Zitat von
Gibukai
Hallo,
zumindest sind wir uns einig, dass wir uns widersprechen. In der Karate-Welt gibt es eine wiederkehrende Rhetorik, die diesem Muster folgt:
„Was, Du erkennst Zen nicht im Karate!? – Ja, o. k., Du bist ein Europäer, und ‚man‘ hat Dir das nicht erklärt. Wenn Du aber einmal weißt, was gemeint ist, dann erkennst Du Zen überall im Karate.“
„Was, Du erkennst Ch’i-Kung nicht im Karate!? – Ja, o. k., Du bist ein Europäer, und ‚man‘ hat Dir das nicht erklärt. Wenn Du aber einmal weißt, was gemeint ist, dann erkennst Du Ch’i-Kung überall im Karate.“
In das Muster können genauso gut andere Schlagworte wie „Bunkai“ oder „Visualisierung“ fallen. Ich bestreite nicht (!), dass heute (!) verschiedene Leute „Zen“, „Ch‘i-Kung“, „Bunkai“ oder eben „Visualisierung“ mit dem verknüpfen, was sie selbst (!) als Karate betreiben und/oder verkaufen (ideologisch und/oder materiell). Ich kritisiere jedoch historische Verallgemeinerungen („Zen“, „Bunkai“, „Visualisierung“ usw. waren Teil des herkömmlichen Karate) sowie die verallgemeinernde und häufig auch chauvinistische Übertragung fremder Erfahrungs- und Glaubenswerte auf meine konkreten (!) Erfahrungen („Weil es bei und so ist, muss es auch bei Dir so sein[, andernfalls taugt es nichts].“).
Ich wählte das Beispiel mit H. Nishiyama sehr bewusst, weil ich durch Trainingsteilnahme weiß, was und wie er unterrichtete. Ich weiß, dass er ganz konkrete Handlungsanweisungen gab. Ich weiß zudem, dass er von einigen Leuten gehörig missverstanden wurde, weil diese Leute viel weniger Einblick in seinen Unterricht hatten als ich (und fraglos war mein Einblick auch begrenzt). Sie setzen ihn mit der modernen „Bunkai“-Bewegung in Verbindung, weil er öfter das englische Wort „Application“ nutze. Allerdings hatte das absolut nichts mit „Bunkai“ zu tun, wie es heute üblicherweise verstanden wird. Ebenso kann ich nachvollziehen, dass einige seiner konkret körperlichen Anweisungen als mögliche „Visualisierung“ verstanden werden können, obwohl sie nicht als solche gemeint waren. Um solch eine Frage erörtern zu können, ist es also zunächst mal von Bedeutung, wie intensiv die Erörternden am Training usw. des besprochenen Lehrmeisters teilnahmen. Hinzu kommt, dass Trainingsteilnehmer allzu gern auch mal ihre eigenen Vorstellungen zwischen sich selbst und den Lehrenden stellen, so dass es zu einer Vermischung von Vorstellungen oder gar keiner echten Wissensvermittlung kommt („Kenn‘ ich, ist genau das, was ich eh schon mache!“). Nachdem ich Training bei H. Nishiyama hatte, hatte ich Training im JKA-Hauptquartier in Tōkyō. Der Qualitätsunterschied und die Unterschiede im Bewegungsverständnis und konkreter Technik waren groß – eine „einheitliche Lehrmeinung“ hätte ich da nur auf harter Droge und mit Fantasie ausmachen können …
In den von mir übersetzen alten Texten verschiedener Karate-Pioniere lese ich vor allem konkrete Handlungsanweisungen. Diese sind vergleichbar mit konkreten Handlungsanweisungen der zwei für mich technisch besten Karate-Lehrmeister, denen ich begegnete (ein Okinawaner, ein Japaner). Für mich sind das keine „Visualisierungen“, weil ich nicht visualisiere, sondern körperlich handle.
Ein letzter Punkt: ich schrieb bereits, dass für mich (!) die spezifische Wirkung am Trainingspartner Maßstab für den Grad meiner Krafterzeugung ist. Wenn „Visualisierung“ überall im Karate zumindest in vermeintlichen Eliten eine tragende Rolle spielte, dann müssten diese Karate-Eliten vergleichbare Effekte am Trainingspartner erzielen können. Nun sah ich viele, viele technische Vorführungen und agierte auch manchmal als Prügelknabe für hochrangige Vertreter verschiedener Richtungen – was bei mir ankam (visuell oder technisch [geistig klammere ich mal ganz aus]) war in den meisten Fällen ein fader Eindruck. D. h. – nur angenommen falls „Visualisierung“ von ihnen zur Krafterzeugung genutzt wurde – der Nutzen ihrer „Visualisierung“ riss zumindest mich nicht vom Hocker … O. k., wahrscheinlich hab ich schon wieder zu viel geschrieben.
Grüße,
Henning Wittwer