Hey Leute,
ich liebe Geschichten zum Nachdenken, aber bei dieser komme ich nicht weiter:
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Der Friedhof lag im schwachen Licht der Mondsichel. Eine Eule schrie, flog aus ihrem Versteck und stieß zwischen den Bäumen auf der anderen Seite herab. Sonst blieb die Nacht still. Er merkte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug. Dies war eine echte Mutprobe.
Die anderen Schüler waren verschwunden. Der Cheftrainer hatte ihnen gesagt, dass sie eine Zeitlang allein auf dem Friedhof bleiben sollten. Er konnte spüren, wie sich die Haare in seinem Nacken sträubten.
Lass deine Gedanken nicht verrückt spielen! Schau, wie sie dich erschrecken wollen! Wir haben bereits früher über den Tod gesprochen. Der Tod ist das Unbekannte, Was du fürchtest, ist das Bekannte, deine Vorstellungen vom Tod, nicht die Wirklichkeit des Todes.
Das hatte sein Lehrer beim letzten Treffen gesagt. Sie hatten über den Tod gesprochen - den Tod des Körpers und des Ego, dieser Anhäufung von Gedanken und Erinnerungen, die das ICH ausmachen. Aber in dieser Nacht war ihm nicht mehr so klar, was damals so klar zu sein schien. Der Schüler fühlte sich allein, überwältigt von der Wirklichkeit des Friedhofs.
Um ihn herum standen die Monumente des Todes: Steinblöcke mit Namen, Daten und Abschiedsworten. Die Gegenwart der Toten um ihn herum, die Stille, das Ende aller Lebendigkeit wirkten deprimierend. Er versuchte seine wirbelnden Gedanken einzufangen, als sie begannen, in Geister- und Totenphantasien auszuarten. Ihn schauderte. Immer wieder bemühte er sich mit aller Kraft, sich von seinen Phantasien zu lösen und seinen Geist auf das zu richten, was wirklich da war.
Obwohl die Herbstnacht warm war, fühlte er sich kalt bis in die Knochen. Die Bäume verwandelten sich in menschenähnliche Gestalten. Die Eule schrie erneut, stieß plötzlich aus der Dunkelheit herab und stürzte sich mit ausgebreiteten Schwingen auf ein ahnungsloses nächtliches Geschöpf.
Aus dem weichen Boden unter seinen Füßen stieg ein feuchter Geruch auf. Die Grabsteine, errichtet zum Gedenken an die Toten, erinnerten ihn daran, dass es für alles, was er kannte, einmal ein Ende geben würde. Kalter Schweiß brach ihm aus und ein Gefühl der Leere, das keine Antwort füllen konnte, wollte ihn überwältigen. Dies war die Leerheit, jener Abgrund, den die Menschen so sehr fürchten. Und er stand mittendrin. Er bildetet sich ein, dass Geisterhände sich aus dem Boden streckten, nach seinen Beinen griffen und ihn hinabrissen. Sein ganzer Körper war naß, und seine Augen schmerzten von dem Versuch, das Dunkel zu durchdringen. Er war bereit für die Prüfung.
Ein Schatten glitt durch sein Blickfeld und instinktiv ging der Schüler in Kampfstellung. War das ein Mensch oder ein Geist? Sein Herz schlug noch schneller und seine Muskeln krampften sich zusammen. Was es auch sein mochte - er war bereit.
Kannst du unterscheiden zwischen dem, was wirklich vorhanden ist, und dem, was nur in deinen Gedanken, in deiner Einbildung existiert? Kannst du die Absicht, dich anzugreifen, erkennen, bevor der Angreifer sie in sich selbst verspürt? Dies ist die Kunst der Wahrnehmung dessen, was geschehen wird, vielleicht nur einen Sekundenbruchteil, bevor es wirklich passiert. Diese Art von Wahrnehmung gehört zu den subtilen Fertigkeiten eines Meisters der Kampfkunst. Sie versetzt ihn in die Lage, mögliche Gefahren auszuschalten, bevor sie Schaden anrichten können.
Das hatte ihm sein Meister gesagt, und dessen klare, starke Worte gingen ihm jetzt durch den Kopf.
Der Schatten nahm Form an. Eine dunkle, mächtige Gestalt tauchte hinter dem größten Grabstein auf. Vom Boden in den schwarzen Himmel aufragend, erhob sie sich zu erschreckender Größe. Das schwache Licht der Mondsichel warf einen trüben Schatten in seine Richtung. Wie zu Eis erstarrt, verharrte der Körper des Schülers in Kampfstellung. Seine Beine waren hart wie Beton, und seine Augen starrten voller Schrecken auf die Riesengestalt.
Der Schüler spürte, wie ein Schrei von tief unten aus seinem Bauch ertönte. Er stieg hoch bis zur Kehle, blieb dort stecken und hob sich dann - nur noch als Gedanke - zum Gehirn empor. Während er auf die Anzeichen eines Angriffs wartete, beobachtete er jede Einzelheit der Geistergestalt. Plötzlich wurde das Bewußtsein des Schülers ganz leer.
Und wie eine Welle in den Ozean zurücktaucht, versank die überwältigende Furcht des ersten Moments dieser Begegnung. Nur ein gesteigertes Gefühl der Wachheit blieb zurück. Zeit und Welt schienen völlig stillzustehen.
"Was machst du hier?" polterte die riesige Totenstatue mit brüchiger, tiefer Stimme.
"Wer bist du, der mich fragt?" hörte er sich antworten, überrascht von seiner ruhigen beherrschten Stimme, die klang, als ob der erschrockene Junge verschwunden und ein selbstbewußter Kämpfer an dessen Stelle getreten wäre. Die dunkle Gestalt vor ihm begann ihre gespenstige Form zu verlieren und menschlichere Dimensionen anzunehmen. Sie trug einen schwarzen Mantel und einen Hut mit so breiter Krempe, dass der Schüler nicht erkennen konnte, wer sich darunter verbarg.
"Und wer bist du?" dröhnte die tiefe Stimme. Die Gestalt schien mit dieser gebieterischen Frage zu wachsen. Der Schüler wußte, worum es ging.
"Ich bin Furcht, da ist nichts als Furcht!" erwiderte der Schüler mit Selbstvertrauen.
"Weißt du, was der Tod ist?" ertönte die Stimme der Riesengestalt von neuem.
"Der Tod ist das Unbekannte", antwortete der Schüler mit noch größerer Sicherheit.
"Wenn der Tod das Unbekannte ist, was gibt es dann zu fürchten? Wer oder was stirbt?"
"Die Furcht stirbt, das Ich stirbt, und dann ist kein Tod mehr", sagte der junge Schüler mit Gewißheit.
"Gut, du hast deine Lektion gelernt, mein Junge. Du hast dein Ich, Furcht und Tod besiegt, die alle ein- und dasselbe sind. Verstehst du das?" bohrte die tiefe Stimme weiter.
"Ja. Ich habe begriffen, was Sie mich gelehrt haben. Ich erkenne, dass dies für mich die größte Herausforderung beim Kampfkunsttraining ist", erwiderte der Schüler, der in der Gestalt seinen Lehrer erkannt hatte.
"Nun übe deine Kata, bis dein Geist ganz frei von allen Gedanken an Furcht und Tod ist, von allen Gedanken an dich selbst. Richte deine Aufmerksamkeit auf jede einzelne Bewegung, so als würdest du sie zum ersten Mal ausführen! Übe nicht aus Routine, denn sonst wird dein Geist abschweifen, und Furcht kann sich einschleichen. Ist dir das klar?"
"Ja, sensei", erwiderte der Schüler mit fester Stimme. Und unter den Augen seines Lehrers, der ruhig vor ihm im Gras saß, übte er seine Kata mit voller Achtsamkeit. Die Bewegungen seines Körpers waren präzise und kraftvoll. Sein Geist blieb ganz bewußt auf jede Bewegung gerichtet. Von seinem Platz zwischen den Grabsteinen auf dem vom Mond schwach beleuchteten Friedhof schaute sein Lehrer ruhig zu. Das Gefühl der Furcht verschwand und Ruhe trat an seine Stelle. Die Nacht war ganz still. Zwei Gestalten auf einem nächtlichen Friedhof: die eine bewegte sich in einem konzentrierten Tanz, die andere beobachtete aufmerksam, und beide befanden sich dabei jenseits der Zeit.
(aus Terrence Webster-Doyle: "Im Labyrinth des Feuerdrachen - Erzählungen der Meister der Leeren Hand")
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Und jetzt eine Frage zu dieser Textstelle:
"Du hast dein Ich, Furcht und Tod besiegt, die alle ein- und dasselbe sind."
Wie kann das alles dasselbe sein, und auf welche Weise hat der Schüler das alles besiegt? Ich verstehe das nicht.
Und diese Textstelle:
"Die Furcht stirbt, das Ich stirbt, und dann ist kein Tod mehr"
Man stirbt, und dann gibt es kein "Ich" mehr - also ich glaube an Gott und daran, dass ich nach dem Tod weiterlebe Und warum soll, wenn man schon glaubt, dass das "Ich" stirbt, kein Tod mehr sein???