Hallo,
in der Eingangsfrage heißt es, daß G. Funakoshi (1868–1957) diese Aussage tätigte: „Es gibt nur ein Karate.“ Wahrscheinlich stammt diese Aussage aus der englischen oder deutschen Fassung seiner Biographie. Genauer gesagt dürfte es sich um eine Abwandlung einer Überschrift aus diesen Fassungen handeln. In der englischen Ausgabe gibt es ein Kapitel mit der Überschrift „Karate-Dō is One“. In der deutschen Ausgabe lautet der Titel des Kapitels dann „Karate-Dō ist Eins“. Das Problem daran ist nun, daß im japanischen Ursprungstext der Titel des Kapitels ganz anders lautet, nämlich „Karate no Ryūha“ (Die Schulrichtungen des Karate). D. h. in aller Deutlichkeit, daß G. Funakoshi diesen Satz gar nicht als Überschrift verwendet. Er wurde von einem „cleveren“ Übersetzer oder Herausgeber eingefügt. Die neue, „bessere“ Überschrift klingt ja auch viel philosophischer …
Schon in seinen ersten Werken thematisiert er die „Schulrichtungen des Karate“, unter denen er von Anfang an das Konzept von Shōrei-Ryū und Shōrin-Ryū versteht. Dabei wiederum handelt es sich nicht um Schulrichtungen bzw. Traditionen (Ryūha) wie sie auf den japanischen Hauptinseln in der Kampfkunstwelt bekannt waren. In der Frühzeit des Karate wurden „Shōrei“ und „Shōrin“ als zwei grobe Kategorien zum Einteilen von Schülertypen (klein und leicht vs. groß und schwer) verwendet. Genau dieses Konzept beschreibt er stets unter inhaltlich vergleichbaren Überschriften. Und er betont, daß seiner Meinung nach ein Karate-Schüler idealerweise Stoff aus beiden Kategorien lernen soll, um ein ausgewogener Karate-Anhänger zu werden. Praktisch sah das bei ihm so aus, daß er seinen Schülern sowohl die Heian- als auch die Tekki-Serie als Kihon-Gata lehrte.
Mit der Zeit kamen unter dieser Überschrift noch zusätzliche (thematisch nebensächliche) Beobachtungen hinzu, wie z. B. die, daß japanische Möchtegerns Jū-Jutsu und Karate vermischten, was für ihn ein Ding der Unmöglichkeit darstellte.
Grüße,
Henning Wittwer