Zitat von
Gibukai
Hallo,
falls sich Deine Frage auf echtem Interesse gründet, müssten bitte kurz ein, zwei Punkte bedacht werden. Zunächst ist die Feststellung richtig, dass Shōtōkan-Ryū an sich seinen Zusammenstellern, G. Funakoshi (1868–1957) und Y. Funakoshi (1906–1945), zufolge keinen sportlichen Wettkampf umfasst. Daher ist es angemessen, die Verknüpfung „Shōtōkan-Ryū und Sportwettkampf“ kritisch zu hinterfragen bzw. auf sie hinzuweisen.
Karate der Funakoshi-Linie wurde seit den 1930er Jahren in Deutschland unterrichtet, und zwar anfangs nur in kleinsten Grüppchen und von Personen, die selbst nur kurz in Tōkyō gelernt hatten (1930er Jahre), die gar keinen echten Zugang zum Shōtōkan-Ryū hatten (T. Murakami [1927–1987], 1950er/1960er Jahre) oder von sprach- und kulturunverständigen Deutschen, die selbst eher sporadisches Training erhielten (seit den 1950er Jahren). Danach folgten junge japanische Vertreter des Sport-Karate. Aus diesem Grund und auf dieser mangelhaften Basis bildete sich in Deutschland eine neue „Tradition“ von Sport-Karate unter dem Namen Shōtōkan aus. Daher ist diese Art von Sport-Karate eher das, was in den alteingesessenen Karate-Vereinen in Deutschland erwartbar wäre.
Hinzu kommt, dass bezüglich Karate der Begriff „Tradition“ hierzulande in Karate-Kreisen ganz seltsam neu ausgelegt worden ist. Oft meinen Sport-Karateka nämlich, dass ihr Sport-Karate ohne Wettkampf „traditionelles Karate“ sei, während ihr Sport-Karate mit Wettkampf das Gegenteil wäre. Dass „Tradition“ möglicherweise meinen könnte, dass Wissen von Person A zu Person B tradiert wird und dann von Person B zu Person C usw., wird eher selten wahrgenommen. Aber genau dieses Tradieren von Wissen und somit das Vorhandensein von Übertragungslinien machte das Karate der Karate-Pioniere und ihre „Traditionen“ Anfang des 20. Jahrhunderts aus.
Anfang des 20. Jahrhunderts gab es dann auch keine eigenen „Dōjō“ für Karate. Tatsächlich scheint G. Funakoshi derjenige gewesen zu sein, der 1938 das erste allein zum Zwecke der Karate-Übung errichtete Gebäude, ein Karate-Dōjō im wahrsten Sinn des Wortes also, beziehen konnte. Den Namen dieses Dōjō kennt heute (fast) jeder: Shōtōkan. In seinem Dōjō wurden an der Stirnseite die Namen von drei japanischen Gottheiten deutlich sichtbar ausgehangen. Diese drei japanischen Gottheiten hatten für Japaner damals hinsichtlich Kampfkunst und Heimatgefühl eine Bedeutung. Tatsächlich werden dieselben drei Gottheiten bis heute im dritten Shōtōkan in Tōkyō mittels jährlichen Shintō-Ritualen verehrt. Für Japaner ist das eher „normal“. Doch diese drei Gottheiten sind für Karate an sich wiederum „nur“ äußerer Putz, um es in der Kultur Japans einzupassen. Keineswegs – und das ist zum Verständnis wirklich wichtig – war G. Funakoshi der Auffassung, dass derartige japanische Kultur zusammen mit seinem Karate in andere Länder überführt werden müsse. Im Gegenteil vertrat er die Auffassung, dass sein Karate in jedem Land eigenständig in die jeweilige Kultur eingeführt werden sollte.
Mit anderen Worten wäre es „traditionell“ in G. Funakoshis Sinne, eben japanisches Ritual in Deutschland wegzulassen. Zum Beispiel verfügen wir in Deutschland über eigne Begrüßungsrituale, wie z. B. „Hallo!“ oder „Guten Tag!“ zu sagen. Anstatt also „japanische Grüße“ auszutauschen, wäre es angebracht, für uns normale Umgangsformen zu nutzen.
Weshalb dies hier nun aber eher nicht geschah, hat zwei Hauptgründe. Einmal kannten viele der Karate-Pioniere in Deutschland G. Funakoshis diesbezüglichen Standpunkt (wie auch seine Lehre insgesamt) eher nicht. Und zweitens stammen viele der japanischen Karate-Pioniere in Deutschland aus dem Umfeld der Takushoku-Universität, d. h. der „Kolonialisierungsuniversität“, die bis heute so heißt. Dass deren Absolventen ganz eigene Vorstellungen bezüglich japanischer Etikette u. Ä. haben, kann sich jeder leicht denken … Abgesehen von den beiden Gründen sind Dinge wie Ritual leicht nachzuäffen. Und da die oben erwähnten deutschen Karate-Pioniere eher wenig Tiefgang im Karate hatten bzw. über eher oberflächliches Karate-Wissen und -Können verfüg(t)en, krall(t)en sie sich an derartig „japanisch“ und somit „traditionell“ erscheinenden Äußerlichkeiten fest und überhöhten sie, um ganz einfach mangelndes Wissen und Können zu übertünchen …
Grüße,
Henning Wittwer