Heute aus der Süddeutschen:
Firmen verlegen teure Arbeitsplätze ins Ausland

Zehntausende Jobs für qualifizierte Mitarbeiter gefährdet / Siemens lässt Software in Niedriglohnländern entwickeln Von Nina Bovensiepen



München – Allen Reformanstrengungen der Bundesregierung zum Trotz kehren immer mehr Unternehmen dem Standort Deutschland den Rücken. Arbeitgebervertreter und Gewerkschaften warnen, dass inzwischen auch hoch bezahlte Entwicklungsarbeit aus Deutschland und anderen Industrienationen abwandert. „Damit gewinnt die Verlagerung eine völlig neue Qualität“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Martin Wansleben. Wirtschaftsvertreter fordern sofortiges Handeln von der Politik, die diese Gefahr für den Standort noch nicht ernst genug nehme.





In ungewohnter Einigkeit weisen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter auf eine neue bedrohliche Entwicklung für den Standort Deutschland und andere Hochlohnländer hin. International tätige Konzerne wie Siemens, die Deutsche Bank, Daimler-Chrysler, Microsoft und IBM verlagerten zunehmend gut bezahlte Entwickler-Jobs in Billiglohnländer. Bevorzugte Ziele seien Indien, Osteuropa und China. „Alarmierend ist, dass nicht mehr nur lohnintensive Fertigung ins Ausland verlagert wird, sondern dass jetzt auch Verwaltung, Forschung und Entwicklung und sogar der Sitz der Unternehmensführung infrage gestellt werden“, sagte DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben am Mittwoch der Süddeutschen Zeitung. Nach Ansicht der IG Metall wird die neue globale Verlagerungswelle in den kommenden Jahren Zehntausende Forschungs- und Ingenieurs-Jobs in Deutschland vernichten.


Mehr Mitarbeiter in Bangalore


Laut der Gewerkschaft hat zum Beispiel der Vorstand der Münchner Siemens AG vor kurzem beschlossen, dass alle Bereiche des Unternehmens große Teile ihrer Software-Entwicklung in mehreren Schritten aus Deutschland, Amerika und Österreich in Niedriglohnländer verlagern sollen. Zwei Siemens-Tochterunternehmen sollen diese Prozesse koordinieren, heißt es. Deutschlands größter Elektronikkonzern bestreitet, dass es einen entsprechenden Vorstandsbeschluss gibt. In einem internen Rundbrief wird der Chef einer dieser beiden Siemens-Töchter allerdings folgendermaßen zitiert: „Der Zentralvorstand (von Siemens, d. Red.) hat schon zu Jahresbeginn die Order ausgegeben, dass die Bereiche wachsende Anteile ihrer Software-Entwicklung in so genannte Low-Cost-Regionen – zum Beispiel Osteuropa, Indien, China – auslagern sollen.“


Die Motivation der Unternehmen ist klar: Ein Entwickler in Rumänien oder China kostet nur zehn bis zwanzig Prozent eines Spezialisten in Deutschland. Andere Unternehmen bekennen vor diesem Hintergrund offen, das gestiegene Ausbildungsniveau bei gleichzeitig niedrigeren Gehaltsstrukturen nutzen zu wollen. „Da gibt es auf jeden Fall Überlegungen“, heißt es bei der früheren Siemens-Tochter Infineon. Der Münchner Chiphersteller hat bereits seine Buchhaltung nach Portugal verlagert, die Automobilelektronik-Sparte zieht derzeit ins österreichische Villach um – weitere Schritte sollen folgen. Der Konzern plane zwar nicht, Entwickler-Arbeitsplätze in Deutschland abzubauen, der Aufbau von neuen Jobs werde aber vorwiegend im Ausland erfolgen. Infineon will beispielsweise die Zahl der Beschäftigten in China in den nächsten fünf Jahren von 800 auf 3300 aufstocken, im Inland soll die Mitarbeiterzahl dagegen weitgehend konstant bleiben. Ähnliches plant der größte deutsche Software-Konzern SAP. „Wir weichen auf billigere Entwicklungsstandorte wie Indien oder Bulgarien aus“, sagt Vorstandschef Henning Kagermann. Im indischen Bangalore verdoppelt SAP die Mitarbeiterzahl in den nächsten drei Jahren auf mehr als 1000.


Nach Beobachtung von Experten sind es längst nicht mehr nur IT-Unternehmen, die solche Pläne haben. Der Trend erfasse fast alle global agierenden Konzerne. Konkrete Zahlen für Deutschland und Europa gibt es noch nicht, in Amerika werden laut einer Studie des Forschungsinstituts Forrester Research Firmen in den nächsten zehn Jahren 3,3 Millionen hoch qualifizierte Arbeitsplätze auslagern. In einigen Bundesstaaten wird inzwischen diskutiert, staatliche Aufträge nur noch an Firmen zu vergeben, wenn diese die Projekte im Inland ausführen. Eine ähnliche Debatte müsse in Deutschland in Gang kommen, fordert die IG Metall. Bisher werde dieser neuen Bedrohung kaum Aufmerksamkeit gewidmet. Auch der DIHK mahnt kurzfristig weitere Wirtschaftsreformen an.