J. Armstrong / S. McLinton: „Karate Styles: Surprising Links to Shortened Lifespan“
Hallo,
es hat etwas gedauert, aber nun habe ich das Buch gelesen, und das sind ein paar meiner Gedanken dazu:
A. Asato (1828–1906), der Hauptlehrer von G. Funakoshi (1868–1957), forderte in einem 1914 veröffentlichten Diktat, dass Karate-Anhänger sich u. a. hinsichtlich Hygiene informieren sollten (Band I, S. 18). Aus diesem Grund erweckte das 2013 erschienene Buch von J. Armstrong und S. McLinton – zwei Medizinern mit Karate-Hintergrund – mein Interesse. Ich las das Buch in der Erwartung, dass es an medizinische Laien (wie mich) gerichtet ist und dass historische Bereiche aufgrund der Verwendung englischer Sekundärquellen ungenau sein dürften.
Aufhänger ihres Texts ist eine Umfrage, der zufolge Karateka meinten, Karate-Training führe zu einer höheren oder sogar zu einer deutlich höheren Lebenserwartung. Demgegenüber stehen laut den Autoren „gefühlt“ viele eher kurzlebige Karate-Meister. Hinzu kämen auch Hinweise von Karate-Adepten selbst, dass Karate-Übung nicht zwingend mit Langlebigkeit verbunden sei. Allerdings zeigt eine nähere Betrachtung der herangezogenen Zitate, dass zumindest diese Aussagen verdreht bzw. falsch sind.
Als Beispiele für Karate-Adepten, die vermeintlich einen Zusammenhang von Langlebigkeit bzw. Gesundheit und Karate verneinten, zitieren Armstrong und McLinton zwei Phrasen von A. Itosu (1831–1915). Bei diesen Zitaten handelt es sich um schlechte, freie englische Übersetzungen, die dem Karate-Training keineswegs eine mögliche gesundheitsfördernde Wirkung absprechen. So lautet ihr erstes Zitat in meiner Übersetzung:
„Karate endet nicht bei der Körper schulenden Ausbildung. […]“ (Band I, S. 27)
Ihre freie Interpretation besagt, dass Karate „nicht hauptsächlich einen starken und gesunden Körper“ ausbilden soll. Tatsächlich erklärt A. Itosu an dieser Stelle, dass Karate weit mehr als körperliche Betätigung ist und somit auch eher moralische Aspekte umfasst. Ganz im Gegenteil – und diese wichtige Aussage wird im Buch weggelassen – bewirbt A. Itosu Karate ausdrücklich als eine ein langes, gesundes Leben fördernde Kunst und benennt Gründe für die positive Wirkung (Band I, S. 29 f.).
Auch T. Asai (1935–2006) wird mittels eines englischen Interviews zitiert und dergestalt ausgelegt, dass ihm Gesundheit in seinem Karate nichts bedeute. Ich selbst lernte von ihm bei Lehrgängen eine von ihm entwickelte Kata, die insbesondere zur Förderung der Gesundheit gedacht ist. Diese Ausflüge der Autoren in Richtung Lehre des Karate gehören aus meiner Sicht also zu den absoluten Schwachstellen des Buchs, da sie diesbezüglich offensichtlich nicht ausreichend kompetent sind.
Im Zentrum der Untersuchungen steht eine Tabelle mit hundertachtzehn Elite-Karateka, d. h. Personen, die ein Leben lang und hochgraduiert Karate betrieben. Anhand statistischer Untersuchungen zu deren Lebensspannen, Lebensorten usw. treffen die Autoren Aussagen über Langlebigkeit im Karate. Mir sprangen beim ersten Lesen zwei Doppelnennungen von Personen ins Auge. So ist M. Hironishi (1913–1999) einmal mit dem Genshin und ein zweites Mal mit dem Motonobu transkribierten gleichen Rufnamen aufgelistet. Obwohl Wohnort und Jahreszahlen in beiden Fällen übereinstimmen (weil es ja dieselbe Person ist), unterscheidet sich interessanterweise seine ab dem Zeitpunkt seiner Geburt kalkulierte Lebenserwartung in beiden Einträgen um ein Jahr. Auch T. Suzuki (1928–2011) wird doppelt gelistet, wobei er je nach Eintrag als in Japan lebend und als in Großbritannien lebend ausgegeben wird. Dementsprechend reduziert sich die Zahl von vermeintlich hundertachtzehn Elite-Karateka. Insgesamt würde ich die Berechnung der Lebensspannen als eher grob bezeichnen, was u. a. auch an teilweise ungenauen Jahreszahlen liegt. Z. B. werden sie für S. Nagamine mit 1907 bis 1999 angegeben, wobei 1907 bis 1997 richtig wäre.
Die Statistik umfasst nur Karateka, die nach dem Zweiten Weltkrieg und bis 2012 starben. Wie genau jene Karate-Lehrer, die in den 1910ern bis 1940ern geboren wurden und 2012 überlebten, die Statistik verändern und deren Auswertung beeinflussen würden, bleibt offen. Abgesehen davon gäbe es noch viele weitere Karate-Adepten, deren Lebensdaten bekannt sind, die aber kein Teil der Statistik sind.
Betont wird von den Autoren, dass sie nicht in der Lage waren, für die Mehrzahl der Karateka die genauen Todesursachen festzustellen. Nach den statistischen Auswertungen beginnen sie daher, bestimmte Möglichkeiten zu erläutern, die zu den früheren Todesfällen beigetragen haben könnten und mit dem Karate-Training selbst und/oder der Dōjō-Kultur in Zusammenhang stehen. Dabei verweisen sie auf vielerlei Studien und scheinen um ausgewogene Auswertungen derselben bemüht gewesen zu sein. Ich selbst fand die privaten Beispiele des Hauptautors J. Armstrong hilfreich und aufschlussreich. Ungeniert gewährt er nämlich Einblick in seine Kranken- und Verletzungsgeschichte, um einige Ursachen für mögliche Folgeerkrankungen zu veranschaulichen. Wichtig dabei ist, dass J. Armstrong aus dem Umfeld des Sport-Karate stammt und demgemäß vor allem Erfahrungen aus dem wettkämpferischen Kumite einbringt. Daher ist für mich nicht immer nachvollziehbar, was genau er meint, wenn er von „Sparring“ im Karate schreibt. Eine seiner Aussagen ist z. B., dass G. Funakoshi „Sparring“ verboten hätte, was wiederum gut für die Langlebigkeit sein könnte. Falls damit wettkämpferisches Kumite gemeint ist, würde die Aussage des Verbots stimmen. Doch falls sie sich auf Kumite allgemein bezöge, wäre sie falsch, da G. Funakoshi bis in seine Achtziger hinein Kumite vorführte (vgl. zum Kumite Band II, S. 202 ff.).
Ein Kapitel ist der Kata Sanchin und einigen ihrer Ausführarten (Muskeleinsatz und Atmung) gewidmet. Genau diese Ausführarten bespricht J. Armstrong hinsichtlich medizinischer Gesichtspunkte und der Frage nach möglichen Auswirkungen auf die Gesundheit des oder der Übenden. Da die Kata Hangetsu im Shōtōkan-Ryū in einigen Gruppen ähnlich geübt wird wie bestimmte Sanchin, lassen sich diese Ausführungen vermutlich auf entsprechende Ausführarten von Hangetsu übertragen. In diesem Kapitel wird das Wort „Kiai“ übrigens mit Atemgeräuschen gleichgesetzt, was leider den Eindruck erweckt, diese Atemgeräusche wären „Kiai“. Dass dies bestenfalls zu einem kleinen Teil stimmt, führte G. Funakoshi hinsichtlich seines Karate in einem 1936 veröffentlichten Aufsatz aus (Band III, S. 24 ff.).
Neben der eigentlichen Übungspraxis des Karate werden im Buch auch Bereiche wie Dōjō- bzw. Vereinsleben, Psychologie oder der Gebrauch von Medikamenten und Nahrungsergänzungsmitteln auf mögliche Vor- und Nachteile hinsichtlich Gesundheit und Langlebigkeit des Karate-Anhängers besprochen. Um ein Beispiel herauszufischen, möchte ich kurz den Alkoholkonsum erwähnen. Als Ausgangspunkt zitieren die Autoren aus der englischen Biografie von G. Funakoshi diesen Satz:
„Two habits I have never acquired are smoking and drinking.”
Aus Neugierde suchte ich den Satz auch in der deutschen Ausgabe, in der er so lautet:
„Zwei Gewohnheiten, die ich nie angenommen habe, sind das Rauchen und das Trinken.“
Da ich bereits auf Übersetzungsprobleme in G. Funakoshis Biografie hingewiesen habe (Übersetzungsprobleme in Funakoshis Biografie), zog ich den japanischen Ausgangstext heran. Meine Übersetzung der entsprechenden Stelle lautet:
„Ich rauche keinen Tabak [bzw. keine Zigaretten]. Überdies habe ich auch Alkohol [Sake] nicht besonders gern.“
Mit anderen Worten sagte G. Funakoshi aus, dass er nicht raucht, aber unter Umständen Alkohol trinkt. Damit verändert sich die von den Autoren als „vorbildliche ‚Langlebigkeitsdiät‘“ bezeichnete Ernährungsweise von G. Funakoshi in wenigstens einem Punkt, dem Antialkoholismus. Ihnen zufolge wirkte sich G. Funakoshis Vorbild bezüglich Antialkoholismus auch positiv auf viele seiner Schüler und das heutige Shōtōkan-Ryū aus – ganz im Gegensatz etwa zu der von J. Armstrong ausgeübten Ausrichtung des Shitō-Ryū, in der Alkohol zum guten Ton gehörte. Tatsache ist jedoch, dass auch viele japanische Lehrmeister des Shōtōkan dem Alkohol z. T. sehr zugeneigt sind. Somit müsste auch eine der vielen im Buch angerissenen möglichen Ursachen für Langlebigkeit im Falle G. Funakoshis anders bewertet werden. Die Autoren bemühen sich – wie zuvor erwähnt – auch beim Thema Alkoholkonsum um die Vermittlung eines ausgewogenen Bilds. Trotz der negativen Wirkungen weisen sie darauf hin, dass geringe Alkoholmengen möglicherweise positive Effekte auf die Gesundheit haben könnten. Natürlich gibt es andere Forscher, die aufgrund ihrer Untersuchungen z. B. eine Aufnahmemenge von null Gramm Alkohol propagieren (Lancet-Studie). In einer deutschen Zusammenfassung dieser 2018er Studie heißt es:
„Ein gesundheitlich unbedenkliches Niveau beim Alkoholkonsum können die Autoren der Mammutanalyse nicht erkennen. Danach werden die Vorteile von mäßigem Alkoholgenuss durch ein erhöhtes Risiko für Unfälle, Krebs und Infektionskrankheiten mehr als ausgeglichen.“ (Lancet-Studie dt.)
Dieses Beispiel führe ich an, um zu verdeutlichen, was die Autoren des Buchs selbst immer wieder betonen – die Forschungsgegenstand Gesundheit ist komplex. Am Ende des Buchs bestätigte sich meine Erwartungshaltung insofern, dass ich über gesundheitliche Aspekte in Bezug auf Karate interessante Informationen aufgreifen konnte, aber auch dass die Autoren hinsichtlich Karate selbst ein teilweise oberflächliches Bild vertreten sowie von seiner Geschichte und Lehre kaum eine Ahnung haben. Letzteres geht soweit, dass im Buch wie geschrieben Falschwissen über die Geschichte und Lehre des Karate verbreitet wird.
Grüße,
Henning Wittwer