da der Doc schon lange nicht mehr im Inet postet werden viele User ihn und seine genialen
Postings nicht mehr kennen; hier eines das mal vor Jahren gepostet wurde:
Das Geschäft mit der Angst
( von Doktor Heftig )
Über Kampfsport und die Finsternis der Realität
Als ich mit ungefähr zwanzig Jahren, also viel zu spät, in einer Hochschulsportgruppe mit dem Boxtraining begann, lag mir nichts ferner als der Gedanke an körperliche Auseinander-setzungen mit ernstem Hintergrund und blutigem Ausgang. Soviel Vergnügen es auch bereitete, sich mit dem Springseil zu verausgaben, Hunderte von Situps auszuführen, krachend die Handpratzen zu bearbeiten und beim lockeren Sparring Hiebe ebenso munter auszuteilen wie japsend einzustecken, so abwegig schien uns allen, immerhin Studenten aus sämtlichen Fakultäten, unsere Fertigkeiten in schummrigen Bars und verrufenen Bahnhofskneipen einem Test zu unterziehen. Wir waren Sportler und sonst gar nichts, hatten Freude an physischer Anstrengung als solcher und an der Steigerung von Kondition und Koordination, die jeder an sich selbst beobachten konnte. Ich war als Schüler ein recht guter Turner und Sprinter gewesen, aber auch ein zurückhaltender und unauffälliger Junge, dem die Lust, seine Mitmenschen mit den Fäusten zu drangsalieren, völlig fehlte; daran sollte sich auch vorläufig nichts ändern.
Solange Kampfsport - und Boxen ist mit Sicherheit in höherem Maße Kampfsport als gewisse asiatische Trainingsformen, die über Entspannung und Atemkontrolle kaum hinausführen - aus Hingabe und Spaß, mit dem Hintergrund von Gesundheit und Selbstbeherrschung, durchaus ernsthaft und meinetwegen fanatisch, aber immer voller Achtung vor der Leistung auch des anderen, betrieben wird, solange ist er eine Welt für sich, ein Sport unter vielen, eine Form, die Zeit planvoll zu gestalten, anstatt sie als ungebändigten Strom gleichgültig verrinnen zu lassen. Die Berufung auf archaische Traditionen der Kriegskunst erscheint um so abwegiger, als eine Gesellschaft wie die unsere, die durch maßvolle Gesetze bannt, was im einzelnen als tierhaft-urspünglicher Anteil immer noch walten mag, Kriegskünste nicht nötig hat; Krieg ist eine Angelegenheit professioneller Heere und Eingreiftruppen geworden, die über Mittel verfügen, mit denen sie im Handumdrehen Hunderttausende vernichten können - reif für die Heilanstalt derjenige, der fäusteschwingend und den Kiai ausstoßend auf schwere Waffen losgehen wollte. Archaische Traditionen überleben vielmehr in Techniken der Konzentration und Meditation sowie in der Heranbildung einer asketischen und gleichsam soldatischen Disziplin, die jedem Sportler hilfreich sein kann.
So sind also die Rollen recht unzweideutig verteilt. Wer das Gewicht auf körperliche Verausgabung, Heranbildung von Kraft und Ausdauer und fairen Vergleich legt, mag im Kampftraining dasselbe sehen wie andere im Fußball oder Bodybuilding, und lediglich seine persönliche Vorliebe hätte ihn zum Taekwondo oder Kung Fu geführt. Wer jedoch den technischen Aspekt, die Vervollkommnung und Erweiterung, in den Vordergrund stellt, empfindet möglicherweise ähnliche Befriedigung wie ein Schachspieler oder Mathematiker: es ist die geistige Aufgabe, die den eigentlichen Reiz ausmacht und lediglich eines geeigneten Mediums bedarf. Beide Arten, mit dem Phänomen Kampfsport umzugehen, haben ihre Berechtigung und sind trainingsimmanent zu bewerten und zu verstehen.
Jedoch der Kampfsport hat, anders als andere Sportarten, eine eigenartige Affinität zu Herleitungen, die außerhalb der Übung selbst angesiedelt und in keiner Weise zwingend sind: die Stichworte heißen "Selbstverteidigung" und "Straßenkampf". Eine Vielzahl von Kampfsportlern führt sie im Mund, und sie scheinen die wahren Motive für jahrelanges aufreibendes Training zu bilden. Der Autor betrachtet die Ausschließlichkeit dieser Motive als eine tatsächliche Persönlichkeitsstörung. Wer nämlich von "Selbstverteidigung" und "Straßenkampf" schwafelt, räumt ein, von paranoider Angst befallen zu sein: der Angst, überfallen, drangsaliert und gedemütigt zu werden - einer Angst, die rein statistisch unberechtigt ist und folglich andere Ursprünge haben muß als die beschreibbare Wirklichkeit, die hier eben keinen Ansatzpunkt bietet. Der Selbstverteidigungs- und Straßenkampf-Freak lebt demnach in einer anderen Wirklichkeit, nämlich derjenigen der Hollywoodfilme und Computerspiele, die ihm eine überformende Erfahrung liefert, welche allmählich die reale Umgebung ersetzt.
Nun mag man mit Justus MÖSER (Von dem Faustrecht, 1770) der Ansicht sein, daß ein Zeitalter der Gewalt Persönlichkeiten von unbezweifelbarer Ehrlichkeit, Männlichkeit und Ritterlichkeit hervorbringe; gleichwohl hat die Entwicklung solcherart Idealisierungen überholt: Duelle sind untersagt, Selbstjustiz hat strafrechtliche Konsequenzen, und Freiräume, die vom Gesetz nicht erfaßt werden, gibt es nicht - sogar der prügelnde Ehemann ist mittlerweile ein Fall für die Justiz. Bedrohungen, Überfälle und Schlägereien gehören in ein Reich, das zu betreten dem durchschnittlichen Bürger, der täglich acht Stunden im Büro sitzt, eine halbtagsbeschäftigte Ehefrau und zwei Kinder versorgen muß, ein Reihenhaus und einen Mittelklassewagen sein eigen nennt und zusehends ein Bäuchlein ansetzt, obwohl er jeden Sonntag Fußball spielt - das zu betreten diesem Durchschnittsbürger nicht empfohlen werden kann: ins Reich der Unterwelt. Diese ist in der Tat ein Gehege, in welchem gesetzliche Regelungen weithin kaschiert werden und ein Aggregat ungeschriebener Richtlinien gilt, das körperliche Züchtigung "als Mittel der Politik" nicht nur nicht ausschließt, sondern sogar bevorzugt. Die Unterwelt wird von Elementen beherrscht und gestaltet, deren Bekanntschaft sich jeder kultivierte und zivilisatorisch ambitionierte Mensch getrost sparen kann, und schließt all jene kleinen Spielhöllen und Kaschemmen ein, die uns, den Boxsportlern, als Orte, unser Können zu erproben, damals so abwegig erschienen - um so mehr, als wir die Probe im Ring ablegen konnten..
Kurzum, wer die Auseinandersetzung sucht, wird sie finden, aber er muß sich dafür einem Milieu anvertrauen, das ihn bereits disqualifiziert. Will der gewöhnliche Kampfsportler dies? Er will es nicht und wagt es nicht, aber er redet davon. Indem er permanent davon redet, diese und jene Technik sei "gut für die Straße", sei "kompromißlos" und "vernichtend", überträgt er seine eigene Paranoia auf den Unterrichtsort und die Trainingsatmosphäre. Er infiziert insbesondere jugendliche Kampfsportschüler, die aus Spaß an der Freude begonnen haben, mit seinem Geschwätz, so daß diese schon nach wenigen Monaten mit abgespreizten Armen durch die Gegend laufen und auf bezeichnend provokante Art den Augenkontakt zu fremden Männern suchen, immer in der Hoffnung, diese würden ihrem Blick nicht standhalten können. Er erzeugt einen Wahn von Virilität und Selbstbehauptung, der Kampfsport zu einem Vehikel halbstarkenhafter Randale pervertiert und von dem, was dieser Sport wirklich geben könnte, nichts, aber auch gar nichts übrig läßt. Dies ist besonders folgenschwer, wenn er selbst Lehrer ist, also Vorbildfunktion ausübt. Die Aussicht, durch Kampfsport die Fertigkeit zu gewinnen, einen anderen, der vielleicht abweichender Meinung ist, die eigene Freundin begehrt oder dessen Nase einem nicht gefällt, einfach niederprügeln zu können, erzeugt bereits ein Gefühl machtvoller Überlegenheit, auch wenn das Können nicht proportional zu diesem Gefühl anwächst - allein das Bewußtsein, sich auf "den Ernstfall" vorzubereiten, genügt. Wie sollte das menschliche (und insbesondere: das männliche) Bewußtsein dieser Verlockung nicht erliegen? Und so scheint es, als ob im Kampfsport inzwischen ein aggressiver Typus in der Majorität wäre: einer, vor dem man sich in acht zu nehmen hätte, wäre er nicht eine problembefrachtete, defizitäre Natur.
Sport ist seit etwa zwei Jahrzehnten auch in Europa ein Teil jener Freizeit, die der Mensch benötigt, um sich von der Arbeit einerseits zu regenerieren, anderseits sich auf sie vorzubereiten. Sogenannte Freizeit ist alles andere als frei: sie dient der Arbeit und ist ebenso vorgeplant und gesteuert wie alles andere. Von Werbestrategen entworfen und vom Unterbewußtsein diktiert, suggeriert sie eine Autonomie, deren der Mensch sich im Arbeitsleben verlustig weiß und die er außerhalb desselben mit allerlei Gefasel von Sinn und Wert zurückzugewinnen trachtet. Kampfsport ist ein Teil der umfassenden Wellnessbewegung, die innerhalb trostloser Betonwüsten ein naturales Feeling vermitteln soll, das der einzelne mit erhöhtem Selbstwertgefühl quittiert. Für Kampfsportunterricht wird heutzutage viel Geld bezahlt - oft genug vor dem Hintergrund, daß dem ambitionierten Schüler eine Lehrerkarriere eröffnet wird, die ihm seinen ganzen finanziellen Einsatz hundertfach vergolden soll, was letztlich nichts anderes heißt, als den Traum zu verkaufen, den jeder Versicherungsvertreter träumt. Kampfsport ist ein Luxusgut. Wer sich aber den Luxus leisten kann, weiß sich von einer Umgebung zu distanzieren, innerhalb deren er den Kampfsport zur Selbstverteidigung benötigen könnte; wer ihn jedoch benötigt, kann ihn sich nicht leisten und ist auf die Schule des Lebens angewiesen.
Geschickt zielt die Werbung gewisser Kampfkunst-organisationen, deren alleiniges Ziel die Erwirtschaftung eines möglichst hohen finanziellen Ertrages ist, stets auf die Furcht des Luxusgeschöpfs ab, die Mächte der Finsternis könnten ihm die Fixpunkte nehmen, anhand deren er sich so unermüdlich vorwärtstastet: seinen Besitz; seine gefallsüchtige Schönheit; seine Chancen beim anderen Geschlecht; seine körperliche Unversehrtheit; seine beschwingte Leichtigkeit des Lebensgenusses. Ihm, der sich das Luxusgut "Selbstverteidigung" leisten kann, muß vorgegaukelt werden, daß er auf Schritt und Tritt gefährdet sei: was er de facto selbstverständlich nicht ist. Der Gegner bleibt dabei ungenannt: er scheint den potentiellen Straßenkampf-Konsumenten zu umschleichen wie ein Wolf, der in der Dunkelheit des Waldes verborgen bleibt. Er bleibt ungenannt, weil es schwierig wäre, ihn zu konkretisieren; das gesichtslose Feindbild läßt sich auf jeden übertragen und insbesondere auf die, vor denen unser Luxusmensch sich insgeheim wegen ihres Grades an Männlichkeit fürchtet, der sie zum überlegenen Konkurrenten im sexuellen Werben werden läßt.
Ein bekanntes neueres Buch, eine von vielen Anleitungen zum Selbstschutz, ist untertitelt: Die Strategie gegen den Schläger. Dieser Schläger, wie man ihn sich in seiner anonymen Zeichnung vorstellt, läuft aber nicht einfach mit schlechten Gedanken überall herum und kann unsereinem an jeder Ecke zum Verhängnis werden; wer ihn treffen will, muß ihn vielmehr aufsuchen, wer ihn nicht kennenlernen möchte, kann ihn meiden. Dieser simple Gedankengang ist natürlich verdünnendes Wasser in den berauschenden Wein des werdenden Straßenkämpfers: Wie? Dann gäbe es diesen Asphaltdschungel gar nicht, für den wir uns alle stählen und wappnen müssen? Er wäre wirklich nur eine primitive Sprechblase innerhalb der Werbetexte routinierter Wellness-Verkäufer? Wer es nicht glaubt, möge die Probe machen: Ginge es nämlich wirklich darum, den einzelnen über sich hinauszuführen, ihn auszubilden und zu festigen, müßte dann das Selbstbewußtsein, das zu schaffen vorgegeben wird, über den Erwerb von Kleiderkollektionen mit bestimmten Buchstabenkombinationen und ähnlichen geschmacklosen Devotionalien gefestigt werden? Wozu dieser Theaterwirbel um ein wenig körperliche Übung? Die Antwort fällt leicht: Reich werden kann man nämlich nicht, indem man denen, die Schutz nötig hätten, entsprechendes Rüstzeug vermittelt; denn die haben kein Geld, um kostspielige Schulungen zu bezahlen. Wen es nach Straßenkampf verlangte, hätte diesen in Londonderry und Sarajewo, im Kosovo und an der Drau kennenlernen können. Wer sich selbst verteidigen möchte, dem seien einschlägige Lokalitäten in Köln oder Berlin, oder noch besser: Besuche in São Paulo und Bukarest empfohlen. Wer von Selbstverteidigung und Straßenkampf aber weiterhin nur faseln will, möge sich immerhin als Mitglied in einem der zahllosen Institute einschreiben, wo man gegen Zahlung des monatlichen Beitrages gern bereit ist, mit ihm hübsche Choreographien einzustudieren und ihn überdies auszustaffieren, als wollte man ihn zum Karneval schicken. Aber dafür wäre mir persönlich mein gutes Geld zu schade.
Bliebe also die Frage, wem solche Choreographien wirklich nützen. Zweifellos zunächst denen, die sie geschaffen haben: denn die verdienen nicht schlecht damit. Weiterhin gewiß auch denen, die sie einüben: sie bewegen sich, schulen ihr Gedächtnis, fühlen sich subjektiv besser und ausgeglichener, solange es eben dauert, und, nicht zuletzt, sie verbrauchen und bewältigen Zeit. Das vorgegaukelte und vermeintlich angestrebte Ziel erreichen sie nicht: ein harter Bursche zu werden; einer, der zuschlägt, anstatt unnütze Worte zu machen; einer, der den Raum mit der kalten Gelassenheit eines Dirty Harry betritt. Dieses Ziel haben jene anderen, die sie auch in Geschlechtsdingen ausstechen, bereits usurpiert, da es von Temperament und Prägung abhängt und nicht in der Kampfsportschule realisiert wird. Der Betrug, den viele anprangern, ist also vor allem ein Selbstbetrug - ein Selbstbetrug, solange mit einfachsten Mitteln an Attribute appelliert werden kann, die sich in jedem Gorillakäfig studieren lassen. Gewiß, wir sind Sklaven ebenso unserer Instinkte und Gelüste wie unserer Gedanken; aber ein wenig mehr Skepsis täte doch gut.