Heiligabend bei Großvater
Am 24ten war es wieder soweit! Großvater hatte die ganze Familie zum Abendessen eingeladen. Einmal im Jahr kommen dann auch tatsächlich alle, um Großvater die Ehre zu erweisen und ihm zu zeigen , wie weit sie schon fortgeschritten sind, auf dem langen steinigen Weg zum kultivierten Esser. Von Großvaters eigenwilligen Erziehungsmethoden bei Tisch hatte ich bereits berichtet, aber das Essen an Heiligabend ist wirklich etwas ganz besonderes.
Da trifft man auch viele von den Leuten wieder, die man das ganze Jahr nicht gesehen hat. Sogar der kleine Johannes, der sich mit einer genialen Wortschöpfung einen festen Platz tief in unseren Herzen reserviert hat, war wieder da. Aber auch viele von Großvaters engerem Kreis sieht man, was gar nicht so oft vorkommt, wenn man nicht gerade die Ehre hat, an Opis Seite in der Küche stehen zu dürfen, um ihm beim Kochen oder beim Erstellen der Ernährungspläne über die Schulter zu gucken. Das hat er nämlich nicht so gerne. „Zu viele Köche verderben den Brei!“ pflegt er dann immer mit mürrischer Miene zu sagen. Ist ja auch verständlich, stellt euch mal vor, Großvater will einen französischen Salat anrichten und dann kommt ein Schüler daher und will griechisch kochen! Wie soll das denn bitteschön gehen?
Ein paar Gesichter habe ich allerdings vermißt, z.B. Blondie war nicht dabei, obwohl er doch oft in Großvaters Küche die anfallende Arbeit erledigt hat. Mensch, wie hieß der Bursche noch gleich? Sein Vorname hatte mich immer an ein Brot mit Körnern erinnert. Naja, ist ja auch eine komische Sitte, Broten Vornamen zu geben! Das stammt übrigens aus irgendeiner Kindersendung, hat mir mal eine Mutter erzählt. Geschickte Vermarktung, sag ich da nur. Aber so ist das wohl heutzutage üblich. Genauso wie die Tatsache, dass man bereits im September Nikoläuse aus Schokolade in den Supermärkten kaufen kann. Ãœbrigens, der Weihnachtsmann ist eine Erfindung eines amerikanischen Getränkeherstellers. Das erklärt auch, warum die ältere Generation noch vom Christkind spricht, während die Kleinen auf den Weihnachtsmann warten.
Ãœber das Thema Komerz hat sich Großvater in seiner Weihnachtsrede auch ausgelassen. Besonders die Geschichte, in welcher der langhaarige und bärtige junge Mann, der vor langer langer Zeit auf der Welt wanderte, um die einzig wahre Lehre unters Volk zu bringen, die Marktstände vor dem Tempel umwarf und sich damit den Zorn der Händler auf sich zog. So ist das mit den heiligen Kühen, die gehören auch jemandem!
Heutzutage ist das ganz anders, da hat man das Recht auf freie Meinungsäußerung, auch im Internet -vorausgesetzt man hat einen guten Anwalt. Also immer schön den Stall sauber halten, gell!
Schön war übrigens auch die Bescherung. Großvater hat in seiner unermesslichen Großzügigkeit einen wunderbaren Katalog zusammengestellt, indem all die schönen Sachen, die er auf seinen vielen Reisen entdeckt hat, abgebildet sind, so daß wir ganz bequem von zu Hause aus all das bestellen können, was uns zu unserem Lebensglück noch dringend fehlt. Natürlich lag für jeden von uns ein Exemplar bereit, da läßt er sich nicht Lumpen. Und das Angebot ist auch wirklich überwältigend. Von Koch-Büchern über Nahrungsmittel- ergänzungen bis hin zu moderner Freizeitbekleidung für die Schlanken unter seinen Kinder ist alles vorhanden. Auch so spezielle Sachen, wie z.B. die nach Großvaters Vorstellungen angefertigten Eßstäbchen und die berühmten Doppelgabeln sind für jeden frei käuflich. Obwohl seine Neider angeblich behaupten, er habe diese hohen Techniken nur maximal an eine Hand voll Schülern weitergegeben. Von wegen, jetzt darf jeder ran! Warum sonst sollte denn unter den Bildern „ Zum täglichen Ãœben“ o.s.ä. stehen? Wäre doch dann eine Farce, oder?
Wie verkündete letztens noch jemand im KKF: „Ich glaub, die alte Dame bewegt sich!“ Ob er das damit gemeint hat?
Naja, jedenfalls hat er seiner Familie wieder einmal etwas Neues beschert und wir hatten wieder Gelegenheit, unser Können an der Tafel zu demonstrieren und einige von uns konnten sich eine neue Kochmütze in einer neuen Farbe ans Revers ihrer neuen Ausgehuniform pappen und ein breites Siegerlächeln aufsetzen. Sogar Opa hatte gute Laune und das soll schon was heißen!
Alles war perfekt! Oder zumindest wäre es fast perfekt gewesen, wenn...ja, wenn nicht irgendeine klitzekleine Kleinigkeit gefehlt hätte! Ich wusste nur nicht sofort, was es war. Erst auf dem Rückweg bin ich darauf gekommen.
„Du findest doch immer ein Haar in der Suppe“, sagte meine Freundin noch im Auto, „ Es war doch für jeden etwas dabei. Comics für die Kleinen, Kochkunst für die Großen, Gesundheit für die Alten, Esoterik für die Suchenden, Philosophie für die Gescheiten und so weiter und so fort! Mehr kann man von einem Essen mit der Familie nicht erwarten!“
Irgendwie hatte sie ja recht, aber dennoch hatte ich den Eindruck, dass da was fehlte. Und während mein Verstand noch nach der Lösung suchte übernahm mein Körper das Kommando. Die linke Hand setzte den Blinker, die rechte zog am Lenkrad, der Fuß trat auf die Bremse – alles ganz reflektorisch! Als ich wieder zu mir kam, stand ich plötzlich vor einem Schaufenster, in dem mit großen leuchtenden Lettern ein Name stand: „Hühner Hugo“!
Und jetzt wusste ich auch, was gefehlt hatte: das Sättigungsgefühl. Wie immer!