Naja, ich denke beide Seiten haben hier Recht.
Einerseits kann zu frühes oder zu intensives Stresstraining eine sich etablierende oder gerade etablierte Struktur zerstören, andererseits ist es nicht möglich sich ohne Stresstraining auf die dynamischen und belastenden Bedingungen einer realen kämpferischen Auseinandersetzung vorzubereiten.
Für mich ist es unstrittig, dass man sowohl technische Struktur, die in ein strategisch-taktisches Konzept eingebettet ist, als auch kämpferische Attribute benötigt. Nur das sich im Wechsel ergänzende Zusammenspiel beider Befähigungen erhöht die Siegchance.
Nun, Techniktraining erfolgt meistens über ermüdende, jedoch wichtige, Formen, Grundschule, Partnerübungen, Sensitivitätsübungen.
Bezüglich der strategisch-taktischen Ausrichtung hat jede Kampfkunst ihre eigene Philosophie, z. B. Taekwondo den Distanzkampf mit schnellen Händen und Füßen, Wing Chun den überbrückenden Nahkampf mit klebenden Händen sowie Brazilian Jujitsu den Clinch, das Grappling und den Bodenkampf. Strategien und Taktiken entstehen einerseits aus der Doktrin der Kampfkunst, die auf ihrem Gründer und dessen Erfahrungen beruht bzw. auf den physischen Voraussetzungen der Anwender (z. B. verfolgt Frauenselbstverteidigung einen anderen Fokus als Männerselbstverteidigung, im Kungfu haben die körperlich unterlegenen Südchinesen andere Stile hervorgebracht als die größeren Nordchinesen, durch Spezialisierung im Grappling können unterlegene Fähigkeiten im Striking ggf. kompensiert werden etc.). Im Kampfsport wird die strategisch-taktische Marschroute ebenfalls von den körperlichen Voraussetzungen der Kämpfer bestimmt, teilweise jedoch auch von Studien über den Gegner. So wird ein Klitschko meist das Distanzboxen präferieren, während ein Tyson den Infight sucht. Ist im MMA der Gegner ein Spezialist im Striking, wird man als Grappler versuchen ihm die eigene Komfortzone aufzuzwingen.
Also bleibt das kämpferische Training übrig, indem man seine erlernte technische Struktur sowie das systemimmanente strategisch-taktische Konzept unter weitgehend Echtzeitbedingungen erprobt und einübt. Nur, wie macht man das ohne aufgrund von Angst, Schmerz, Ermüdung, Reduktion auf instinktbasiertes Kämpfen wieder auf den technischen und strategisch-taktischen Nullpunkt zurückzufallen?
Zunächst muss eine gewisse technische und strategisch-taktische Struktur entstanden sein, d. h. je nach Lernfähigkeit und Trainingsintensität benötigt ein Schüler etwas mehr Zeit als ein Anderer. Diese Struktur sollte im Training allerdings deutlich erkennbar und gefestigt sein, bevor man an das kämpferische Training oder Stresstraining herangeführt wird und ich betone das Wort "herangeführt".
Heranführen bedeutet etwas sukzessive zu steigern, sukzessive neue Herausforderungen und Leistungsanreize zu schaffen, jedoch ohne den Trainierenden in seinem momentanen Trainingslevel zu überfordern. Fordern, aber nicht überfordern und das je nach Leistungsstufe.
Konkret kann das dadurch erfolgen, dass man eine Art bedingtes Sparring beginnt, indem man einzelne Bausteine eines Kampfes separat übt und die anderen Bausteine bewusst vernachlässigt, um in diesem einen Trainingsbaustein unter Stressbedingungen sicher sowie technik- und systemkonform zu reagieren. Zunächst, dürfte allen die Abgrenzung von Sparring und Partnerübungen bewusst sein. Sparring = unkooperative Kampfsimulation, Partnerübungen = kooperatives Training von Technikabläufen am Partner. Wenn man also bedingtes Sparring betreibt, könnte man z. B. die Aufgabe stellen, dass der Sparringspartner nur mit den Händen angreift oder ggf. sogar nur mit Jab-Cross oder Haken und Schwinger, jedoch nicht um einzufrieren und den Trainingspartner seine Gegentechnik abspulen zu lassen, denn dann wären wir wieder im Partnertraining, nein, vielmehr um den Trainingspartner wirklich zu treffen, so dass dieser sich einer gewissen Gefahr und somit einem gewissen Stress ausgesetzt sieht und er dieser Gefahr mit den vorhandenen technisch-taktischen Mitteln begegnen muss. Was ist der Vorteil von Bausteinsparring? Der Trainierende lernt sich im unkooperativen Echtzeitkampf gegen spezielle Angriffsarten zu Wehr zu setzen ohne durch ein erforderliches Augenmerk auf alle möglichen Angriffsarten überfordert zu werden. D. h. Sparring nur die Arme = ich muss mir keine Gedanken über Kicks und Grappling machen, kann mich also auf die Arme konzentrieren. Wenn Du hundert Mal geübt hast mit der Geschwindigkeit eines tatsächlich auf Dich abgeschossenen Cross-Schlages oder Hakens umzugehen und Deine Verteidigung funktioniert, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Du diese Verteidigung auch in einer plötzlich auf der Straße auftretenden Situation umsetzen, also unterbewusst richtig reagieren, kannst, weil Du die Situation kennst und keine Angst mehr vor der Dynamik des feindlichen Angriffs hast. Du denkst nicht, dass Deine Abwehr vielleicht funktioniert, sondern Du weißt, dass Deine Abwehr funktioniert, weil Du das Erfolgserlebnis aus dem Sparring mit in den realen Kampf nimmst. So kann man dann unterschiedliche Bausteine separat üben - ein Training nur Antiboxer-Sparring, ein Training nur Anti-Kick-Sparring, ein Training Grappling und Anti-Grappling. Wichtig ist aber, dass es nicht darum geht, den Trainierenden zu schonen - man kann Intensitäten absprechen und sollte Schutzausrüstung nutzen - aber letztlich muss der "Boxer" auch eine gewisse boxerische Kompetenz besitzen und Trainierenden auch mit dem Willen ihn zu treffen angreifen. Wird der Trainierende getroffen - prima, Lerneffekt, ich habe etwas falsch gemacht, meine Struktur war nicht gut, ich war zu langsam oder zu schnell, hatte die falsche Distanz, habe gepennt ... auf ein Neues. Hat man lange genug Bausteinsparring gemacht, kann man irgendwann zum völlig freien Sparring übergehen, in dem gar nichts mehr abgesprochen wird. Allerdings wird man sich dann aufgrund der Vorteile des Bausteinssparrings keine größere Sorgen mehr machen müssen, dass das Sparring in eine unkontrollierte Schlägerei ausartet, die man auch ohne jegliches Training beobachten könnte.
Genauso kann man neben dem Bausteinsparring und freien Sparring dann auch einzelne Selbstverteidigungssituationen herausgreifen und auf Stress und "Dampf" üben, z. B. Schwitzkasten, Würgegriff von hinten, Vergewaltigungssimulationen etc.. Hierbei geht es aber auch nicht darum, dass der Angreifer sich vom Verteidiger einfach überwältigen lässt, nein, die Aufgabe des Angreifers ist es die Gegenmaßnahmen des Verteidigers wiederum zu kontern, so dass dieser lernt in Situationen flexibel zu reagieren und von einer Techik zu einer Anderen zu switchen, wenn er merkt, dass die erste Technik aufgrund des Widerstands des Angreifers scheitert. Da kann sich durchaus auch mal ein Gerangel entwickeln - das ist nichts schlimmes. Es geht darum, dass der Verteidiger zeigt, dass er sich mit technischen Mitteln durchsetzen will. Dass der Verteidiger Möglichkeiten zur Gegenwehr erkennt, sprich da kann ich Zudrücken, so kann ich mich herauswinden, macht er dies, mache ich das usw.. Gerade für Frauen ist ein solches Training sehr wertvoll, weil es manchmal eben nicht mit einem Zauberschlag in die Klöten getan ist, weil der Gegner diesen vielleicht seinerseits abgewehrt oder die Frau nicht zielgenau getroffen hat. Da muss man dann erst mal mit der rohen und wilden Kraft eines ausgewachsenen Mannes im nahen Körperkontakt oder am Boden umgehen lernen. Das ist nicht so einfach, liebe Damen. Aber deshalb trainiert man es ja, um solche Situationen durch Fühlen am eigenen Leib kennenzulernen und Gegenmaßnahmen zu behaupten.
Daneben muss natürlich auch immer wieder am Abbau der Schlaghemmung durch Pratzentraining und an der eigenen Fitness, also an der Komponente Ausdauer-Kraft-Beweglichkeit gefeilt werden.
Die letzte Stufe des Stresstrainings ist dann der "last stand", wie ich ihn nenne. Hierbei geht es garnicht darum zu gewinnen, weil das schlichtweg in diesem Szenario nicht möglich ist. Es geht lediglich darum gegen eine Überzahl an Gegnern so lange wie möglich durchzuhalten, Verteidigungswillen zu zeigen und sich ggf. eine Lücke zur Flucht zu erkämpfen. Das kann dann so aussehen, dass der Trainierende im Kreis von mehreren Partnern nacheinander und später auch zugleich unkooperativ angegriffen wird und somit überfordert werden soll. Hier soll der Trainierende dann tatsächlich überfordert werden, um ihm aufzuzeigen, dass technische und kämpferische Mittel endlich sind und nur noch Kampf zur Flucht ein Ausweg sein kann. D. h. Ziel dieses Trainings ist es ausschließlich den Überlebenswillen zu stärken und nicht einen Angreifer zu besiegen, was bei einer Vielzahl von Angreifern faktisch scheitern würde. Hier ist es auch okay, wenn der Trainierende seine Struktur verliert, denn letztlich kann man in diesem Szenario keine Struktur über kurze oder lange Zeit aufrechterhalten.
Ziel eines Stresstrainings ist also dafür zu sorgen, dass Ängste abgebaut werden und die technisch-strategisch-taktische Kompetenz gegen einen Gegner aufrechterhalten wird!