Anfeindungen oder „theoretische *******vergleiche“…
Beste Grüße vom Bruce