Zitat von
beniwitt
Ich möchte das Augenmerk der Frage einmal dahin richten, dass es eigentlich nicht um das gegenseitige Ausspielen von Form, Formlosigkeit oder Protoformen in irgendeiner Hinsicht gehen sollte. Denn ganz profan gesagt kann sich natürlich jegliche Bewegung nur in irgendeiner „Form“ ausdrücken. Jegliche Form der Kampfkünste drückt sich immer durch irgendeine „Form“ aus und wird in irgendeiner „Form“ trainiert. Unter dieser Betrachtung hat natürlich auch das Yiquan z.B. seine „festen Formen“. So gesehen hat Kanken schon recht.
Ich kann jetzt leider nur aus der Sicht des Yiquan sprechen. Um dort das Verhältnis Form und Formlosigkeit (Yi) etwas anschaulicher zu machen, möchte ich den Betrachtungshorizont etwas öffnen. Und zwar haben wir auf der einen Seite den Ist-Zustand von jemand der sich vorgenommen hat zu trainieren und auf der anderen Seite haben wir das Ideal.
Der Ist-Zustand ist meistens so, dass Körper und Bewusstsein (Wahrnehmung, Körpergefühl) nur sehr begrenzt in einem harmonischen und koordinierten Zustand sind.
Auf der anderen Seite ist das Ideal, wo mein Körper in der Lage ist jede natürliche Bewegung und Zielsetzung die er hat auch entsprechend umzusetzen. Wie z.B. ein Tiger oder eine Katze die auf ganz natürliche Weise von klein auf das Handwerkszeug zum überleben spielerisch gelernt haben und ohne nachzudenken und ohne irgendwelche Formen oder Protoformen gelernt zu haben im Alltag den Umständen entsprechend einsetzen können.
Diese natürlichen Fähigkeiten sind dem Menschen im Laufe seiner Evolution verloren gegangen, weil sie für ihn nicht mehr Überlebensnotwendig waren. Man kann sagen Körper und Körperwahrnehmung haben sich immer weiter voneinander entfremdet. Zumindest in dieser Hinsicht ist der Mensch degeneriert.
Der erste Frage, wenn man sich nun mit den Kampfkünsten auseinandersetzen will, sollte also sein, wie kann ich diese natürliche Fähigkeit wieder ausbilden? Vor allem wenn man kein Naturtalent ist oder auch schon etwas fortgeschrittenen Alters ist.
Hier hat nun Wang mit seinen Gedanken zum Yiquan angesetzt. Es ist ihm klar geworden, dass das Grundproblem im sinnvollen und effektiven Kampfkunsttraining ein Problem des Zusammenspiels zwischen Körper und Geist ist; die Degeneration der sensomotorischen Intelligenz des Menschen. Dieses Zusammenspiel von Körper und Geist aufs neue zu trainieren und zu optimieren, das ist es worum es zumindest im Yiquan geht. Da ist die Frage nach Form oder Protoform zunächst sehr zweitrangig. Denn es sind nun nicht mehr Formen oder Protoformen die den Inhalt, die Idee bestimmen, sondern der Spiess wird umgedreht. Die Form ist also nur eine Bewegung, ein Vehikel, worin ich dann versuche bestimmte Qualitäten unter Zuhilfenahme von Ideen zu trainieren. Form ist also immer etwas das sich neu ergibt und zweitrangig ist und nicht etwas das ich als Bewegung lerne und dann mit bestimmten Anwendungsideen fülle und dann repetitiv wiederhole.
Das Stehen ist im Yiquan als didaktische Methode zu verstehen und nimmt einen sehr zentralen Platz ein. Ist aber lediglich eine Methode und kein sich automatisch erfüllender Selbstzweck.
Um nun an den Ursprung von natürlicher Bewegung zurückzugehen, hat Wang erstmal alle Bewegungen auf das einfachste reduziert: das Stehen.
Der erste Schritt wäre nun weich und geschmeidig zu werden. Die Gegensätze, alles schlaffe und harte im Körper, werden im Stehen langsam aufgelöst und zu einer weichen und geschmeidigen Einheit. Es wird eine Art Grundspannung hergestellt, mit der dann später gearbeitet werden kann und die sowohl weiter gespannt als auch entspannt werden kann, dabei aber nicht mehr seine Grundspannung verlieren darf.
Das wäre nun also erst einmal die Grundidee, die Zielsetzung. Das passiert nun nicht von alleine, sondern der Wahrnehmung wird eine Aufgabe gegeben, mit der sie immer mehr versucht bestimmte Gefühle im Körper auszulösen, die einem helfen das Ziel immer weiter umzusetzen.
Die Idee (Yi) wäre hier nun das Wasser. Das Wasser ist das Element, welches auf natürliche Weise weich, geschmeidig und in jeder Bewegung ganzheitlich ist. Mann muss also die Idee und den Sinn hinter dem Bild verstehen um so dann bewusst ein entsprechendes Gefühl im Körper zu evozieren. Man steht nun also z.B. mitten im Meer (überall um einen herum ist Meer, auch über einem und unter einem) mit der Idee einer sehr langsam und sehr weich wogenden Meeresströmung die den Körper umspielt. Man versucht nun mit jeder Zelle seines Körpers das Wasser wahrzunehmen und sich geschmeidig diesem Wogen hinzugeben. In diesem natürlichen und langsamen Wogen versucht man nun seinen Körper immer mehr in eine weiche Wohlspannung zu bringen.
Eine andere Idee wäre z.B. mit all seinen Sinnen wahrzunehmen, wie Wasser langsam vom Kopf über den ganzen Körper hinunter in den Boden fliesst. Mit jeder Zelle sollte es versucht werden auf ganz entspannte Weise wahrgenommen zu werden. Das ist z.B. eine sehr effektive Methode Blutdruck zu senken und zur Ruhe zu kommen (klinisch erprobt).
Die Form der Hände und Beine ist hier zunächst immer sekundär, solange sie gewissen natürlichen Grundanforderungen entspricht. Aber der Blutdruck senkt sich z.B. nicht automatisch, nur weil ich eine bestimmte Form einnehme oder der Körper wird nicht weich und kommt in eine gewisse geschmeidige Wohlspannung nur weil ich Stehe und einen Ball umarme. Es ist das Bild und vor allem die Idee und der Sinn der hinter diesem Bild steckt, welches die Wirkung bringt.
So lernt man Stück für Stück alte Bewegungsabläufe aufzubrechen, neue und natürliche Bewegungsabläufe wahrzunehmen, die sich dann mit der Zeit immer mehr stabilisieren und dann in das natürliche Bewegungsrepertoire übergehen und so ohne jegliche Anstrengung bei Bedarf abgerufen werden können. An dieser Stelle wird auch die Idee als didaktisches Werkzeug überflüssig und kann wie ein paar abgetragene Schuhe entsorgt werden. Oder anders gesagt, Körper und Idee sind so sehr eins geworden, dass das Zusammenspiel auf natürliche Weise funktioniert und nicht mehr einer gesonderten Anstrengung bedarf.
Analog spielt sich ganze auch mit dem erarbeiten von handwerklichen Grundfähigkeiten für den Kampf ab: das sind zunächst einfach mal wie trainiere ich Kraft und Geschwindigkeit. Dann kommen verschiedene Qualitäten von Kraft und wie man lernt sie umzusetzen. Weiter geht es damit wie ich einem Gegner gegenüber trete und „psycholigische“ Kampfführung etc. Dafür gibt es im Yiquan einen ganzen Handwerkzeugkasten der über die Arbeit mit Ideen umgesetzt wird.
Die Bewegungen sind dabei stets zweitrangig. Denn natürliche Bewegungen die ein Mensch machen kann sind sehr begrenzt. Diese einfachen Bewegungen mit den verschiedensten Qualitäten zu füllen ist eine viel Sinnvollere Aufgabe, als alle möglichen Formen oder Protoformen mit all ihren Varianten zu lernen, die aber in sich nicht automatisch zu Qualität (Kraft-) führen.
Auch das ständige wiederholen von einzelnen Bewegungen ist ohne eine qualitative Idee dahinter nicht sehr effektiv. Aus Sicht des Yiquan würde es nicht reichen einfach nur die Anwendung einer Bewegung und denn Sinn davon im Kampf zu verstehen und dies dann ständig am Partner oder alleine zu wiederholen, sondern für das Training im Yiquan ist immer an erster Stelle das Training von Kraftqualitäten wichtig, die sich aber automatisch in wenigen aber sehr wichtigen natürlichen Grundbewegungen ausdrücken. Im Kampf an sich reduziert sich dann sowieso alles nur noch auf das einfachste. Und wirklich abrufen kann man unter großem Stress sowieso nur noch das was einem schon in Fleisch und Blut übergegangen ist.