Palisander (broschiert/2016)
ISBN 978-3-938305-96-6
250 Seiten
€ 21,90
Jeder, der sich in den letzten 40 Jahren mit Kampfkunst beschäftigt hat, ist irgendwann auf Dim-Mak gestoßen, oder auf eine der vielen verschiedenen Bezeichnungen, die es für das gezielte Attackieren von wichtigen Punkten am gegnerischen Körper noch so gibt. In den letzten Jahren hat sich im Bereich der Budo-Kampfkünste dann der Begriff des Kyusho-Jitsu verbreitet, der im Großen und Ganzen eigentlich das Gleiche meint. Hierbei wird durch direkte Angriffe mit Stößen, Reiben oder Druck versucht auf wichtige Punkte auf den Meridianen direkte und zum Teil vernichtende Wirkungen beim Gegner zu erzielen – und dies zum Teil mit erstaunlich wenig Kraftaufwand, wenn man vom Einsatz der eigenen Ki/Qi-Energie als zusätzlichen Verstärker einmal absieht.
Die Anwendung dieser Techniken setzt dann neben fundierten Kenntnissen in einer Kampfkunst auch eine ausgiebige Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Traditionellen Chinesischen Medizin voraus, und dabei insbesondere mit der Fünf-Elementen-Lehre und deren Bezug auf das menschliche Meridiansystem im Yin-Yang-Zyklus. Was die Sache schon etwas kompliziert macht.
Ausgehend von diesen Erfordernissen stellt Fritz Oblinger (7. Dan Shotokan, 8. Dan Stilloffenes Karate, 5. Dan Kyusho-Jitsu), der sich neben Karate auch mit Qi Gong, Capoeira und Meditation beschäftigt hat nach einer kurzen historischen Einordnung des Kyusho-Jitsu dann auch erst einmal die Grundlagen der Meridian-Kunde und die Methoden zum Auffinden der Vitalpunkte in den verschiedenen Meridianen vor, bevor er sich im Hauptteil auf die für die Kampfkunst relevanten Punkte konzentriert. Dabei werden immer eine Reihe von Punkten, ihre Lokalisierung, die Art, wie man sie attackieren sollte, die möglichen Wirkungen und auch die schnelle Aufhebung dieser Wirkungen dargestellt. Und hier liegt ein großes Problem dieses als Nachschlagewerk für den geübteren Praktizierenden konzipierten Buchs, dass sich sicherlich auch sehr viele weniger Geübte und auch viele blutige Anfänger zulegen werden. Die „Behandlungsmethoden“, das Kuatsu, sind im letzten Fünftel des Buchs verortet, so dass man dort erst einmal nach einigen Begriffen gucken muss, was bestimmt nicht allzu viele Leser tun werden. Und die Caveats, die sich auf die Anwendung „moderner“ Erster Hilfe beziehen befinden sich sogar noch dahinter. Wenn in einem Praxisteil Techniken gelehrt werden – begleitet von mehr oder weniger anschaulichen Anwendungsphotographien – dann sollten mindestens davor die Hilfsmaßnahmen bei Herzstillstand, Bewusstlosigkeit, Atemblockaden, Brüchen etc. erläutert werden – und auch, dass nach dem Eintreten solcher Zustände, dass der Betroffene gut daran tut, schnellstmöglich einen Arzt aufzusuchen. Dies sollte meines Erachtens nach jedes Mal mit erwähnt werden, wenn als Wirkungen einer Technik Herzstillstand, neurologische Erscheinungen oder Atemprobleme oder vergleichbare Traumata ein mögliches Ergebnis sind. In dieser Form empfinde ich die Darstellung für unverantwortlich. Die Menge und Deutlichkeit von Warnhinweisen ist nicht hinreichend. Und wer ungeduldig liest dürfte spätestens nach den Kuatsu-Beiträgen und vor dem Hinweis zur Ersten Hilfe aufhören.
Zwei kurze Zwischenkapitel – ebenfalls vor dem Kuatsu-Teil – beschäftigen sich (etwas ausgiebiger) mit Kiai-Jitsu und (etwas kürzer) mit einer Variante des Iron-Jacket-Qi Gongs. Man mag davon halten, was man will, aber speziell das Iron-Jacket-Qi Gong wird auch von vielen Praktizierenden der Traditionellen Chinesischen Medizin kritisch betrachtet und es ist extrem schwierig, dazu befähigte und erfahrene Lehrende zu finden. Und wahrscheinlich auch eher kontraproduktiv. Und es ist immer noch irritierend, dass nun ein paar Drillmuster kommen – bevor man lesen kann, wie man seine Trainingspartner wieder herstellt – und dass man diese Techniken nur etwa 20 Minuten in der Woche über die Woche verteilt trainieren soll.
Das Buch schließt mit dem Vorschlag für ein Prüfungsprogramm im Deutschen Karate Verband e.V. und einem Glossar von physiologischen Begriffen, die vielfach im Buch selbst gar keine Erwähnung finden. Außerdem gibt es nach eine Abkürzungsliste zu den Meridian- und Sonderpunkten, wie man sie auch aus der Akupunktur und Akupressur kennt.
Abgesehen davon, dass viele der beschriebenen Trefferwirkungen an den angezeigten Punkten erfahrenen Kampfkünstlern geläufig sein dürften, stellt sich die Frage, ob solch ein Wissen unbedingt eine weite Verbreitung finden sollte. Die Konzentration auf destruktive Wirkungen ist zum Teil schon ein wenig irritierend. Aus den erwähnten Kritikpunkten würde ich dieses Buch von vielen Wettkampfsportlern fernhalten wollen – und insbesondere von absoluten Anfängern. Gerade in der hier vorliegenden Struktur.
K.-G. Beck-Ewerhardy