Guten Tag die Damen und Herren! Ich wollte zur Abwechslung mal wieder etwas ernsthafter mit euch diskutieren, wenns recht ist. Und zwar geht es um Folgendes:
Im Wing Chun wird ja oft und von allen Seiten behauptet, man könne aus diversen Übungen nur bedingt Rückschlüsse auf Kampffähigkeit/ Kampfverhalten, usw. ziehen. Als Argument kommt dann entweder, dass es sich hier nur um einen kleinen Ausschnitt einer u.U. nur bedingt kampfrelevanten, da starkt situativen Fähigkeit handle, oder stark reduzierten oder abstrahierten Übungen, deren Relevanz erst später oder in anderen Übungen (wie Sparring) zum tragen kommt.
Mir selbst wird erst jetzt mehr und mehr klar, was so eine Aussage überhaupt bedeutet. Meine Meinung dazu ist folgende. Je mehr die Relevanz einer Übung fürs Kämpfen im Verborgenen liegt, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass garkeine Bedeutung fürs Kämpfen vorhanden ist.
Natürlich gibt es hier die verschiedensten Differenzierungsmöglichkeiten, wie z.B. der gesamte "Fitness-Sektor", dessen Relevanz zwar logisch, aber nicht zwangsläufig augenscheinlich ist (Laufen, Seilspringen, Liegestütze, usw.). Aus diesem Grunde möchte ich mich auch auf die Aspekte des Trainings konzentrieren, die rein dem Erlernen des Stils an sich zukommen, also jene Solo- uind Partnerübungen, durch die Stil XY koordiniert und konditioniert wird.
Mit anderen Worten handelt es sich hierbei um eine Kritik an der Didaktik des Wing Chun, sowie dessen Folgen für den Erwerb kampfrelevanter Eigenschaften.
Das Problem ist nähmlich, dass ausgehend von der Prämisse aufeinander aufbauender, z.T. abstrakter und/oder reduzierter (idealisierter) Bewegungsabläufe, die Zahl verschiedener Trainingsmethoden stark zunimmt, was 1. zu einer flachen Lernkurve führt und 2. dazu verleitet, irgendwo auf dem Weg zu einer konkreten, ausschließlich kampfrelevanten Trainingsmethode stehenzubleiben und diese zum Selbstzweck zu erheben oder mit tatsächlich unkooperativen Trainng zu verwechseln.
Daraus resultiert dann auch die Diskrepanz zwischen dem Agieren innerhalb solcher Kontrukte und dem Agieren im Sparring und Wettkampf.
Dazu nochmal meine These:
Je mehr die Relevanz einer Übung fürs Kämpfen im Verborgenen liegt, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass garkeine Bedeutung fürs Kämpfen vorhanden ist.
Im EWTO Wing Tsun wird diese Methode meines Erachtens exzessiv angewendet. Man bedenke die extrem flache Lernkurve, wo Leute nach 10+ Jahren ambitionierten Trainings kaum über kampfrelevante Fähigkeiten verfügen. Die Formen, Dan-chi, Chi-Sao, Lat-Sao,uvm., also die reine Menge an Trainingsmethoden, dazu die enorme Diskrepanz zum Sparring.
Ich denke, K. R. Kernspecht war oder ist sich in gewisser Weise dieses Umstandes bewusst, wenn er (sinngemäß) sagt, Chi Sao dürfe nicht zu einem Selbstzweck verkommen. Leider wird dabei nicht der Ursprung des Verkommens erkannt, welcher eben in der Didaktik des Wing Chuns selbst liegt.
Allerding denke ich, dass dort einiges in Bewegung ist und hoffe, dass die ein oder anderen radikalen Veränderungen durchgeführt werden, wenngleich sie mit ökonomischen Interessen in Konflikt geraten könnten.
Zu meinem Bedauern sehe ich im Ving Tsun ganz ähnliche Tendenzen. Auch hier erkennt man eine rel. flache Lernkurve, eine vielzahl an Trainingsmethoden, eine Diskrepanz zum Sparring, bzw. eine gewisse "Lap-Sao/Chi-Sao-Versessenheit", was u.a. auch in der Vielzahl an Videos mit diesem Thema im Vergleich zu Sparringsvideos deutlich wird.
Idealerweise sollte ein Training meiner Meinung nach so beschaffen sein, dass von Anfang an Verhalten/ Technik derart konditioniert wird, wie sie im Kampf auch zur Anwendung kommt, die Anzahl an Trainingsmethoden und Übungen innerhalb dieser ebenso kampfbezogen sind, sowie in ihrer Anzahl "überschaubar" (eben dem Technikrepertiore des Stils entsprechend) sein sollten.
Darüber hinnaus sollte Sparring, also freies unkooperatives Agieren am Partner in verschiedenen Intensitätsstufen von Anfang an unterrichtet werden.
MfG,
Stefan