In den 1950er und 1960er Jahren dominierten in Europa im Wesentlichen zwei Systeme / Systematiken von Nage-waza: die "Methode Kawaishi" und die Gokyo-no-waza des Kodokan (nicht Goyko-no-kaisetsu, das ist eine falsch übernommene Bezeichnung, aber das führt OT).
Viele Lehrer in Europa orientierten sich damals STRENG - oder mit anderem Wort "linear" - an der jeweiligen Reihenfolge, je nach Region unterschiedlich an Kawaishi oder an die Gokyo-no-waza. Diese Reihenfolge lag auch den meisten Kyu-Prüfungsordnungen zu Grunde.
Mitte/Ende der 1960er Jahre nahm die Kritik an dieser verbreiteten Praxis zu, denn innerhalb dieser linearen Vorgehensweise steckte nun einmal relativ wenig Sinn.
Gleeson und Geesink waren zwei prominente Judo-Lehrer, die gerne Polarisierung und Provokation als Stilmittel einsetzten, um Diskussionen anzustoßen. Sie wollten mit ihren Thesen Leute zum Nachdenken bringen und damit Diskussionen anstoßen. Von daher erklären sich die schroffen Äußerungen beider (Gleeson zur Gokyo-no-waza, Geesink hauptsächlich zu Kawaishi, was sich aus ihrem persönlichen Hintergrund erklärt) zu dieser "sinnfreien" methodischen Anordnung - wohlgemerkt, der streng linearen Vermittlung der Techniken in der Reihenfolge der Gokyo-no-waza und der "Methode Kawaishi"!
Es gibt - lassen wir einmal Personen und historische Zusammenhänge beiseite - grob gesagt zwei Möglichkeiten, wie man in einem Vermittlungsprozess (also in methodischer Absicht) eine Reihenfolge von Nage-waza sinnvoll gestalten kann, wobei sinnvoll heißt "sich von der linearen Betrachtung zu lösen!!!"
- nach Bewegungsverwandtschaften, was bedeutet, ähnliche Techniken nacheinander zu vermitteln, um einen Transfer von Bewegungsmustern einer bereits gelernten Bewegung als Basis für eine neue Bewegung zu nutzen und damit den Lernprozess zu beschleunigen(vereinfachen)
- nach situativen Zusammenhängen, was im Wesentlichen bedeutet, dass sich eine Technik aus einem Verteidigungsverhalten gegen eine andere Technik logisch ergibt.
Der erste Punkt - die Bewegungsverwandtschaften - ist problematisch, weil es sowohl den gewollten positiven Transfer gibt, als auch den ungewollten negativen Transfer (sog. Interferenz), was im Prinzip nichts anderes bedeutet, als dass eine automatisierte Bewegung dem Erlernen einer neuen Bewegung hinderlich ist, weil man immer wieder in die automatisierte Bewegung zurückfällt. Deswegen ist ja auch das Umlernen oder die Korrektur eines eingeschliffenen Fehlers so schwierig.
Konzepte einer Gruppierung nach Bewegungsverwandtschaften haben z.B. Geesink (Spielarmtechniken, Spielbeintechniken, Gruppe "Gari", Gruppe "Barai") und M. Ohgo entwickelt und veröffentlicht.
Eine geschickte Vorgehensweise nach Bewegungsverwandtschaften ermöglicht zwar eine "gefühlte" schnelle Vermittlung vieler Techniken, allerdings bleibt die situative Anwendung weitgehend auf der Strecke. Hier kommt das zweite Prinzip ins Spiel: die Vermittlung in situativen Zusammenhängen.
Die Grundidee ist ziemlich simpel: man beginnt mit einer (nahezu beliebigen) Technik. Gegen diese Technik gibt es natürlich ein Verteidigungsverhalten. Aufbauend auf diesem Verteidungsverhalten wechselt Tori die Angriffstechnik. Über das Verteidigungsverhalten wird also ein Sinnzusammenhang zwischen zwei Techniken hergestellt, dergestalt, dass die zweite Technik durch das jeweilige Verteidungsverhalten bedingt eine Art "Fortführung" der ersten Technik ist. Wenn man so will entsteht eine "Kette" von zwei Techniken.
Da Uke aber nun auch gegen die zweite Technik verteidigen kann, ergibt sich natürlich auch eine dritte sich anschließende Möglichkeit als Antwort auf die zweite Technik. Die Kette hat sich um ein drittes Glied erweitert. Das Ganze lässt sich nun beliebig fortsetzen. Derartige Ketten lassen sich nun als "Reihen", meinetwegen auch als "methodische Reihen" als Leitschnur für den Unterricht nutzen.
Da es gegen jede Technik mehrere Verteidigungsmöglichkeiten gibt, gibt es auch bei jeder Technik Verzweigungsmöglichkeiten, nämlich dergestalt, dass Tori je nach Reaktion von Uke eine andere Folgetechnik ausführt. Die Möglichkeiten gehen nahezu ins Unendliche.
Tokio Hirano (nicht Tokyo, das ist die Stadt) hat derartige Reihen zur Grundlage seines Unterrichts gemacht. die von ihm kreierte Kata folgt genau diesem Gedanken (
YouTube - nanatsu no kata - Tokio Hirano - 1985 France - leider schlechte Bildqualität). Da Hirano sehr intensiv in Europa unterwegs war, war dieses Konzept zumindest unter den engagierten Leuten ausführlich bekannt.
Was aber fehlte war Ordnung in der Vielzahl von Einzelmöglichkeiten, die ja ins Unendliche gehen. Also machten sich einige Leute daran, diese Dinge zu ordnen und zu systematisieren.
Heraus kamen zwei unterschiedliche Ansätze, die sich ergänzten. P. Hermann beschrieb, welcher Art der situative Zusammenhang zwischen zwei Techniken sein kann, während Klocke/Bonfranchi ein vereinfachtes Modell vorstellten, welche Situationen nach einem Angriff mit einer beliebigen Techniken entstehen können - und welches die Handlungsoptionen für Tori und für Uke sind.
Beiden Ansätzen gemeinsam ist, dass sie die Prinzipien der Situationsentwicklung/Situationsentstehung, die allesamt in den vorgenannten "Reihen"/"Ketten" vorkommen können extrahiert und mit Beispielen beschrieben bzw. gefüllt haben. Die Anordnung dieser Beispiele folgte dann anderen Gedanken, wie z.B. den Bewegungsverwandtschaften, wodurch jeweils versucht wurde, die Vorteile beider "sinngebenden" Konzepte (siehe Punkte oben) miteinander zu verbinden.
Aber zurück zum Ausgangspunkt: all dies ist genau aus dem Grund geschehen, weil die lineare Betrachtung der Gokyo-no-waza bzw. der "Methode Kawaishi" keinen oder kaum einen sinnvollen Aufbau darstellt.
Von den sinnvollen Abfolgen, die sich aus den unendlichen Möglichkeiten von Ketten und Verzweigungen ergeben, folgen in der Tat einige (grob) dem Aufbau der Gokyo andere laufen aber genau anders herum, wenn man so will, gibt es ein "vorwärts", ein "rückwärts" und ein "springen".
In einer Zeit, in der die Gokyo in strenger Ordnung Basis für Kyu-Prüfungen war - in Westdeutschland bis 1969 in der DDR noch 20 Jahre länger - ist es natürlich naheliegend sich vor allem solchen Folgen zuzuwenden, die die Reihenfolge der Gokyo zumindest in den Stufen wiederspiegeln.
Das heißt aber nicht, dass das die einzigen Möglichkeiten sind.
Jetzt ist es doch ein längerer Beitrag geworden an dessen Schluss ich die Hoffnung formulieren, dass verstanden worden ist, das das, was sich "Rambat" wünscht, die Grundlage der Überlegungen gerade der Leute war, die er heute teilweise so heftig und auch persönlich attackiert.
Zu Gute halten muss man allerdings, dass diese Begründungszusammenhänge weitgehend unbekannt sind und sich - wie das beim Judo so oft der Fall ist - erst durch qualifizierte Erläuterung erschließen.