Titel: Re: Historie im Karate
Beitrag von: Gibukai am November 15, 2010, 12:48:33
Hallo,
(1) Warum ist die Historie für Karate von Bedeutung?
Allgemein – und das schrieb ich schon mal an anderer Stelle – ist es im Karate so, daß jemand wie G. Funakoshi (1868-1957) sehr oft mehr oder weniger ausführlich über die Geschichte (seines) Karate schrieb und auch referierte. Sein Sohn wiederum erörterte historische Eckpunkte aus dem Werdegang seines Vaters. Auch andere Karate-Pioniere banden geschichtliche Erläuterungen in ihre Texte ein. Das heißt, Karate an sich ist nicht einfach nur ein Haufen Technik, sondern ein kulturelles Gut, welches über eine Geschichte verfügt, die nicht nur zum Karate gehört, sondern die auch aktiv mitgelehrt bzw. mitgelernt werden sollte.
Wer sich für Karate entschieden hat, entschied sich für eine Angelegenheit, die also nicht bloß den Schweiß fließen läßt, sondern dann und wann auch mal die Gehirnwindungen strapaziert. So ist eben auch die spezifische Geschichte ein Punkt, der Karate ausmacht...
Für mich gilt zweitens folgender Ausgangspunkt: „Karate“ ist keine frei interpretierbare Angelegenheit, sondern ein Ding, das zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort kompiliert wurde. Der betreffende zeitliche Ausgangspunkt ist das Ende der Edo- (1603-1867) und der Anfang der Meiji-Periode (1868-1912). Die betreffenden Orte sind das Inselkönigreich Ryūkyū bzw. die Präfektur Okinawa sowie die japanischen Hauptinseln. Von da kommt „Karate“. Wenn ich also wissen möchte, was „Karate“ ursprünglich war und/oder ist, dann komme ich nicht an historischen Fakten und Materialien vorbei. Diese helfen mir, ein möglichst genaues Bild von dem zu zeichnen, was „Karate“ ausmachte. Anhand dieses Bildes und dieser Fakten kann ich mir in der Folge die passenden Lehrkräfte aussuchen und die nicht passenden ignorieren.
Einen größeren Einfluß auf mein Karate-Training kann es somit kaum geben.
Dazu kommt – und auch das schrieb ich bereits an anderer Stelle – insbesondere in der heutigen Zeit auch ein weiterer pragmatischer Gedanke. Beschäftige ich mich mit der Vergangenheit des Karate allgemein bzw. des Shōtōkan-Ryū im besonderen, dann kann (und werde) ich technische oder auch ideologische Schwerpunkte entdecken, die es heute in einigen Gruppen gar nicht mehr gibt. Ob und wie ich sie in mein Training integriere, steht selbstverständlich auf einem anderen Blatt. Auf jeden Fall würde es heute weniger Vergleiche zwischen Karate und den Mixed Martial Arts und andere Absonderlichkeiten geben, wenn sich mehr Karate-Anhänger eben mit der Geschichte beschäftigen würden.
Schließlich, als letzter Grund, als letztes Pro für die Beschäftigung mit der Karate-Historie – sie ich ganz einfach auch extrem spannend und interessant.
Wichtig bei „Geschichtsschreibung“ aber ist, daß Geschichte eben nicht bloß von den Siegern gemacht wird. Verlierer schrieben und schreiben genauso Geschichte! Abgesehen davon können bestimmte historische Punkte sehr viel genauer ausgelotet werden, als es dem ein oder anderen lieb ist...
Unmittelbar damit in Zusammenhang stehen gute japanische Primär- und Sekundärquellen, historische Quellen der Karate-Pioniere. Denn sie enthalten historische Anhaltspunkte und ihre Lehre, also das, was ihr Karate ausmachte.
(2) Woran erkennt man Leute, die diesbezüglich mehr dichten und raten, als Fakten sprechen zu lassen?
Da solche Personen oder Institutionen ihre Ansichten eben nicht auf Fakten gründen, ist das erste Erkennungsmerkmal, daß sie eben nie konkrete Quellen benennen können oder wollen. Wenn sie die konkrete Quelle nicht nennen wollen, handelt es sich meist um eine ziemlich peinliche Quelle, die keiner Überprüfung standhalten würde.
Stattdessen – und das ist das zweite Erkennungsmerkmal – sondern sie einen gigantischen Haufen Verbalgewölle aus, immer in der Hoffnung, daß dadurch niemanden das Fehlen der konkreten Quelle auffällt. Fragt jemand nach einer konkreten Quelle, wird er genauso mit einem Haufen Verbalgewölle zugeschüttet. Beliebt – und häufig damit in Kombination verwendet – ist zudem das Werfen von rhetorischen Blendgranaten und Platitüden. Die sollen Eindruck schinden und ablenken.
Gerne wird dann auch dem Thema völlig der Rücken zugekehrt, um sich nunmehr der Person des Fragenden oder ihrem – selbstverständlich völlig ungebührlichen – Verhalten zuzuwenden. Noch wirksamer ist dieses Mittel, wenn dabei Dritte mit ins Boot geholt werden können, sei es durch subtile Manipulation oder durch die aktive Aufforderung, „doch auch mal was zu sagen“.
All das sind Verteidigungsmechanismen, die dazu dienen, daß das eigene wackelige Fundament nicht zum Einsturz gebracht wird. Verteidigen müssen vor allem Systemverkäufer, Leute, die eher sporadisch, wenn überhaupt, bei einem japanischen Lehrmeister Karate lernten und im Grunde ihre eigenen Ideen als „Karate“ verkaufen. Um sich und ihrem „Karate“ Authentizität zu verleihen, spinnen sie sich ihre Historie passend zusammen, eben indem sie ihnen zuträgliche historische Fakten nutzen und den Rest drumherum dazudichten.
Personen, denen es es tatsächlich um echte historische Erkenntnisse geht (frecherweise zähle ich mich zu diesem Grüppchen), freuen sich über jedes kleine neue Detail, das aus ernst zu nehmenden japanischen Quellen hervorgeht oder wenigstens auf ihnen beruht. Sie wollen solche Erkenntnisse überprüfen und verwerten.
Abgesehen davon, ist es mir persönlich völlig egal, was einzelne Leute als „Karate“ verkaufen und/oder praktizieren. Was mir allerdings nicht egal ist, sind historische Zerrbilder, mit denen einige Leute öffentlich hausieren gehen.
Hier legte ich kurz dar, warum die Historie des Karate für mich wichtig ist und wie sie mein Training beeinflußt.
Grüße,
Henning Wittwer