Wir haben ja hier in letzter Zeit lang und breit diverse Defizite von diversen Wing Chun Linien diskutiert, zum Beispiel im Bereich Sparring, und insbesondere auch das zu kurz kommen von Bodenkampf in manchen Linien, welches (wie beim Sparring) vereinzelt sogar bis zum absurden Leugnen seiner Bedeutung geht. Ich möchte hier ein weiteres Thema diskutieren, welches ich ebenfalls analog zu den oben genannten Themen als weit verbreitetes Defizit einschätze:

Der Verzicht auf eine der effektivsten und häufigsten Techniken mit den Beinen, auf den Low-Kick.
  1. Wie ist das bei Euch grundsätzlich?
  2. Wird das geübt? Wie wird das geübt? Gerne auch technische Details wie Knieführung, Abwehr, Trefferbereiche etc.
  3. Wird es als Stilbestandteil gesehen, oder nur als "Fremdstilangriff"? Wie wird das mit dem Chi Sau / Chi Gerk und mit den theoretischen Elementen des Stils vereinbart?


Was haltet ihr von den folgenden Argumenten, die mir schon untergekommen sind:
  • "Man öffnet sich beim Low-Kick für einen Genitaltreffer."
  • "Damit kann man eh kein KO erzielen."
  • "Der eigene Stand wird dadurch gefährdet."
  • "Die Technik ist zu vorhersehbar."
  • "Das ist kein traditionelles Element von Wing Chun."


Aus meiner Sicht für das Acht Pattern Wing Chun beantwortet:

zu (1): Analog zum Bong Sau, wird im 8PWC der Bong Gerk als Angriff gesehen und geübt. Beide Techniken können im Ausnahmefall (bzw. in Chi Sau oder Chi Gerk Übungen) für ein "weiches Aufnehmen" einer Übungsbewegung des Trainingspartners benutzt werden. In der Praxis kann aber normalerweise nicht von weichem Aufnehmen die Rede sein, und dem Bong Gerk kommt dabei nicht nur als Reaktion, sondern auch als aktiver Angriff die Rolle eines Low-Kicks mit eng geführtem Knie zu. Getroffen wird mit dem Schienbein, als Ziel wird meist das Knie oder tiefer gewählt, sowohl Innenseite als auch Außenseite versteht sich.

zu (2): Wir üben LowKicks in der Jong Kuen Form (online leider nur die traditionielle Variante, die moderne 8PWC Variante hat in der 7. Sektion nach dem schattenlosen Tritt Bong und Jap Gerk anstelle der zwei normalen Kicks), rudimentär auch im Chi Gerk und Lat Gerk (hier leider auch nur die formale Grundübung online), aber vor allem an der Lowkick-Stange (die Anfänger-Sparringsprogramme werden in einer Playlist veröffentlicht, der Lowkick wäre das nächste in der Reihe, scheint aber noch nicht auf. Dafür sieht man die Lowkickstange in Matthias' Trainingsraum auf den meisten Videos) und im Sparring.

An der Holzpuppe wird das hingegen in der Regel NICHT geübt. Abhärtung erfolgt an der Lowkick Stange (die von Matthias, die ich mitbenutzen kann, ist unten mit Reis gefüllt und das fühlte sich für mich am Anfang wie Beton an) und am Trainingspartner; an der Holzpuppe sei das angeblich schädlich für die Nervenenden.

zu (3): Der Lowkick wird (wie auch horizontale Fausthaltung, Knieangriffe, Würfe, Takedowns und Bodenkampf, und noch so einiges anderes, was viele nicht vermuten würden) als ganz normaler Stilbestandteil gesehen.

Wir nehmen an, dass historische Vertreter oder Begründer eines Kampfstiles in der Regel Kämpfer waren, die nicht nur in legendären, epischen Kämpfen auf Leben und Tod gekämpft, und dann Formen erfunden und Bücher oder weise Sprüche aufgeschrieben haben, sondern ähnlich wie wir freies Sparring betrieben haben und sich dabei aller verfügbaren und geeigneten Mittel bedient haben. Da gab es sicher individuelle Unterschiede, die auf Faktoren wie Talent, Körperstruktur, Mentalität und vorherigen Ausbildungen beruhen - mancher kämpft halt kompakter, und andere öffnen sich mehr, das ist auch in modernen Wettkampfstilen so.

Aber wir wissen, dass im Wing Chun verschiedenste Stile zusammengekommen sind, und dass nicht alles gleichermaßen in Formen abgebildet wurde. Dennoch gibt es Techniken wie Bong Gerk, obwohl sie in keiner der überlieferten Versionen der Formen vorzukommen scheinen, und es gibt auch kein Motto, das besagt man könne im Wing Chun keine Capoeira Techniken verwenden, so sie sich denn aufgrund der Kampfsituation anbieten. Nicht einmal ein gesprungener Drehkick muss zwangsläufig den Wing Chun Prinzipien widersprechen. Auch im Chi Sau wird bei uns von Beginn an mit Kicks, Würfen etc. geübt, also im 8PWC kann im Chi Sau einfach mal ein Lowkick vorkommen, was für mich am Anfang sehr schwierig und ungewohnt war, jetzt aber Routine ist.

Es gibt dieselbe Diskussion ja auch bei den Fauststößen: Wing Chun hat einen Haken (horizontale Fausthaltung) und einen Uppercut (horizontale Fausthaltung, aber bitte bloß keinen normalen Fauststoß mit horizontaler Fausthaltung machen, denn sonst regnet es Schlangen und Kröten und die Erde wird in Feuer und Fluten untergehen. Wie bitte???

Da sind wir beim letzten Punkt, den ich nur aus meiner persönlichen Sicht beantworten kann: die Argumente gegen Lowkicks die ich bisher gehört hatte halte ich für Ausreden. Man will sich einfach nicht weh tun. Aber ich finde halt, wenn ich das nicht ernsthaft übe, und nicht ab und an auch mal Techniken im Sparring anwende oder kassiere, die viele andere Stile im Programm haben, werde ich diese Dinge auch nicht abwehren können. Und dass man mit einem Lowkick kein KO erzielen kann... Naja, die Leute die das sagen wären die ersten, mit denen ein guter Treter sehr schnell das Gegenteil beweisen könnte.

Ich bin gespannt auf Eure Meinungen.

Vielleicht können wir hier gesittet erst mal über Technik und Tradition diskutieren, und mit dem Bashing und dem speziellen Humor (ihr wisst wer aller gemeint ist ) wenigstens bis Seite 3 oder so warten?