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Thema: Glima - Interview mit Lars Magnar Enoksen

  1. #16
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    Zitat Zitat von Lowkick Loverboy Beitrag anzeigen
    Die Glíma des isländischen Verbandes ist ein traditioneller Volkssport mit einem festen, sehr spezifischen Reglement: Ringen nur im Stand, vorgegebene Kampfkleidung mit Gürtel und Beinriemen, Wiegeschritt zu Kampfbeginn, etc. Außerhalb dieses Reglements findet kein Training statt. Die Website des Verbandes verweist zwar auf historische Hintergründe, hält die aber so vage, wie es der Quellenlage angemessen ist und nimmt auch Einflüsse von den britischen Inseln an.

    Enoksen stellt sein Ringen als Ausläufer einer ungebrochenen, gesamtskandinavischen Tradition dar und integriert auch den Bodenkampf und "SV-mäßiges" Kämpfen. Mit dem isländischen Sport hat das nur wenig zu tun.

    Zum historischen Ringkampf auf Island siehe hier, ab S. 227 und hier.
    Ich würde sagen: Jein. Mit dem Sport-Glima hat es sicher nichts zu tun, aber in der heutigen Form ist das ja auch erst 1905-1908 entstanden; vorher dürfte es tatsächlich verschiedene Spielarten gegeben haben (ebenso wie sonst in Europa eben auch, beim Ranggeln z.B. gab es die Schlägerei-Variante "Robeln", wo auch einer gegen mehrere Gegner antreten konnte etc), wobei die gesellige Form mit Griff an der Hose (nicht unähnlich dem Schwingen) durchgeführt worden sein dürfte. Ob ungebrochene Tradition - da wirds tatsächlich schwierig. Enoksen beruft sich hauptsächlich auf Einarsson, von dem er gelernt haben will; Einarsson war nach allem was ich gesehen habe eine Autorität in der isländischen Glima-Szene und hat einige massgebliche Werke dazu geschrieben, auf die sich auch alle der von Dir verlinkten akademischen Arbeiten (danke dafür!) und zudem noch diese Bachelorarbeit hier: https://skemman.is/bitstream/1946/12...ic%20media.pdf beziehen. Wetzler lobt sogar Einarssons praktische Sicht, die er als aktiver Glima-Sportler gehabt hätte. Eine Kurzfassung (?) von Einarssons Broschüre 1988 gibts hier: http://www.glima.is/wp-content/uploa...ef-history.pdf
    Einarsson geht dort klar von mehreren Einflüssen aus, er nennt unter anderem die britischen Inseln, und es würde mich nicht wundern, wenn die Verbandswebsite ihre Infos von dort bezieht. Es wäre auch m.E. etwas eigenartig, wenn Enoksen sich dieser Deutung nicht anschliessen würde, bzw. lese ich das zumindest so nicht aus dem Interview heraus. Was mich an Enoksen interessieren würde wäre v.a., ob er die bei Einarsson angedeuteten Technikgruppen weiter ausführt bzw. demonstriert; ich sehe dort verschiedene Dinge, die ich von anderen europäischen Stilen kenne, aber auch welche, die mir fremd sind, und das hat mein Interesse geweckt. Ob es sich dabei um eine ungebrochene Linie handelt oder eher um HEMA im klassischen Sinne, kann ich so nicht klar sagen. Ich glaube aus dem Interview herauszulesen, dass Einarsson und Co. versucht haben, hier in den Sagas etc. beschriebene Techniken wiederzubeleben; die Passage mit dem "Testen an Hooligans" liest sich für mich so. Aber das ist mit ein Grund, warum ich mir das Buch besorgen möchte. Wenn es Quatsch sein sollte - hey, ich hab genug Ring-Erfahrung um das zu merken, und Pseudowissenschaft erkennen ist auch Teil von meinem Job, daher mach ich mir da mal keine Sorgen. Aber ich werde mich so oder so auch in die anderen Arbeiten zum Thema vertiefen, das Spektrum erweitert sich ja laufend

    Ansonsten: hey, das "Regelwerk" liest sich für mich lustig, und ich bin ja immer auf der Suche nach neuen Spielformen. Wenn man sich die Videos anschaut, ist bei vielen der Teilhmer von Enoksens Seminaren nicht wahnsinnig viel Technik dabei, dafür finden sich jetzt rein optisch betrachtet sehr viele Wikinger-Fans darunter... auf der anderen Seite scheint das durchschnittliche Fitness-Level und der Kampfeinsatz höher zu sein als sonst bei HEMA-Veranstaltungen, von da her

    Beste Grüsse
    Period.
    Geändert von period (09-04-2019 um 10:59 Uhr)

  2. #17
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    Dass es Schlägereien auf Island gegeben hat, wo gerissen und gerupft wurde, steht außer Zweifel. Es gibt aber nirgendwo einen Hinweis dafür, dass das als Kampfsport programmatisch trainiert oder in Wettkämpfen ausgetragen worden sei. Im frühen 20. Jh. ändert sich die Wettkampfkleidung, aber nicht das eigentliche Format der Glíma. Ein umfassender isländischer Kampfsport ist von Enoksen herbeiphantasiert. Es bleibt nämlich rätselhaft, warum die gesamte isländische Kampfsportszene nichts von dieser landeseigenen Kunst weiß, während sie ausgerechnet einem Schweden beigebracht wird. Sorry, aber wer auf Island gelebt hat (wo jeder um drei Ecken mit jedem verwandt ist), der weiß, wie absurd das ist. Wenn ich aber schon dabei wäre, "Wikingerkampfglíma" zu erfinden, würde ich auch behaupten, dass ich es an Hooligans probiert hätte...

    Insofern würde ich auch nicht darauf hoffen, dass man bei Enoksen irgend etwas zusätzliches findet, das aus einer isländischen Wurzel stammt. Einarsson deutet in seinem "Þróun glímu í íslensku þjóðlífi" nichts davon, genau so wenig, wie ich irgendwo eine Erwähnung von Enoksen durch ihn gelesen hätte. Problematisch ist halt, dass die wenigsten Leute Isländisch lesen, deshalb kann man auf dem Gebiet viel behaupten, was schwierig zu überprüfen ist...

    Übrigens ist auch Einarsson mit Vorsicht zu genießen ist, wenn er über frühe Phasen der Glíma schreibt; er geht sehr unbedarft an die mittelalterlichen Quellen, stellt Sagas unterschiedlicher Genres gleichberechtigt nebeneinander, usw. Das soll sein Wissen und Werk nicht in Abrede stellen, aber heutige Leser sollten vorsichtig sein. Die Bachelor-Arbeit von Jóhann Bjarnason kannte ich, vielen Dank; leider fasst sie im Teil über die Glíma eigentlich nur Einarssons Broschüre zusammen.

    Wo genau die Annahme mehrerer "Ringkampfformate" (hryggspenna, lausatök, usw.) herkommt, ist mir nie richtig klar geworden - auch wenn man ständig davon liest. Im Wortbestand der Sagaliteratur taucht z.B. "hryggspenna" genau zweimal auf, und zwar in der reichlich phantastischen Sörla saga sterka, siehe hier, wo der Held gegen eine Trollfrau kämpft und sie irgendwann um den Rücken packt; und in der (ebenfalls phantastischen) Hálfdanar saga Eysteinssonar, wo ein gewisser Flóki einen Hund um den Rücken packt und ihm die Knochen bricht siehe hier. In beiden Fällen ist damit keinesfalls ein eigenes Kampfformat gemeint, es ist einfach nur eine von mehreren Handlungen im Kampf. Da wird häufig in ein paar Textstellen ganz schön viel reingeheimnist, glaube ich...

    Hier übrigens noch die Glímubók, ein isländisches Lehrbuch von 1916.

    Das alles soll im übrigen nicht heißen, dass bei Enoksen nicht mit Spaß gerungen werden kann. Insofern: hau rein!
    Si vis pacem, para pacem.

  3. #18
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    Erstmal danke für die weiteren Hinweise! Ich muss leider gestehen, dass Ich in die isländischen Texte auch nicht weiter einsteigen kann, als es Google translate erlaubt… und eigens aus diesem Grund Isländisch zu lernen erscheint mir etwas aufwändig (ich muss vorher an meinen Russischkenntnsisen arbeiten . Dafür bin ich in der hiesigen UB den weiteren Werken des Herrn Wetzler auf der Spur
    Dass Einarsson differenziert gesehen werden muss, höre ich auch nicht zum ersten Mal. Das gleiche gilt natürlich für alle Verbandsfunktionäre, die etwas zu indigenen Stilen schreiben – in der letzten Publikation zum Ranggeln wurde die dortige Tradition von den in den Schriftquellen nachweisbaren 500 Jahren mal flott auf 2500 Jahre verlängert, nachdem auf einer keltischen Schwertscheide eine Ringerdarstellung aufgetaucht ist… Und ich habe den Verdacht, dass die bei Einarsson abgebildete Holzstatuette im Museum Lillehammer (angscheinend 11. Jh.) auch so ein ähnlicher Fall sein könnte – betreffend Verbreitung in Skandinavien, Gemeinsamkeiten etc. Trotzdem sagt mir mein Bauchgefühl, dass sich bei und zu Einarsson noch einige interessante Dinge finden lassen sollten, unter anderem wie er eben zu seinen Aussagen kommt. Vielleicht mit Umweg Enoksen, vielleicht auch nicht. Mal sehen.
    Ich werde hier mal weiter berichten, wie sich die Sache entwickelt und was denn da für Techniken verkauft werden. Im schlimmsten Fall ist es überteuerte Unterhaltungsliteratur mit pseudonationalistischer Färbung

    Beste Grüsse
    Period.

  4. #19
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    Ja, jeder leitet seine Kunst gerne von möglichst alten Traditionen her. Das olympische Ringen spricht ja auf jeder zweiten Website auch vom antiken, griechischen Ringkampf, obwohl es damit null zu tun hat...

    Es gibt, z.B. durch die Holzstatuette oder durch die Erwähnung des Ringkampfs Thor vs. Elli bei Bragi Boddason, natürlich sehr frühe Belege für einen irgendwie geartete Ringkampf im skandinavischen Mittelalter schon vor den Sagas. Aber daraus eine ungebrochene Tradition zu konstruieren, ist halt Willkür. Vor allem, wenn man im Falle Islands bedenkt, wie stark die Insel über die Jahrhunderte von anderen europäischen Ländern beeinflusst wurde.

    Zitat Zitat von period Beitrag anzeigen
    Dafür bin ich in der hiesigen UB den weiteren Werken des Herrn Wetzler auf der Spur
    Das finde ich natürlich super. ;P Guckst Du. Das ist der relevante Artikel zur Glíma; überschneidet sich zum Teil mit der Diss, ist aber literaturwissenschaftlicher ausgerichtet. Und sogar mit übersetzten Sagastellen.

    Zitat Zitat von period Beitrag anzeigen
    Ich werde hier mal weiter berichten, wie sich die Sache entwickelt und was denn da für Techniken verkauft werden. Im schlimmsten Fall ist es überteuerte Unterhaltungsliteratur mit pseudonationalistischer Färbung
    Ja, erzähl mal, wie es Dir taugt.

    Beste Grüße!
    Geändert von Lowkick Loverboy (12-04-2019 um 16:35 Uhr)
    Si vis pacem, para pacem.

  5. #20
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    Zitat Zitat von Lowkick Loverboy Beitrag anzeigen
    Das finde ich natürlich super. ;P Guckst Du. Das ist der relevante Artikel zur Glíma; überschneidet sich zum Teil mit der Diss, ist aber literaturwissenschaftlicher ausgerichtet. Und sogar mit übersetzten Sagastellen.
    Liegt seit gestern auf meinem Schreibtisch! Ich hab den Beitrag ebenso wie die betreffenden Teile der Diss inzwischen durchgesehen, werde aber sicher noch öfters darauf zurückgreifen Als nächstes kommt aber mal die Masterarbeit Quays dran zwecks Praxisbezug.

    Beste Grüsse
    Period.

  6. #21
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    Kurzes Update: Der Herr Enoksen hat sich trotz Erinnerung nicht mehr bei mir gemeldet, ich gehe also davon aus, dass das gesuchte Buch tatsächlich ausverkauft ist. Somit zu Plan B...

    Beste Grüsse
    Period.

  7. #22
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    Nächstes kurzes Update: Herrn Enoksen hat freundlicherweise tatsächlich auf meinen Aufruf hin sein Lager durchwühlt und ist dabei auf Restexemplare seines Buches "Old Military Rough'n Tumble: Scandinavian Warrior Wrestling" gestossen; in Folge dessen sind jetzt wieder ein paar verfügbar (https://www.larsmagnarenoksen.com/st...ior-wrestling/). Ich hatte meines gestern Abend im Briefkasten. Nach dem ersten Reinblättern kann ich euch beruhigen: es ist ein klassisches HEMA-Buch, und zwar eine Teil-Edition aus einem (unpublizierten) Buch zum Bajonettfechten von Pehr Henrik Ling (1776-1839). Ling ist bekannt als Begründer der schwedischen Heilgymnastik, hat aber auch die Fechtschule/Militärakademie in Stockholm begründet. Der heute bekannteste Schüler ist vermutlich Col. Thomas Monstéry, die Schule hat allerdings seinerzeit ein Lars Gabriel Branting übernommen. Das Wort "Glima" habe ich bisher nur im hinteren Abschnitt des Buches gefunden (wo Saga-Stellen zitiert werden), und das, was hier vorgestellt wird, präsentiert sich auch nicht als solches. Die Techniken sind näher am "klassischen" mittelalterlichen europäischen Ringen ohne Griff am Gürtel oder den Hosen. Einige Details sind aber recht kreativ eingebaute Gemeinheiten - Kopfstösse, Ellenbogen, Schläge etc.

    Und, was isses jetzt? Nach dem ersten Duchblättern: Es ist zunächst eine Sammlung von ca. 25 oder 30 Ringtechniken basierend auf einem handschriftlichen Manuskript von Gustav von Heidenstam (1785-1850), die Mitte des 19. Jh. in Schweden für den militärischen Gebrauch geübt wurden. Das Buch präsentiert jeweils die Transkription des schwedischen Originaltextes, eine englische Übersetzung und eine Bildfolge, auf der Enoksen und Co die Textpassage nachstellen. Wie immer im HEMA kann man über einzelne Interpretationen streiten, aber dazu ggf. später mehr. In Summe aber ein seriöse gemachtes, im Kern wenig spekulatives Werk zu einer meines Wissens bislang unpublizierten Quelle.

    Beste Grüsse
    Period.
    Geändert von period (21-06-2019 um 12:32 Uhr)

  8. #23
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    Etwas verspätet hier mein Review zu Enoksens «Old military rough’n’tumble» (Sofcover, 80 Seiten, 15.1 x 22.9 cm, inzwischen wieder vergriffen: https://www.larsmagnarenoksen.com/st...ior-wrestling/). Enoksen hat mir ja dankenswerterweise eines der letzen Exemplare geschickt, worüber ich mich sehr gefreut habe; jedoch handelt es sich dabei NICHT um ein Rezensionsexemplar, sprich ich habe es ganz regulär bezahlt und stehe in keinem wie auch immer gearteten Abhängigkeitsverhältnis zum Autor.
    Falls jemand die Rezension lesen sollte, der mich nicht kennt, hier die Kurzinfo: ich komme aus dem Sportringen und habe nebenher Judo, Sambo und historisches Ringen trainiert. Beruflich bin ich im Bereich historische Wissenschaften unterwegs (Post-doc). In Folge dessen ist die folgende Rezension gewissermassen im Spannungsfeld dieser beiden Aspekte entstanden, ohne sich zu strikt an die Vorgaben in dem einen oder anderen Feld zu halten. Und ja, ich bin hier grad im Corona-bedingten Quasi-Hausarrest und mir war fad

    Entgegen dem, was ich bei der ersten Durchsicht geschrieben habe, ist das Buch nicht primär eine Teiledition des Buches zum Bajonettfechten (1836) von Pehr Ling (1776-1839), sondern von einem Manuskript mit dem Titel «Brottningen», geschrieben von Lings Kollegen Gustav von Heidenstam (1785-1850) im Jahr 1842. Wenn ich Enoksen richtig verstehe, suggeriert er, dass Heidenstam hier die Techniken aus einem von Ling in den 1830ern begonnenen, aber zumindest nie gedruckten Buch (mit Illustrationen von Carl Wahlbom, davon nur eine jemals verwirklicht) wiedergibt. Heidenstam beschreibt 8 Situationen im sportlichen Ringen (von Enoksen hier nicht ediert) und 38 Situationen im «Kampfringen» (von Enoksen ediert). Die Technikanzahl ist etwas höher, da immer Aktion und Konteraktion beschrieben werden und in einigen Situationen Varianten und Fortführung besprochen werden. Die Techniken im Kampfringen zeichnen sich wie erwähnt durch Kopfstösse, Ellbogenstösse, Schläge und in einem Fall auch Beissen aus (wenn man einen Vergleich mit mittelalterlichen Quellen ziehen möchte, dann ist «Brottningen» dem Codex Wallerstein am ähnlichsten). Auf Techniken mit Fingerkontrolle wird dagegen z.B. nicht eingegangen, im Gegensatz zu Manuskripten aus dem 15. Jh. (Ott usw.), die diesem Aspekt sehr viel Platz einräumen.
    Eingebettet ist die Edition in Enoksens Einführung (S. 5-19), die sich vor allem mit Terminologie (anhand von zeitgenössischen Wörterbüchern), einer quantitativen Analyse des Brottningen Manuskripts und einer Biographie Lings befasst (rund zwei Seiten, Heidenstam dagegen wird in einem Absatz von drei Sätzen abgehandelt), eine durchaus interessante und aus meiner Sicht ziemlich neutrale (ich hatte ehrlich gesagt eine etwas tendenziösere Darstellung erwartet) kulturgeschichtliche Einbettung, die das System Heidenstams zusammenfasst, den Bogen zu Glima (denn ein Glima-Handbuch ist das Brottningen-Manuskript dezidiert nicht!) und den Sagas schlägt (S. 66-77) sowie drei Seiten Bibliographie (S. 78-80). Ich habe mich weniger mit dem Kontext und mehr mit dem Manuskript und den beigefügten Fotostrecken befasst, daher wird mein Hauptaugenmerk darauf liegen.

    Vorab: Um die als Vergleiche herangezogenen Techniken zu benennen, verwende ich eine Mischung aus Begriffen, die ich z.T. aus der Judo-Nomenklatur entlehnt habe (nachdem dort Techniken RELATIV einheitlich unter dem japanischen Begriff definiert sind), teilweise aus dem historischen Ringen (v.a. nach Talhoffer und Von Auerswald, z.T. auch Hans Wurm), z.T. Begriffe aus dem Ringen (auf Englisch, nachdem das von den meisten Grapplern universeller verstanden wird als die im Deutschen gängigen Begriffe, die zudem regional extrem variieren können).

    Als Manuskript hat «Brottningen» klare Ähnlichkeiten mit den üblichen abbildungsfreien Quellen im HEMA-Ringen. Es scheint ebenso wie viele mittelalterliche Quellen zum Ringen primär für Leute geschrieben zu sein, die schon ringen können, daher entfallen Aspekte wie Beinarbeit, Durchführung von Grundtechniken, Druckaufbau etc. weitestgehend. Auch in Hinblick auf die beschriebenen Würfe erscheint mir ein Vergleich mit den mittelalterlichen Schriftquellen durchaus angebracht, so findet man z.B. Varianten des Schrenkens/gewin(n)lichen trit(t)s (+- vergleichbar mit einem tani otoshi), des Beinangriffs mit Druck auf Brust oder Hals (= kuchiki taoshi), des Beinangriffs mit Kopfstoss zur Brust (= spear double leg oder running double leg), des Schlossringens, der halben Hüfte (= Tai otoshi bzw. kubi nage), des Durchlauffens (= fireman’s carry/kata guruma), des Wyberhaggens (= kosoto gari) und des Hintertrettens bzw. des Radt vor dem Manne (= Osoto Gari). Dazu kommen einige im mittelalterlichen Ringen ungebräuchlichere Techniken wie z.B. Snapdowns und Angriffe von hinten (rear double leg). Enoksen gibt sowohl den schwedischen Originaltext als auch seine Übersetzung wieder, Letztere nach einem einleitenden Kurzssatz.
    Um diesen Mangel an Abbildungen zu kompensieren, hat Enoksen eigene Fotostrecken angefertigt. Das ist an sich recht löblich; man hätte den Zusammenhang evtl. noch klarer herausstellen können, indem man z.B. die Fotos nummeriert und jeweils im Text auf das konkrete Foto verwiesen hätte, was in Grappling-Handbüchern Standard ist. Das Problem ist aus meiner Sicht nur, dass diese den einzelnen Techniken zugeordneten Fotos zum Teil inhaltlich beträchtlich von dem im Text beschriebenen Techniken abweichen: Teilweise wird die Technik rechts beschrieben und links gezeigt oder umgekehrt, was ja noch angehen mag; häufig wird aber z.B. mit rechts das linke Bein des Gegners angegriffen statt wie im Text das rechte usw., was eine vollkommen andere Technik bedingt und z.B. die Wurfrichtung um 180° verändern kann. Zum Beispiel lesen wir bei [11] nach der Technikvorbereitung (Gegner verwringen, dessen linke Schulter nach vorne ziehen und die rechte nach hinten stossen, sodass er links einen Schritt nach vorne machen muss): «A must place his right foot outside against B’s left while simultaneously giving it a strong left handed thrust and place his right foot against B’s left to the left at ground level, then B must fall.” Nach der Beschreibung eines Konters für A (entsprechend Stück [9]: Fuss bei Feger des Gegners anhaben und mit Wyberhaggen/Kosoto Gari kontern) lesen wir: «If A at the same time treads on B’s foot, so he cannot move, it will work much easier.» Ok, A stellt also seinen rechten Fuss aussen (= rechts) neben B’s linken Fuss, fegt diesen anschliessend mit dem rechten Fuss nach links und stösst ihn darüber (vermutlich in Bewegungsrichtung rechts-vorne aus Sicht des Angreifers). Wie genau gefegt werden soll, ob mit dem Spann oder der Sohle wird nicht beschrieben, wir wissen also nicht, ob es jetzt eher sowas wie ein Okuri Ashi Harai (https://judoinfo.com/okuriashiharai/) , ein Deashi Barai (https://judoinfo.com/deashibarai/) oder meinetwegen sowas wie ein Kosoto Gake (https://judoinfo.com/kosotogake/) sein soll. In jedem Fall fällt der Gegner nach hinten-seitlich, irgendwo zwischen 12 und 3 Uhr aus Sicht des Angreifers, ditto wenn man auf den Fuss des Gegners steigt und ihn nach schräg hinten umschubst, was lustige Dinge mit den dem Knöchel anstellen kann (Variante 2). Enoksen steigt auf seiner Fotostrecke aber mit dem rechten Fuss aussen neben den RECHTEN Fuss des Gegners, indem er sich eindreht und mit einer halben Hüfte (Kopfhüftwurf / Kubi Nage https://www.youtube.com/watch?v=ClkSYVSL50A ) den Gegner nach vorne wirft (= zwischen 6 und 9 Uhr aus Sicht des Angreifers in Ausgangsstellung).

    Es gibt mehrere solcher rechts-links Verwirrungen zwischen Text und Bildern, wenn auch selten so deutlich wie hier, in der Regel ändert sich der Stand zum Gegner und die Fallrichtung daher etwas, aber selten mehr als 90°. Bei einigen Beschreibungen wäre meine Deutung aus anderen Gründen etwas anders als die von Enoksen, z.T. basierend auf meinem ringerischen Hintergrund (weswegen ich bestimmte Techniken «zu erkennen glaube» indem ich meine Erfahrung die Lücken im Text füllen lasse, so nach dem Motto: wenn man mir das vorlesen würde, würde ich jetzt das tun) – auch wenn mir bewusst ist, dass das u.U. für eine Deutung auch problematisch sein kann –, z.T. auch weil Enoksen die Technik m.E. anders beginnt (z.B. am Ellenbogen greift anstatt am Handgelenk etc.) oder durchführt (z.B. [15b]: Tomoe Nage mit Schultergriff, wo Sumi Gaeshi mit double underhook beschrieben wird) als im Text ausgeführt. In Summe würde ich bei mindestens 80% wenn nicht gar 90% der beschriebenen Techniken ausgehend von der Übersetzung (! Im Gegensatz zu Enoksen spreche ich kein Schwedisch und kann die Übersetzungsqualität daher nicht überprüfen!) etwas im Bewegungsablauf anders machen als bei Enoksens begleitenden Fotos gezeigt. Ich glaube zwar, dass Enoksens gezeigte Techniken mehrheitlich funktionieren würden – auch wenn ich mir bei einigen aufgrund der etwas unklaren Kraftrichtung bzw. den übertriebenen Bewegungen bei Duckunder etc. nicht wirklich vorstellen kann, dass das ohne Durcheinander (scramble) oder Konterversuch ablaufen kann, zumindest nicht gegen einen erfahrenen Gegner, nachdem ich die erforderliche Kontrolle auf den Bildern einfach nicht in dem üblichen Masse erkennen kann. Ich würde mich freuen, die unterschiedlichen Interpretationen bei passender Gelegenheit mit Herrn Enoksen zu diskutieren.

    Als letzten Punkt möchte ich noch das Thema Marketing ansprechen, nachdem ich davon ausgehe, dass das einer der häufigsten Kritikpunkte an Enoksen sein dürfte. Auf der oben verlinkten Website des Autors lesen wir: «For the first time ever; the complete system of warrior wrestling is presented to an international audience. Old rough’n’tumble is a devastating fight style practiced by Scandinavian soldiers. This book contains indepth descriptions of all major techniques and their combat applications. Hundred instructive action photos illustrate how it is performed by native Glima champions. The main sources of rough’n’tumble are found in the Nordic National Archives connected with grandmaster Per Henrik Ling’s (1776–1839) early 19th century martial arts achievements. There are 38 fight situations preserved to posterity; defensive reactions instantly turning offensive by vicious counter attacks and shattering takedowns. All techniques are executed in the living tradition of Combat Glima and clarified 18th century explanations. As additional material, the oldest Norse warrior manual from 13th century will be used as an inspiration to those who keep the Viking spirit alive!” Zusätzlich kommentiert der Autor selbst: «Perhaps the nerdiest book I have written, since it mainly regards Glima practitioners, and others with an assorted taste for unarmed Viking martial arts. Produced exclusively for the bicentennial celebration of our Royal Central Institute of Gymnastics, founded by Mr. Ling and still renowned as the oldest existing University of its kind.
    Somit ist der Anspruch schon mal nicht ganz der, den man von Enoksen generell vertretener Position des Glima als “wikingischer” Kampfkunst erwarten würde; dennoch könnte man auch hier sicher noch klarer sagen, was man jetzt eigentlich primär macht – nämlich das 1842 geschriebene Brottningen-Manuskript von Heidenstam zum Thema Ringen in der militärischen Ausbildung des 19. Jh. transkribieren, editieren und mit einem Interpretationsansatz (! finde ich sehr wichtig, nachdem die Illustrationen nicht als solcher deklariert werden, soweit ich sehen kann, wodurch gewollt oder ungewollt ein gewisser de-facto-Charakter entsteht) verbinden. Das würde aus wissenschaftlicher Sicht schon mal sehr viel Wind aus diversen Segeln nehmen. Dass man darüber hinaus eine Zusammenschau über diverse Jahrhunderte versucht, ist aus meiner Sicht durchaus legitim; jedoch hätte man sich meiner Meinung nach stärker mit den nachweisbaren Einflüssen befassen können, denen Ling und Heidenstam ausgesetzt gewesen sein dürften (was gibt es an vergleichbarer zeitgenössischer Literatur in den Eingangsverzeichnissen der Bibliotheken in Lund, Stockholm usw.? Lassen sich z.B. die Ringanleitungen von Heidenstam und Jahn vergleichen usw.). persönlich finde es ja sehr schade, dass der sportliche Teil des Manuskripts nicht mit ediert wurde, nachdem davon auszugehen ist, dass dieser die technische Basis der «Rough’n’tumble» Techniken gebildet haben und in Folge dessen vorab vermittelt worden sein dürfte. Sowohl aus historischer als auch aus HEMA-technischer Sicht wäre es vermutlich auch wünschenswert gewesen, sich dem historischen Umfeld und der «lineage» (Thomas Hoyer Monstery als Schüler von Lings Akademie usw.). Je nachdem, welches Publikum man primär ansprechen könnte, wären auch ein paar generelle Informationen zu Fechtbüchern in Europa (14.-19. Jh.) von Interesse gewesen, ebenso wie eine Bewertung des militärischen Nahkampfs im 19. Jahrhundert (in etwa so à la «Charakterschulung oder von Schlachtfeld-Relevanz?»). Mich persönlich hat auch etwas überrascht, dass der Autor selbst im Buch soweit zurücktritt und so wenig über seine eigenen Erfahrungen schreibt (eventuell erklärt sich dies partiell dadurch, dass das Buch ohnehin praktisch nur von Enoksen selbst vertrieben wurde und man in Folge davon ausgehen kann, dass die Leserschaft wissen sollte, wer er ist). Auch Einarsson wird eigentlich nur im Vorwort und in der Bibliographie erwähnt, nicht im Kontext dessen, was er Enoksen vermittelt haben soll.
    Wie weit man bei diesen Punkten jeweils in die Tiefe gehen möchte, wäre hier natürlich offen, das Material würde m.E. auch für eine akademische Abschlussarbeit ausreichen. In Summe würde ich aber sagen, dass das Buch durch 10-20 zusätzliche Seiten mit den richtigen Inhalten deutlich kompletter und auch wissenschaftlicher werden könnte (vielleicht eine Idee für die zweite Auflage?

    Als abschliessende Bewertung würde ich wie folgt zusammenfassen: Die Transkription und Übersetzung von Heidenstams Brottningen Manuskript ist zweifellos eine beachtenswerte Leistung und in meinen Augen klar der Hauptverdienst des Buches. Der kulturelle Kontext zur Entstehungszeit ebenso wie die Auszüge aus den mittelalterlichen Schriftquellen sind erbaulich zu lesen, aber letzten Endes zu oberflächlich, zu unkritisch und auch etwas zu einseitig, als dass sie wissenschaftlich von beträchtlichem Wert wären, sie geben allenfalls einen sehr groben Rahmen, in dem man beginnen kann, die 38 Kampfring-Situationen einzuordnen. Die Fotostrecken mit den Interpretationsansätzen sehe ich persönlich eher kritisch, insbesondere, da verabsäumt wurde, auf den interpretativen Charakter im allgemeinen und die zum Teil beträchtlichen Abweichungen zwischen Bild und Text hinzuweisen oder diese zu begründen. In der vorliegenden Form sind die Fotostrecken aus meiner Sicht leider von primär illustrativem Wert, jeder rekonstruierende Ansatz der Brottningen-Techniken sollte aus meiner Sicht rein vom Text ausgehen, da die Fotostrecken meiner Meinung nach dafür zu unzuverlässig sind.

    Beste Grüsse
    Period.
    Geändert von period (20-03-2020 um 17:33 Uhr) Grund: Rechtschreibung, Hervorhebungen

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