Seite 1 von 2 12 LetzteLetzte
Zeige Ergebnis 1 bis 15 von 19

Thema: Das Problem der "Doppelten Gewichtung"

  1. #1
    Registrierungsdatum
    10.12.2004
    Ort
    Nahe Bonn
    Alter
    44
    Beiträge
    3.741
    Blog-Einträge
    1

    Standard Das Problem der "Doppelten Gewichtung"

    Ich eröffne mal dieses immer wieder beliebte Thema mit einem kleinen Artikel von mir, der vielleicht für den ein oder anderen nützlich ist und/oder zu einer produktiven Diskussion anregt:


    Das Problem der "Doppelten Gewichtung"

    Gerade die Übenden des Tajiquans haben mit der Beschreibung des grundlegenden Problems der "doppelten Gewichtung" zu tun, aber der Begriff selbst ist nur ein Platzhalter für ein Defizit in der Körpersteuerung ganz allgemein. Im Taijiquan gilt es "von der ersten Bewegung an leicht und wendig" zu sein; das gilt für das Pushing Hands und die formellen Übungen. Dabei handelt es sich natürlich um ein Ideal - man versucht sich diesem graduell anzunähern. Ich werde hier einmal die verschiedenen Möglichkeiten der "Doppelten Gewichtung" erörtern. Das Konzept im Sinne von Problem und Lösungsstrategie(n) selbst ist natürlich auch auf diverse Alltagssituationen übertragbar, allerdings soll das hier nicht Thema sein.

    Ganz allgemein gesprochen ist man "doppelt gewichtet", wenn der Körper passiv durch Arretieren seiner strukturellen Elemente sich selbst (vermeintlich) stützt. Das vielleicht klarste Bild einer doppelt gewichteten Struktur ist eine Brücke, deren tragender Bogen sich zwischen zwei Pfeilern aufspannt. Im menschlichen Körper nennt man diese Art der Ausrichtung eine geschlossene kinematische Kette und sie ist verständlicherweise sehr stabil, aber nicht sehr mobil.

    Eine klassische Anweisung im Taijiquan ist das Unterscheiden von "Voll und Leer" - also dass der Übende immer genau zwischen einer lasttragenden Körperseite und der freien Körperseite entscheiden kann.
    Als einfachstes Beispiel dient der normale Stand - man versucht, immer ein Bein "voll" also belastet zu haben, während das andere Bein "leer" also frei für jedwede Bewegung ist. Bewegt man sich einen Schritt vor, soll der Übende immer ein Bein belastet und eines frei haben.

    Selbstverständlich ist dies nicht möglich. Es gibt immer einen Moment, an dem beide Beine lasttragend sind - einbeiniges Hüpfen mal ausgenommen, aber das ist nicht gemeint - Es geht vielmehr darum, den Schrittwechsel zwischen Standbein und Spielbeinphase so auszuführen, dass beide Beine nur möglichst kurz beiderseits das Gewicht tragen müssen und auch ohne das lasttragende Bein fest und steif anzuspannen. Tritt man auf den Boden auf und fühlt den Aufprall des Fusses auf den Boden bis in die Hüften/das Becken "zurückschlagen" so ist das Bein fest und statisch. Stattdessen versucht man eine permanente Bewegung in den Knien aufrechtzuerhalten, damit dies nicht geschieht.

    Eine weitere bekannte Anweisung lautet, sich "nicht am Gegner aufzuhängen" - damit ist gemeint, gerade beim Pushing Hands, sich nicht an den Gegner zu lehnen. Drücken zwei Leute, gegenüberstehend, ihre Hände gegeneinander, so bildet sich auch hier so eine Art "Brücke" - jeder Akteur wird sozusagen zu einem Pfeiler, während die Hände den Bogen der Brücke bilden. Unser Körper erkennt natürlich sofort den effizientesten Weg, diese Ausrichtung "stabil" zu bekommen und arretiert die Gelenke soweit, dass beide Übenden stabil gegeneinander lehnen. Selbstverständlich kann man so nicht auf sich dynamisch ändernde Kraftrichtungen reagieren, aber sobald beide Übenden genau das gleiche machen, wird ihre ganze Bewegung sich (unbewusst) um diese Statik organisieren. Es fällt also quasi nicht auf, ausser man "pusht" mit jemandem, der um diese Falle weiss. Dann wird man schnell "entwurzelt" oder einfach ausmanövriert.

    Zuletzt gilt es, bei den Bewegungen - und auch in Ruhe - das zentrale Gleichgewicht zu halten. Es gibt viele Übungen, die statisch oder sehr langsam ausgeführt werden, was ja eigentlich der "doppelten Gewichtung" in die Hände spielt. Bei einer Übung wie der stehenden Säule z.B. wie soll man dort - rein praktisch - voll und leer in den Beinen unterscheiden und nicht beide gleich belasten? Üblicherweise wird gesagt, man soll entspannen - aber das geht nur bis zu dem Punkt, an dem man in sich zusammensacken würde. Also wird der Körper irgendwann zu einer "Brücke".

    Das gleiche Problem hat man übrigens auch im einbeinigen Stand - der Körper arretiert eben das eine Standbein, um sich selbst zu tragen. Biomechanisch konstruiert der Körper ebenfalls eine geschlossene Kette für eine optimale Statik. Das auch gar nicht zu verhindern - aber hier kann man tatsächlich, allein durch die Visulisierung einer Bewegung, den Körper davon überzeugen, dass jetzt nicht der Zeitpunkt für ein bequemes Einrasten gekommen ist. Man muss also eine Bewegung permanent im Sinn haben, auch wenn man steht - und zwar eine, die konträr der unbewussten Absicht des Körpers ist, sich selbst nur aufrechtzuerhalten. Es gibt dabei viele Möglichkeiten, die je nach persönlichem Geschmack mehr oder weniger gut funktionieren.

    Eine schöne Testmöglichkeit ist diese: Man steht in einem mittelmässig tiefen Ma Bu / Reiterstand und hat sein Gewicht schön doppelt auf beide Beine verteilt. Nun versucht man, einen Schritt gerade vorzugehen. Man merkt natürlich sehr deutlich, wenn man beispielsweise mit rechts vor geht, wie sich erst das Gewicht nach links verlagert (Von einer Statik in die andere Statik) und erst dann der Schritt erfolgt. Manch einer wird den einen Fuss eher vorwärtstreten, wobei dann die rechte Seite kurz wegkippt und man etwas nach hinten aus dem Gleichgewicht gerät.

    Um dieses Umgewichten zu verringern, kann man sich beim Wiederholen einige Bewegungen als Bild verinnerlichen. Diese Bewegungen werden natürlich nur vorgestellt und finden nicht tatsächlich (von einer Mikrobewegung mal abgesehen) statt. Hier sind mal drei Beispiele:

    -Ein nach unten und nach vorne Rollen des eigenen Körperschwerpunktes.
    -Eine spiralförmig von den Füssen aufsteigende Bewegung.
    -Eine konträr nach-hinten vorgestellte Bewegung.

    Man probiert so lange herum, bis man eine Steuerung gefunden hat, die den Wechsel aus der Statik in die Bewegung direkt und ohne Umschweife erzeugt, mit möglichst minimiertem Umlasten und Lehnen.

    Wenn man meint, eine gute Lösung gefunden zu haben, nimmt man einen Übungspartner, der einem beispielsweise mit beiden Händen gegen den Oberkörper drückt - und man schaut, ob der Partner einen in der Bewegung hindert oder auf einmal irgendwie doch recht leicht "mitgenommen" wird.


    Gruss, Thomas
    Erschrickstu gern / keyn fechten lern

  2. #2
    rudongshe Gast

    Standard

    Meine simple Definition ist mittlerweile: wenn ich mich nicht mehr anpassen kann, steckt irgendwo ne Doppelgewichtung.

    Das heißt ich denke das nur noch funktional-situativ, nicht mehr vom solo-Körper her (auch wenn der natürlich daran beteiligt ist).

    Grüetzi

  3. #3
    pilger Gast

    Standard

    Hallo Thomas,

    du hast einen sehr interessanten Artikel geschrieben. Die entgegengesetzten Bewegungen im Geist, bzw die daraus resultierenden Mikrobewegungen sind bestimmt kein schlechter Ansatz zum Überwinden der doppelten Gewichtung. Allerdings sehe ich ein paar zusätzliche Aspekte:

    Für mich bezieht sich die doppelte Gewichtung nicht nur auf die Beine sondern auch auf die Arme. Wenn ich z.B. jemanden mit beiden Händen gegen den Oberkörper pushe, sehe ich auch zu, dass ich eben nicht gleichzeitig mit beiden gleich kraftvoll pushe sondern mit dem einen eher pushe und mit dem anderen sozusagen führe. Oder wenn es kein kurzer knackiger Push sondern ein etwas längerer ist, versuche ich, während des Pushs die Hände zu wechseln. Zwar bleiben beide Hände immer in Kontakt mit dem Partner, aber ich wechsele in der Hand die pusht und der Hand die sozusagen lenkt. Zumindest versuche ich es Klappt manchmal gut manchmal verwurschtele ich mich aber auch dabei

    Soviel kurz zu meinen Gedanken der doppelten Gewichtung.

    LG
    Pilger

  4. #4
    Registrierungsdatum
    10.12.2004
    Ort
    Nahe Bonn
    Alter
    44
    Beiträge
    3.741
    Blog-Einträge
    1

    Standard

    Hallo Pilger

    Natürlich Ich sehe das genauso - Also ich wollte mich jetzt nicht auf die Beine beschränken, die DG greift immer, wenn der Körper sich irgendwo arretiert und passiv stützt bzw Kraft gegen Kraft arbeitet.

    Gruss, Thomas
    Erschrickstu gern / keyn fechten lern

  5. #5
    Kamenraida Gast

    Standard

    allo Thomas, zunächst danke. Guter Artikel, spannendes Thema.

    Ich gehöre allerdings zu denen, die das Thema anders sehen. Das fängt bei den Worten an. Geht es wirklich um die doppelte Gewichtung oder aber um die "doppelte Schwere", wie ich glaube. Wäre schön, wenn einer der sinologen hier etwas dazu sagen könnte.

    In der Sache: die Wortwahl "doppelte Schwere" verschiebt den Fokus von rechts/links (Beine) aufe oben/unten, also Oberkörper/Unterkörper.

    Doppelte Schwere (ds) entsteht, wenn der Körper nicht geöffnet ist und die Haltespannung des Körpers nicht in die Beine sinken kann. Dann ist auch keine Bewegungssteuerung aus dem Zentrum möglich.

    Allerdings gebe ich zu, dass dieses Bild au h von deiner Forderung nach Leichtigkeit von der ersten Bewegung an abweicht. Die Beine werden erst einmal schwer und zugegebenermaßen immobiler. Aber das ist Übergang.

    Ein korrektes durchsinken führt dazu, dass der Körper eben auch bei druck nicht "arretiert", sondern frei bleibt, und damit wandeln kann. Das zeigt sich im ph, wo ich den anderen dur h Druck in der tat in eine starre Brücke zwinge, selbst aber beweglich bleibe, bzw frei zb zum pushen/schlagen.

    Ist alles im Grenzbereich von Sprache, von daher schwer im Forum zu diskutieren

  6. #6
    gast Gast

    Standard

    Zitat Zitat von T. Stoeppler Beitrag anzeigen

    "von der ersten Bewegung an leicht und wendig"

    "nicht am Gegner aufzuhängen"

    Ich finde das Thema über die doppelte Gewichtung auch sehr interessant. Vielleicht wird hier sogar die Grundfertigkeit angesprochen, auf der das gesamte Handwerk der Kampfkünste aufbaut.

    Ich denke das Hauptaugenmerk sollte hier vielweniger auf der "traditionellen" Ebene der Beine, des Standes gelegt werden, sondern vielmehr, auf was mit dem Gegensatzpaar "shuangzhong" und "danzhong" vielleicht grundsätzlich hingewiesen worden sein könnte.

    Meinem Gefühl und Erfahrung nach liegt der springende Punkt hier, wie auch schon von anderen in der Diskussion angedeutet, viel mehr auf der Gesamtfähigkeit "ganzheitliche, lebendige Bewegung" machen und aufrechterhalten zu können (gerade auch unter Druck und Stresssituation mit Partner oder Kampf). Denn hat man erstmal gelernt sich selbst ganzheitlich und lebendig zu bewegen (d.h. ich habe das Problem der Schwere meines Körpers im Verhältnis zur Gravitation gelöst), dann kommt im nächsten Schritt dazu, wie kann ich mich unter Krafteinwirkung eines Gegenüber weiterhin optimal ganzheitlich und lebendig bewegen.
    "Shuangzhong" und "danzhong" sehe ich also eher als Gegensatzpaar wie im deutschen "plump" und "agil". Wobei agil nicht bedeutet, dass man sich ständig wie ein Affe bewegt. Sondern agil meint hier in [B]jeglicher[B] Stellung, auch in Ruhe, stets in der Lage zu sein sich in jeder Form den Umständen entsprechend lebendig und Kraftökonomisch effektiv, und eben nicht plump, verhalten zu können. Das ist denke ich auch der Anspruch den die Taiji Klassiker haben, wie Thomas ja auch so schön zitiert hat. Jedenfalls hat das Problem "danzhong -shuangzhong" in den Klassikern noch nichts mit gewissen Positionen zu tun gehabt, sondern hat meiner Meinung nach vielmehr von einem Prinzip, einer Grundfertigkeit gesprochen, auf der aufbauend ein Sinnvolles Training überhaupt erst stattfinden kann.

    LG

  7. #7
    Registrierungsdatum
    10.12.2004
    Ort
    Nahe Bonn
    Alter
    44
    Beiträge
    3.741
    Blog-Einträge
    1

    Standard

    @Kamenraida
    @beniwitt

    Danke für eure Beiträge - ja, sehe ich auch so!

    Gruss, Thomas
    Erschrickstu gern / keyn fechten lern

  8. #8
    Martin N. Gast

    Standard

    Lieber Thomas, danke für den interessanten Artikel.

    Die Kurz"definition" von Rudongshe "wenn ich mich nicht mehr anpassen kann, steckt irgendwo ne Doppelgewichtung" kann ich nur unterschreiben und bestätigt ja auch Deinen Ansatz.

    Aus meiner Erfahrung, kann ich sagen, dass die Situationen der doppelten Gewichtung vor allem dann entstehen, wenn ich zuviel will oder Angst eine Rolle spielt. Da nutzen dann alle technischen Finessen wenig und der Weg ist für mich eher ein emotionaler/mentaler.

  9. #9
    Kamenraida Gast

    Standard

    Mir erscheint die Kurzdefinition von Rudongshe - auch die verwandten anderen Posts - ungefähr so sinnvoll wie die Aussage: Wenn ich im Körper verhärte, mache ich kein Taichi.

    Wieso sollten die ollen Chinesen von doppelter Gewichtung sprechen, wenn sie eigentlich was ganz anderes meinen? Und wieso sollte sich ausgerechnet hinter diesem Begriff eigentlich etwas ganz und gar allgemeines verbergen?

    Ich glaube, dass damit etwas spezielleres gemeint ist, aber eben nicht einfach nur: Hab das Gewicht nicht auf beiden Beinen gleichzeitig.

    Nochmals die Bitte an die Sinologen: Wie lautet die Phrase im Original und gibt uns das Hinweise?

  10. #10
    gast Gast

    Post

    Zitat Zitat von Kamenraida Beitrag anzeigen
    Mir erscheint die Kurzdefinition von Rudongshe - auch die verwandten anderen Posts - ungefähr so sinnvoll wie die Aussage: Wenn ich im Körper verhärte, mache ich kein Taichi.

    Wieso sollten die ollen Chinesen von doppelter Gewichtung sprechen, wenn sie eigentlich was ganz anderes meinen? Und wieso sollte sich ausgerechnet hinter diesem Begriff eigentlich etwas ganz und gar allgemeines verbergen?

    Ich glaube, dass damit etwas spezielleres gemeint ist, aber eben nicht einfach nur: Hab das Gewicht nicht auf beiden Beinen gleichzeitig.

    Nochmals die Bitte an die Sinologen: Wie lautet die Phrase im Original und gibt uns das Hinweise?

    Ehrlich gesagt, so viele Stellen kenne ich aus den Klassikern gar nicht. Aber es gibt eben auch nicht die "Original Phrase". Hab mal noch eine elektronische Schnellsuche bei Google gemacht und alles was ich finden kann wo explizit über das Problem "dan-shuangzhong"geredet wird, sind Texte aus der Tradition des Xingyiquan: nämlich Guo Yunshen, sowie Wang Xiangzhai. Beide reden dabei nicht von Gewichtsverteilung, sondern meinen, wie ich schon gesagt hatte, so etwas wie der Gegensatz "plump sein" und "agil sein"……. Im Klassiker von Wang Zongyue gibt es auch noch eine Stelle, mit der hier wohl die "Originalphrase gemeint war, welche aber von einem Prinzip und nicht von einer Stellung redet. Auch taucht dort nur der Begriff "shuangzhong" auf.

    Zur Bedeutung der beiden Worte:
    "zhong" bedeutet Gewicht; schwer; doppelt (Aussprache "chong")
    "shuang" bedeutet doppelt; beidseitig; zwei auf sich bezogen.
    "shuangzhong" kann also als Prinzip im weitesten Sinne verstanden erst einmal einfach bedeuten Schwerfällig zu sein. Zwei Gewichte treffen aufeinander und das eine arbeitet gegen das andere.
    Auf den einzelnen Menschen bezogen ist es eine doppelte Beziehung Mensch-Erde: man ist nicht in der Lage seinen Körper im Verhältnis zur Erde so auszusteuern, das die Kräfte nicht einfach nur plump aufeinanderprallen, sondern ich mir die Schwerkraft zu Nutze mache. Das wäre dann "Danzhong": mein Körper bildet mit der Kraft die in die Erde hineingeht eine Einheit und holt sich durch seine ganzheitlich, lebendig ausgerichtete Struktur Kraft aus der Erde. (Das hört sich geschwollen an, bedeutet aber letztendlich einfach nur, dass wenn ich mich abdrücke von der Erde, sich diese Kraft nicht in meinem Körper bricht und verliert. Ich meine Kraft ganz einfach gesagt sehr lebendig und effektiv einsetzen kann). Das ist erstmal die Grundvorraussetzung sinnvoll IMA (vielleicht sogar KK in Allgemeinen) praktizieren und effektiv trainieren zu können. Das ist nun nicht das Monopol der IMA oder chinesischen Stile, sondern es gibt Menschen, die diese Fähigkeit ganz natürlich beherrschen und unbewusst umsetzen und es gibt Menschen, die sich diese Fähigkeiten auf Mühsame Weise über Verständnis aneignen.
    Dasselbe Spiel wiederholt sich nun, wenn ich das Problem mit der Erde gelöst habe, und mich als Kampfkünstler nun mit einem Gegenüber konfrontiert sehe. "danzhong", lebendig und agil zu sein verstehe ich dabei aber nun nicht so, dass ich die Kraft meines Gegners immer nur aufnehme und ableite, wie es im Taiji oft bis zum extrem als Ideal verfolgt wird, sondern meine Körperintelligenz sagt mir, wie ich mich eben Sinnvoll und agil verhalten soll, dass die Kräfte nicht einfach nur in gegenseitiger Schwerfälligkeit aufeinander herumdrücken. Das kann bedeuten, dass wenn ich wahrnehme, dass ich stärker bin als mein Gegenüber/oder seine Kraft im richtigen Moment abfange, ich auch sehr wohl seine Kraft direkt annehmen und ohne sie abzuleiten mit genug Druck direkt brechen kann. Es bedeutet auch, dass mein Gegenüber mit meiner Kraft nur Schwer umgehen kann, da er sie nicht richtig verstehen kann, es eben keine plumpe Kraft ist, sondern sie immer wieder neu und lebendig hervorquillt.

    Vom meinem Verständnis her ist es wie gesagt nicht etwas, das sich in eine Form pressen lassen könnte, sondern es ist ein Prinzip des nicht schwerfälligen, sinnvollen Umgehens mit Kraft, was aber je nach Umständen immer anders sein kann. Gerade im Einzeltraining ist es bei gleichmäßiger Verteilung des Körpergewichts auf beiden Beinen viel einfacher "danzhong" zu spüren, als wenn ich recht extrem das Gewicht auf ein Bein verschiebe und das andere Bein ganz leer mache (extreme Form von Santi). Wenn man so steht verhärtet sich das Gewichtstragende Bein relativ schnell, und es tritt genau die besagte Plumpheit und Schwerfälligkeit ein.
    Von aussen könnte Santi so aussehen, als ob der Schwerpunkt auf dem hinteren Bein liegt und das vordere Bein relativ leer ist. Man kann jedoch ohne den Schwerpunkt zu verschieben, das vordere Bein schwer machen/voll machen, so dass im Verhältnis zum hinteren Bein sogar mehr fülle drin ist, man das hintere Bein sogar kurzfristig ganz leer machen kann.
    Gerade die hohe Mabu-Stellung eignet sich sogar bestens, da die Muskeln sich nicht einseitig verspannen, ein Gefühl für eine gewisse stehende Lebendigkeit zu bekommen. Eben wie eine Art reiten im Zeitlupentempo oder die das ständige anschwellen der Meeresbrandung.
    Deswegen wird auch immer wieder betont, dass das wichtigste an der Körperhaltung nicht die Frage des Schwerpunkts (zhong4xin1) ist, sondern die Frage der Mitte an sich (zhong1xin1)! Mitte wird dann in Verbindung gebracht mit dem Ausdruck (zhong1he2), "Ausgeglichenheit/Harmonisiertheit der Gegensätze", welches als höchstes Ideal Im Konfuzianismus gilt. Sun Lutang hat den Begriff zhonghe auch mit Taiji gleichgesetzt: das lebendige, aber harmonisierte Wirken der Kräfte (Vorne-hinten; oben-unten; links-rechts; Mensch-Erde; Mensch-Gegenüber usw). Prinzipien eben, die ganz konkret und speziell auf die Kampfkünste angewendet werden können, aber auch ein sehr viel weiteres Bedeutungsspektrum haben.

    Ich finde eben gerade, dass das, was als allgemein erscheint, auf etwas bestimmtes bezogen, eigentlich etwas sehr konkretes und spezielles ist. Angewendet auf die IMA hat es eben gerade dadurch, dass es ein Prinzip ist und keine Form ist, eben eine ganz spezielle und konkrete Bedeutung, einen Anspruch an den Praktizierenden und stellt meiner Meinung nach die Grundlage für jede Form von kraftvoller, gesunder, intelligenter und Sinnvoller Bewegung dar, welches sich für mich ohne viel phantasiererei ganz plausibel aus dem Begriffspaar heraus erklärt.
    Ich halte die eingefahrenen Interpretationen, die dem Begriff eine ganz konkrete äussere Form geben wollen eigentlich für viel problematischer, da sie schon so sehr Allgemeingut geworden sind, dass viele sich schwer tun damit offen zu sein für andere Interpretationen. Erschwerend kommt noch hinzu, dass viele auf Übersetzungen und Interpretationen angewiesen sind. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wenn man manchmal einen Schritt aus dem ganzen was man tut heraustritt und sich die Sache einmal versucht von aussen, ausserhalb der Form anzuschauen, Form und Stil mal kurz beiseite zu legen, man oft auch ohne Klassiker und chinesischer Sprache zu ganz schönen und Aufschlussreichen Erklärungen und Erkenntnissen kommt.

  11. #11
    martin3 Gast

    Standard

    Spannende Diskussion!

    Hier ein kleiner Artikel dazu aus der Wu-Ecke:

    Zum Verständnis von keine „doppelte Schwere“ haben und „neutralisieren“ können

    Von Li Renliu (übersetzt von Martin Bödicker)

    Aus dem Vereinsmagazin Nr. 4, S. 2 der Jianquan Taijiquan Association Shanghai vom 15.1.1982

    Die Tai Chi-Ecke: Artikel: Zum Verständnis von keine „doppelte Schwere“ haben und „neutralisieren“ können

    Gruß

    Martin

  12. #12
    Registrierungsdatum
    31.08.2001
    Ort
    NRW
    Beiträge
    20.068

    Standard

    Ich denke dass es was einfaches ist. Also nix unglaublich komplexes wo man nicht mal erklären kann was das eigentlich genau ist, sondern eher ein normales typisches Konzept. Ich bin mal so frei zu sagen, es gibt nur einen "Groundpath" und der endet irgendwo. Im Fuss, in der Masse, an irgendwelchen Kontaktpunkten zu etwas das Halt gibt. Der kann im vorderen Fuss enden, oder im hinteren. Mehr nicht. Und er darf und soll auch wechseln, um einem Angreifer wenig zu helfen Ansätze zu finden.
    "Man kann Leuten nicht verbieten, ein ***** zu sein." (Descartes)

  13. #13
    gast Gast

    Standard

    Zitat Zitat von martin3 Beitrag anzeigen
    Spannende Diskussion!

    Hier ein kleiner Artikel dazu aus der Wu-Ecke:

    Zum Verständnis von keine „doppelte Schwere“ haben und „neutralisieren“ können

    Von Li Renliu (übersetzt von Martin Bödicker)

    Aus dem Vereinsmagazin Nr. 4, S. 2 der Jianquan Taijiquan Association Shanghai vom 15.1.1982

    Die Tai Chi-Ecke: Artikel: Zum Verständnis von keine „doppelte Schwere“ haben und „neutralisieren“ können


    Hallo Martin,

    Interessanter Artikel. Habe ihn gerade durchgelesen, frage mich aber trotzdem wie denn so grundlegende Fragen zu verstehen sind.
    Z.B:

    Wie würdest du denn neutralisieren verstehen? Wäre einer Kraft direkt entgegenzuwirken um sie zu brechen/neutralisieren auch noch neutralisieren für dich, oder hat neutralisieren für dich immer etwas mit ableiten zu tun? Oder ist es vielmehr etwas, was eigentlich grundsätzlich offen und immer Situationsabhängig ist?

    Wie siehst du das zu den Grundprinzipien des Taiji?

    Hier würden wir auch schon zu dem auch sehr spannenden Thema der Kraft kommen. Wie soll man das "keine Kraft" benutzen im Taiji zu verstehen? …..
    Da wären wir ja vielleicht auch schon wieder beim Problem der Plumpheit ("doppelten Gewichtung")

    Liebe Grüße

    Benjamin

  14. #14
    martin3 Gast

    Standard

    Hallo Benjamin,

    Ja, der Kampf um die richtigen Worte ist nicht einfach. Ich will hier also nur für den Wu-Stil nach Ma Jiangbao sprechen, so wie ich es gelernt habe. Heißt nicht, dass dies für jeden hier so richtig sein muss.

    Leider sind die Begriffe in ihrer Definition nicht klar voneinander getrennt - stattdessen überlappen sie einander (ein Kennzeichen vieler traditioneller chinesischer Fachbegriffe).

    Neutralisieren habe ich als Überbegriff kennengelernt. Beim Neutralisieren sollte man der Kraft des anderen nicht mit größerer Kraft entgegenwirken.

    Der eigentliche Vorgang des Neutralisierens kann durch weitere Begriffe differenziert beschrieben werden, z.B.:

    Bremst man die hereinkommende Kraft vollkommen elastisch ab und federt den anderen zurück, nennen wird das peng.

    Leitet man die hereinkommende Kraft mit geringerer Kraft in einen neue Richtung ab, nennen wir das Lü.

    Es wird also durchaus Kraft eingesetzt, aber wir folgen (oder versuchen es zumindest) dem Motto von Ma Yueliang: Benutze weniger Kraft und bessere Technik.

    Hilft das?

    Gruß

    Martin

  15. #15
    Registrierungsdatum
    31.08.2001
    Ort
    NRW
    Beiträge
    20.068

    Standard

    Ist auch die nettere Variante.
    "Man kann Leuten nicht verbieten, ein ***** zu sein." (Descartes)

Seite 1 von 2 12 LetzteLetzte

Aktive Benutzer

Aktive Benutzer

Aktive Benutzer in diesem Thema: 1 (Registrierte Benutzer: 0, Gäste: 1)

Ähnliche Themen

  1. Das Problem "Shoyoroll" ( Gi + Patch - Suche )
    Von pseud0 im Forum Equipment
    Antworten: 1
    Letzter Beitrag: 30-01-2013, 09:18
  2. Mehrere Ziele und kleines "Problem"?
    Von Pecuni im Forum Anfängerfragen - Das Forum für Kampfkunst-Einsteiger
    Antworten: 6
    Letzter Beitrag: 08-07-2011, 17:08
  3. Antworten zu "Was kann ich tun, um dieses Problem in den Griff zu bekommen?"
    Von kalleernst im Forum Selbstverteidigung & Anwendung
    Antworten: 4
    Letzter Beitrag: 27-11-2009, 15:40
  4. Problem bei der "kleinen Idee" der SLT...
    Von lebowski im Forum Archiv Wing Chun / Yong Chun
    Antworten: 114
    Letzter Beitrag: 21-09-2009, 22:03
  5. Rolle vorwärts - Methodik bei "Problem-Kindern"
    Von bergischland im Forum Trainingslehre
    Antworten: 9
    Letzter Beitrag: 23-02-2008, 21:32

Forumregeln

  • Neue Themen erstellen: Nein
  • Themen beantworten: Nein
  • Anhänge hochladen: Nein
  • Beiträge bearbeiten: Nein
  •