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Aiki5O+
Genau das ist der Punkt, weshalb ich den Wikipedia-Artikel über den Verbotsirrtum zitiert habe.
ich meine allerdings, Du hättest da besser den Tatbestandsirrtum zitiert:
Verbotsirrtümer nach § 17 StGB unterliegen der Prüfung ihrer Vermeidbarkeit. Darauf kommt es beim Tatbestandsirrtum nicht an. Der Grund liegt darin, dass der Täter den Sachverhalt hier gerade verkennt, ihn die Appellfunktion des Tatbestands somit gar nicht erreicht. Ein dahin gehender Vorwurf, dass er den Sachverhalt hätte erkennen müssen, kann allenfalls zur Strafbarkeit wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts führen, wobei Voraussetzung ist, dass das Gesetz einen Fahrlässigkeitstatbestand überhaupt vorsieht.
https://de.wikipedia.org/wiki/Tatbes...rrtum#Dogmatik
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Aiki5O+
Ich halte es für blanken Zynismus zu behaupten und vor Gericht damit durchzukommen, man könne nicht gewusst haben, das Tritte oder Schläge zum Kopf gegen eine am Boden liegenden zum Tod führen können (nicht müssen! deswegen bedingter Vorsatz).
Und darüber kann man sich auch als Nicht-Jurist ärgern.
nach Thomas Fischer, ehemaliger Richter am Strafsenat des BGH reicht es aus, wenn man von der Möglichkeit gewusst hat, aber darauf vertraut, dass das nicht passiert:
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie stehen mit einem großen Wackerstein am Fenster im dritten Stockwerk oberhalb einer Fußgängerzone. Gleich werden Sie den Stein aus dem Fenster werfen. Sie wissen: Wenn der Stein jemanden trifft, ist das tödlich. Es gibt folgende Möglichkeiten, was Sie denken könnten:
◾1) Da unten geht mein alter Feind X. Ich hoffe, dass ich ihn treffe.
◾2) Da unten ist es so voll, dass es sicher irgendjemanden erschlagen wird. Tut mir leid, aber ich muss diesen Stein loswerden.
◾3) Es kann sein, dass ich jemanden treffe. Da hat er/sie halt Pech gehabt.
◾4) Es kann sein, dass ich jemanden treffe. Aber das wäre wirklich furchtbar, und hoffentlich passiert es nicht.
◾5) Es kann überhaupt nicht sein, dass ich jemanden treffe, denn die Fußgängerzone ist komplett gesperrt.
Die Beispiele klingen albern, sind aber nur Verdichtungen. In den Begriffen des Strafrechts bedeuten sie:
◾1) Absicht (Töten von X ist das Motiv)
◾2) Direkter Vorsatz (Töten eines Menschen wird als sicher vorhergesehen)
◾3) Bedingter Vorsatz (Töten wird als möglich erkannt und "in Kauf genommen")
◾4) Bewusste Fahrlässigkeit (Töten wird als möglich erkannt, aber auf guten Ausgang vertraut)
◾5) Unbewusste Fahrlässigkeit (Töten wird gar nicht als Möglichkeit erkannt).
https://www.spiegel.de/panorama/just...a-1208943.html
[Hervorhebungen von mir]
Angesichts der Ku'dammraser wurde wohl von Rechtswissenschaftlern (von denen der Autor wohl nicht so viel hält) über die Einführung des Merkmals "Leichtfertigkeit" diskutiert, die zwischen Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz angesiedelt wäre:
Schon sprangen ProfessorInnen aus den Büschen und teilten mit, dass der Nachweis des Mordvorsatzes von Berlin gar kein Problem sei. Als der 4. Strafsenat des BGH das anders sah (Urteil vom 1. März 2018, Aktenzeichen 4 StR 399/17), schwenkte man flugs um und fordert seither die Einführung eines "Leichtfertigkeits"-Tatbestands, damit (!) die Raser nicht wegen Mordes verurteilt werden "müssen". Liebe Anwaltsvereine, wäre das nicht was für Euch?
Es naht die Stunde der Wissenschaft: Was ist denn so ein Vorsatz überhaupt? Ist der Beweis nicht schrecklich schwierig? Ist nicht problematisch, dass die Rechtsprechung "normativ" an die "Psychologisierung" herangeht und Fragen zu stellen wagt wie diese: Was glaubt/denkt/will man wohl im Allgemeinen, wenn man jemandem ein Brotmesser in die Herzgegend sticht? Die Wissenschaft hat ein erstaunliches Alternativangebot: Wir "normativieren" den Vorsatz, indem wir ihn abschaffen, wo er uns nicht gefällt. Konkret: Der "bedingte" Vorsatz wird mit der "Fahrlässigkeit" in eine wie auch immer genannte "neue Kategorie" verschmolzen: Was sich objektiv jedem Vernünftigen aufdrängt, heißt dann "leichtfertig". Die Strafe dafür muss natürlich deutlich höher sein als die für ("einfache") Fahrlässigkeit, darf aber ein bisschen geringer ausfallen als bei "direktem" Vorsatz. Alles andere bleibt, wie es ist: "Direkter Vorsatz", "Absicht", "einfache" Fahrlässigkeit".
Noch ein bisschen konkreter: Was der (besoffene, erregte, dumme, provozierte, individuelle) Täter dachte, als er vor zwei Jahren dem Opfer in a) Fuß, b) Kopf, c) Oberschenkel, d) linken Unterbauch, e) Brust schoss/stach/schlug, weiß man zwar immer noch nicht, entscheidet es aber nun nach "objektiven" Gesichtspunkten: Stich 6 cm oberhalb Bauchnabel = Tötungsvorsatz; Stich 4 cm neben linker Lunge: kein Tötungsvorsatz. Oder so ähnlich. Anschließend unterhalten wir uns über Kultur, Alkohol, Intelligenz, Emotion und den Einzelfall. Vielen Dank, Wissenschaft! Es ist immer wieder faszinierend zu erleben, wie Menschen, die in ihrem ganzen Leben noch keinen einzigen wirklichen Strafrechtsfall entschieden haben, alles darüber wissen, wie man das am besten macht.
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Aiki5O+
Mir geht es bei der Diskussion es allein um den Satz "Dem Angeklagten habe man aber nicht nachweisen können, dass er von deren Gefährlichkeit wusste, sagte der Gerichtssprecher".
naja, in dem Fall hat er den ja nicht getreten, sondern gehauen, wie genau, wissen wir nicht.
Wenn Du jemanden in das Gesicht schlägst, rechnest Du ja auch nicht unbedingt damit, dass der daran stirbt, obwohl das auch bei stehenden Personen vorkommt, besonders wenn die dann mit dem Kopf irgendwo aufknallen (siehe Fall Tuğçe Albayrak)
Dass die eigenen Schläge tödlich sind wird ja eher in Kampfsportarten erzählt, in denen man sich nicht oder nicht voll schlägt (wär ja auch zu gefährlich).
Wenn man sich regelmäßig mit anderen sportlich klopft, liegt nahe, dass man das für nicht so gefährlich hält.
Der Täter im diskutierten Fall hat nach dem von Dir verlinkten Artikel am Boden noch weitergeschlagen, das ist im Kickboxen ja gar nicht erlaubt...
Wenn es nicht erlaubt wäre, weil es als gefährlich gilt, und dem ehemaligen Kickboxer das bekannt war, wär es wohl Vorsatz gewesen.
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Aiki5O+
Bei der Neuverhandlung wurden die Raser doch noch
wegen Mordes aufgrund bedingten Vorsatzes verurteilt (Spiegel Online), allerdings mit einer gegenüber dem Ersturteil modifizierten Begründung. Den Unterschied machte dieses Gutachten aus: "Nicht erst beim Befahren der Unfallkreuzung, sondern schon 90 Meter vorher habe Marvin N. die Gefahr erkannt. Ein Unfallforscher hatte festgestellt, dass er an dieser Stelle kurz den Fuß vom Gaspedal genommen hatte. Es ist exakt der Zeitpunkt, an dem nach Angaben des Gutachters die letzte Chance bestand, noch vor der Kreuzung zum Stehen zu kommen."
Danke für den Link und das Zitat.
Wenn er den Fuß nicht vom Gas genommen hätte, wären die mit Fahrlässiger Tötung (bewusste Fahrlässigkeit, Fall 4. oben) davon gekommen?
Warum wurde dann sein Kumpel, der nicht bremste, auch wegen Mord verurteilt?
Eventuell war das Fuß vom Gas nehmen nur das Merkmal, wo die Gefahr erkannt werden konnte und dass die billigend in Kauf genommen haben, jemanden zu töten und nicht gehofft haben, dass schon nix passiert, hat man ihnen nicht geglaubt...
Dass die Angeklagten sagen, sie hätten niemals mit einem Risiko für andere gerechnet, sondern auf einen guten Ausgang vertraut, wertet das Gericht als abwegige Schutzbehauptung. "Marvin N. und Hamdi H. rasten nicht über eine einsame Dorfstraße, sondern über eine der Hauptschlagadern der Hauptstadt", sagt Schertz: "Das wussten die Angeklagten auch, das war Teil des Kicks."