Titel: Re: Kata-Training und Shuhari...
Beitrag von: Gibukai am Oktober 30, 2008, 02:31:25
Hallo,
oben wurde von Stephan kurz das von K. Ushiro (geb. 1949) stammende Schema zum Thema Kata-Bunkai und Shu – Ha – Ri paraphrasiert. Ich möchte dazu ein paar Anmerkungen liefern.
Zu aller erst möchte ich darauf hinweisen, daß K. Ushiros Gedankengebäude auf keinen Fall universeller Natur ist. Ausdrücklich handelt es sich um den methodischen Ansatz seiner Gruppe, dem Shindōkai (Verein des Wegs des Herzens). Damit möchte ich zum Ausdruck bringen, daß dieses Gedankengebäude nur unter zaghafter Zurückhaltung auf andere Karate-Gruppierungen übertragen werden kann. Denn es stützt sich ganz klar auf die technischen Gedanken des Shindōkai und natürlich auf dessen spezifische Nomenklatur. So sind Ausdrücke, wie z.B. „Kihon-Bunkai“, Henka-Bunkai“ und „Ōyō-Bunkai“, keineswegs Allgemeingut der gesamten Karate-Welt. K. Ushiro verbindet jeden dieser Begriffe mit einem bestimmten Inhalt und wer diesen nicht kennt, wird wohl kaum begreifen, was mit dem jeweiligen Begriff gemeint ist.
Am bedeutsamsten ist zunächst die Tatsache, daß es im Karate bis nach dem zweiten Weltkrieg nie eine umfassende bzw. „echte“ Lehrmethode gab. Immer gab es einen Lehrmeister, der einen mehr oder minder großen Haufen von Kata unterrichtete. Manchmal ordnete er seine Kata auch in einer gewissen Reihenfolge, von der er meinte, sie vereinfache seinem Schüler das Lernen. Erst nach und nach begannen sich einige Gedanken darüber zu machen, wie standardisierte Partnerübungen usw. aussehen und in welcher Weise sie zum Einsatz kommen könnten.
K. Ushiro ist ziemlich clever und ersann für seine Gruppe ein intellektuell nachvollziehbares Gerüst, mittels dem ein Schüler durchaus erkennen kann, was ihn erwartet. Von meiner Warte aus betrachtet ist es eben zu intellektuell verwickelt und ich kann mir nicht wirklich vorstellen, daß sein Karate-Lehrer, N. Zaha (geb. 1914), mit soviel Theorie übereinstimmt.
Den Boden für meine Meinung liefert einmal mehr die Historie des Karate. Schon allein das Wort „Bunkai“ taucht vergleichsweise spät auf; vor allem wenn ich an die Verwirrung denke, die es heutzutage verursacht, ist das wirklich komisch. In dem 1902 durchgeführten und 1914 veröffentlichten Interview mit A. Asato (1828-1906) wird dargelegt, daß es sich beim „Kumite“ um die Anwendung (Katsuyō) des Karate handelt. „Karate“ wiederum besteht, laut A. Asato, aus verschiedenen „Arten“, wie z.B. Naihanchi und Seisan. Unter Verwendung der gegenwärtig gebräuchlichen Terminologie heißt das schlicht, daß „Kumite“ die „Anwendung“ der Kata des Karate darstellt. Ich meine, daß dies doch recht verständlich ist. Ähnlich nachvollziehbar und schlicht erläutert C. Motobu (1870-1944) in seinem 1932 erschienen Büchlein, daß man Karate in zwei Teile zerlegen könne:
(1) die Grundlagen (Kihon) und
(2) das Kumite.
Unter „Grundlagen“ versteht C. Motobu die „Kata“ genannten Dinger, z.B. Naihanchi und Passai. Kumite vergleicht er mit der Kime no Kata aus dem Jūdō, d.h. es handelt sich für ihn um eine verabredete Angelegenheit. Erst im Frühjahr 1934 taucht der Begriff „Bunkai“ in einem Werk von K. Mabuni (1889-1952) auf und zwar in der Kapitelüberschrift „Erklärendes Zerlegen der Kata der 'offenen Hand', Seienchin“ (Kaishu Seienchin no Kata Bunkai-Kaisetsu). Dabei entsteht der Eindruck, daß es sich um ein Zerlegen (Bunkai) zum Zwecke der Erklärung handelt. „Bunkai“ wird hier also nicht als Übungsform bzw. -stufe verstanden.
G. Funakoshi (1868-1957) definiert 1935 den Begriff „Kumite“ analog seines Karate-Lehrers, A. Asato, nämlich als eine (festgelegte) Form der Übung, bei der man „Techniken des Angriffs und der Verteidigung, die man in den Kata übte“ trainiert. Diese einfache Zweiteilung des Trainings – Kata einerseits, Übung der Kata-Gesten mit Partnern (Kumite) – ist heute vielleicht zu logisch, zu wenig mysteriös. Kurz gesagt finde ich, daß der Gebrauch von mannigfaltigen Begrifflichkeiten nicht bloß überflüssig ist, er führt tatsächlich zu Verwirrung und mag auch erfolgreich zum Stiften derselben, zum Verschleiern von verschiedensten Unzulänglichkeiten eingesetzt werden. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß insbesondere „Neotraditionalisten“ begierig jedes neue japanische Wort aufgreifen, das ihnen irgendwo begegnet...
Richtig problematisch – und ich hoffe, ich habe Dich richtig verstanden – sehe ich die Aussage, daß die verschiedenartigen Ausführungen der jeweiligen Version einer Kata (verbandsabhängig) nicht relevant seien. Du schreibst, wie auch K. Ushiro, der Übende könne immer zur Kata an sich zurückkehren, um sie als technische Referenz zu nutzen. Genau das ist der Knackpunkt! Für K. Ushiro steht fest, daß die innerhalb seiner Gruppe ausgeübten Kata technisch korrekt sind, u.a. weil sie „unverändert“ überliefert wurden. Innerhalb seiner Gruppe mag der Standpunkt der Kata als beständige technische Referenz gültig sein. Grund dafür kann sein alter Lehrmeister sein, der sie ihm vor dem Hintergrund seiner Vorstellungen von kampftechnischer Wirksamkeit vermittelte oder sie sogar gemeinsam mit ihm dementsprechend zurechtbog.
Betrachte ich demgegenüber die unterschiedlichen Kata-Fassungen innerhalb der bekannten Shōtōkan-Gruppierungen, dann wird – soll es denn um kampftechnische Wirksamkeit gehen – deutlich, daß gewisse „Markenzeichen“ der ein oder anderen Ausrichtung diese Wirksamkeit nicht wirklich unterstützen und ihr manchmal regelrecht zuwiderlaufen. Ich habe an anderer Stelle wertfreie Gegenüberstellungen von Abwandlungen zweier Stände (Fudō- und Zenkutsu-Dachi) abgeliefert, die diesen Punkt durchaus verdeutlichen können (weitere Gegenüberstellungen werden nicht folgen, da das eh' niemanden interessiert). Da kampftechnische Wirksamkeit heute in manchen Fällen eher abstrakt veranschaulicht wird, fällt dem Vertreter einer nicht ganz so tauglichen äußeren Form diese bedingte Tauglichkeit vielleicht nicht direkt ins Auge – aber er nutzt sie eben als Referenz. Im schlimmeren Fall weiß der Vertreter einer ungeeigneten äußeren Form um deren Untauglichkeit, lehrt sie aber dennoch als Norm für seine Gruppierung.
Deswegen ist, meiner Meinung nach, nicht die Kata die letzte technische Referenz, sondern mein Übungspartner, mit dessen Hilfe ich Sinn und Unsinn meiner Gesten überprüfen kann. Diese (eventuell) verbesserte äußere Form übertrage ich nachfolgend auf meine Kata, deren Soloübung auf diese Weise an Güte gewinnt. Im Idealfall ist mein Übungspartner gleich noch mein Lehrmeister, der mir von Anfang an eine zuverlässige Körpermechanik nahe brachte.
Abgesehen davon gab es quasi immer verschiedenartige Gattungen von „Kata“, deren Zielstellung konsequenterweise ihren Inhalt prägte. Schon der berühmte General C.K. Ch'i (1528-1588) wußte nämlich von etwas zu berichten, daß er „blumige Methoden“ (Hua-Fa) nannte. Damit meinte er Formen, die schön aussehen, bezüglich ihres kämpferischen Werts jedoch nutzlos sind. Für Vorführungen, für die sie gedacht waren, sind sie freilich bestens geeignet. In China findet sich dieser Gedanke auch in unseren Tagen wieder. So erklärte M.T. Ma (geb. 1943), der als Professor für Geschichte einer der führenden chinesischen Forscher auf dem Gebiet der Kampfkunst ist: „Das blumige Boxen der Anfänger – Irrtum auf Lebenszeit“. Er bezieht sich dabei auf die sportlichen Veranstaltungen seines Landes, die unter dem Titel „Wushu“ (Kampfkunst) laufen.
Im „Lexikon des okinawanischen Karate und Kobudō“, welches in diesem Jahr erschien, werden vier Sorten von Karate unterschieden:
(1) Budō-Karate (Karate des kämpferischen Wegs)
(2) Kyōgi-Karate / Supōtsu-Karate (Wettkampf-Karate / Sport-Karate)
(3) Kenkō-Karate (Karate für die Gesundheit)
(4) Buyō-Karate (Tanz-Karate)
Nun dürfte es doch leicht nachvollziehbar sein, daß sich die Kata-Ausführungen, ihre äußere Form entsprechend ihrer Zielsetzungen ändern.
K. Ushiros Gedanken funktionieren innerhalb seines Systems, können aber nicht ohne weiteres auf andere Richtungen übertragen werden. Er erarbeitete seinen Leuten einen konkreten Leitfaden. Doch wie oben schon geschrieben, fehlten früher derartige konkrete Leitfäden bzw. Lehrmethoden. Der Übergang von Kata zu Kumite (im Sinne der „alten“ Definition) geschah in Ryūkyū offenbar in konfuzianischer Manier, d.h. der Lehrmeister gab ein Beispiel oder deutete etwas an (er zeigte dem Schüler eine Ecke des Zimmers...) und die Aufgabe des Schülers bestand darin, ausgehend von dem Beispiel oder der Andeutung, eigenständig zu weiteren Anwendungen zu gelangen (...der Schüler hat die verbleibenden drei Ecken des Zimmers selbst zu sehen). Dies läßt sich in den Erinnerungen älterer okinawanischer Lehrmeister sehr gut nachvollziehen. Aber auch in G. Funakoshis Werken ist diese Methode – dann und wann ein Beispiel für eine Kata-Anwendung liefern – erkennbar. Auch G. Higaki (der aus seiner wahren Identität ein Geheimnis macht) verlautet, daß dies die Methode seines Karate-Lehrers war. In seinem 2005 erschienen Buch bestätigt er überdies die oben geschilderte fehlende Methodik bei der Vermittlung des Bunkai (er verwendet den Terminus „Bunkai“, was vielleicht damit zusammenhängen könnte, daß sein Lehrer nicht nur von G. Funakoshi sondern auch kurz von K. Mabuni lernte).
Fest steht eines – diese konfuzianische Methodik ist alles andere als massentauglich. Im historischen Shōtōkan (1938-1945) wurden auch schon bald methodische Ideen in die Tat umgesetzt, indem beispielsweise die Ten no Kata für Anfänger eingeführt wurde. Sie verbindet in klar verständlicher Weise Kata und Kumite/Bunkai. Durch die historischen Umstände kann hierbei aber nur von einem sich ausbildenden System gesprochen werden.
Ein weiterer zu beachtender Punkt ist, daß das „Bunkai“ von K. Ushiro bereits festgelegt ist, wodurch Verwirrung durch „Fehlinterpretation“ („Interpretation“ ist das, was viele unter „Bunkai“ verstehen) ausgeschlossen ist. Denselben Ansatz sieht man in der Ten no Kata des Shōtōkan. Im Grunde entspricht dies dem historischen Normalfall, was Kata betrifft. Die Kata, die C.K. Ch'i Mitte des 16. Jahrhunderts seinen Soldaten nahelegte, bezweckte bestimmte „Anwendungen“, die vom Soldaten, nachdem er mittels der Soloform Kondition und Geschick erlangt hatte, zu trainieren waren.
Sowohl beim konfuzianischen Ansatz als auch bei dem „es-ist-alles-schon-vorbereitet-Ansatz“ ist einer unabdingbar – der in der Tradition stehende Lehrmeister. Und auch das schreibt K. Ushiro. In Stephans Darstellung fällt dieser Punkt irgendwie unter den Tisch.
Hier nun meine Überlegungen zu „Shu – Ha – Ri“ für den „es-ist-alles-schon-vorbereitet-Ansatz“ (die ich schon mal hier im Forum schilderte):
Shu:
Der Lehrer zeigt dem Schüler die Kata, so wie sie im jeweiligen System gelehrt wird, und zeigt ihm zu einem gegebenen Zeitpunkt entsprechende Anwendungen. Auf dieser Lernstufe wird der Schüler alles so ausüben, daß es zu keinerlei Verzerrungen in der Form kommt.
Ha:
Nun weist der Lehrer den Schüler darauf hin, daß in bestimmten Fällen eine Anpassung der überlieferten Form der Technik nötig ist, falls dieses oder jenes passiert. Dennoch ist die Kata bzw. ihre Anwendung noch erkennbar.
Ri:
Hier ist der Schüler nun in der Lage, ohne Hilfe seines Lehrers, die notwendige überlieferte Form der Technik einzusetzen und darüber hinaus den Umständen entsprechende Anpassungen aus seinem Ärmel zu schütteln. Und zwar ohne überlegen zu müssen.
Unabhängig von den obigen Shu-Ha-Ri-Erklärungen, meinte T. Kase (1929-2004) auf seinen persönlichen Erfahrungen beruhend, daß die „Shu-Stufe“ etwa 20 Jahre dauere, danach könne man mit etwa 30 Jahren „Ha-Stufe“ rechnen und eventuell käme danach „Ri“. Wie auch immer ich über diese Einteilung denke, sie entspricht der Art des Karate-Trainings am Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts. H. Kinjō (geb. 1918) schildert eindeutig, daß er Jahre mit dem Erlernen und Ausfeilen der Naihanchi-Abläufe zubrachte.
Grüße,
Henning Wittwer