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Thema: Von der Technik zur Funktion...

  1. #1
    Pai Mei Gast

    Standard Von der Technik zur Funktion...

    In diesem Thread möchte ich mit Euch diskutieren, was es benötigt, um Techniken für die reale Anwendung im Kampf funktionsfähig werden zu lassen.

    Meine Sicht der Dinge:

    Vielen Kampfkünsten wird stets nachgesagt, dass deren Konzepte und Techniken realitätsfremd wären und sich in einer echten Auseinandersetzung nicht umsetzen lassen. Diesen Vorwurf teile ich nicht.

    Das Problem an Kampfkünsten besteht darin, dass sie aus zwei Bestandteilen bestehen, nämlich der "Kunst" = konzeptionelle-technische Kompetenz und dem "Kampf" = attributive-taktische-kämpferische Kompetenz. Die Kunst ist alles andere als unrealistisch, im Gegenteil, sie bietet uns eine große Ressource an Wissen, die uns einen strukturellen Vorteil verschaffen kann, jedoch nur dann, falls wir in der Lage sind die "Kunst" mit dem "Kampf" zu verbinden und damit wirklich zum Kampfkünstler zu werden.

    Was meine ich damit?

    Jede körperliche Aktivität folgt einem Kanon von Bewegungen, die im Laufe der Zeit aufgrund von Zielsetzungen, Bedingungen, Erfahrungen oder Studien im Sinne von "best practice" entwickelt oder die innerhalb des Reglements eines Sports als besonders effektiv gelten und deshalb zum Standard wurden.

    D. h. jede Kampfkunst verfügt ausgehend von ihrer Doktrin über spezifische Konzepte und ein Technikrepertoire, um die gestellte Aufgabe zu lösen.
    Dabei unterscheiden sich manche Kampfkünste mehr oder weniger völlig voneinander, während viele Kampfkünste jedoch gemeinsame Wurzeln und Ansätze beinhalten. Der Kampfsport ist in dieser Diskussion einerseits exklusiv zu betrachten, da wir hier eine andere Ausgangssituation vorfinden, nämlich den regelbasierten Zweikampf von Kämpfern gleicher Gewichtsklassen, andererseits sind jedoch seine Trainingsmethoden und die daraus hervorgebrachten Eigenschaften als immanente Bestandteile der Teilkompetenz "Kampf" zu verstehen.

    Warum scheinen Kampfkünste nicht zu funktionieren?

    Einfach deshalb, weil viele sog. Kampfkünstler niemals über die Teilkompetenz "Kunst" hinaus trainiert haben.

    Ist die "Kunst" demnach schlecht und redundant?

    Nein, die "Kunst" ist die Basis und ohne die Basis muss man sich über das Thema "Kampf" keine Gedanken machen, sofern man nicht rein instinktbasiert kämpfen möchte, was nur solange funktioniert bis man auf einen Angreifer trifft, der entweder "Kunst" und "Kampf" zu verbinden weiß oder naturgegeben eine höher Kompetenz im "Kampf" aufweist.

    Um die "Kunst" zu lernen, benötige ich einen guten Ausbilder, kooperative Partner und Zeit.

    D. h. wenn ich eine Technik erlernen möchte, benötige ich jemand, der sie mir richtig und verständlich demonstrieren und erläutern kann, Partner an denen ich üben kann, wieso ich diese Technik wann mache und wie das Wirkungsprinzip der Technik funktioniert (sei es nun die Nutzung bestimmter Körperteile, Winkelarbeit, body positioning, off-line-stepping, Hebelwirkung, Zentrallinie, kürzester Weg zwischen A und B, Diagonalen, Kreise, Rotation, Ganzkörpereinsatz, Distanzverlängern oder -verkürzen zwecks Management der gegnerischen Energie etc.) und last but not least Zeit um das Erlernte durch Wiederholung zu verinnerlichen und im "System" zu automatisieren, abzuspeichern, so dass mein Gehirn schnell darauf zugreifen kann.

    Warum reicht dann die "Kunst" nicht aus?

    Weil die "Kunst" ein Optimum definiert, dessen Erreichung erstrebenswert sein sollte, jedoch in der Realität oft nie erreicht werden wird.

    Warum wird das Optimum in der Realität oft nicht erreicht?

    Weil wir es mit einem lebendigen Gegner (nicht Partner) zu tun haben, der naturgemäß - egal ob trainiert oder untrainiert - sein Bestes tun wird, um die Anwendung unserer "Kunst" zu vereiteln, weil wir nicht jeden Tag gleich befähigt sind unsere "Kunst" abzurufen (schlechter Tag, Einschränkungen durch Verletzungen oder Krankheit) und weil wir die Bedingungen unter denen ein Kampf stattfindet nicht beeinflussen können (Witterung, Räume, Hindernisse).

    Nehmen wir Sport, Fußball z. B. ... jeder Trainer drillt seine Mannschaft auf eine spezielle Strategie, darüber hinaus werden fußballerische Techniken geübt, die eben in diesem Sport Standard sind. Dennoch gewinnt in einem Ausscheidungsspiel nur eine von beiden Mannschaften, obwohl Beide die gleichen Techniken (weil der menschliche Bewegungsmechanismus auch nicht mehr Technik bereitstellen kann) beherrschen und vielleicht unterschiedliche strategische Ansätze anwenden. Warum gewinnt nur eine Mannschaft? Weil es über die Technik und Strategie auch auf die Fitness, die Schnelligkeit, die Kraft, die Ausdauer, das Teamplay, das Timing, die Fähigkeit zur Antizipation, die Reaktionsfähigkeit, das Vermögen zum Pressing, die Fähigkeit zum schnellen Umschalten, die Fähigkeit eine Strategie im Spiel dem Gegner anzupassen, den Willen zum Sieg etc. ankommt.

    Deshalb sollte es niemals das Ziel sein, dass Optimum zu erreichen, indem man sich im bloßen Training mit der "Kunst" verzettelt. Das Ziel sollte es sein 60 % bis 70 % der "Kunst" mit dem Kompetenzbereich "Kampf" zu verbinden, um dadurch auf 90 % bis 100 % Wirkung zu gelangen.

    Wieso scheitern wir, wenn uns diese 30 % bis 40 % "Kampf" fehlen?

    Einfach weil wir da draußen auf 90 % bis 100 % kompetente Leute treffen können oder die Bedingungen so mies sind, dass wir nicht mal die 60 % "Kunst" erreichen und dann nichts in der Tasche haben, um diesen Fehlstand auszugleichen. Aber selbst wenn ich die 60 % "Kunst" bringe, aber auf einen Gegner treffe, der 90 % "Kampf" oder 50 % "Kunst" plus 50 % "Kampf" mitbringt, verliere ich.

    Was bedeutet "Kampf" nun?

    "Kampf" bedeutet eine Technik in der Dynamik einer realen Auseinandersetzung zur Funktion bringen zu können. D. h. dann nicht unbedingt, dass das Ganze lehrbuchhaft aussieht oder der Gegner just ausgeschaltet wird. Das kann sicher passieren, wird es aber oft nicht oder nicht sofort. Es heißt vielmehr, dass man im Kampf erkennt, dass eine Kompetenz im Bereich "Kunst" vorhanden ist, unabhängig davon, ob die "Kunst" nun Wirkung erzielt oder nicht. Darüber hinaus bedeutet "Kampf" Timing (Distanz- und Zeitgefühl), Hand-Auge-Koordination, antizipative Fähigkeiten (Angriffsmöglichkeiten des Gegners blockieren, bevor sie entstehen) optische Fähigkeiten (Angriffe des Gegners sehen, Lücken in der Verteidigung des Gegners sehen), sensitive Fähigkeiten (Angriffsrichtungen des Gegners fühlen), Reaktionsfähigkeit (intuitiv die richtige Gegenbewegung durchführen), Fähigkeit zur Anpassung (mein Gegner macht etwas unerwartetes, ich passe mich an), Fähigkeit zu "transitions" (meine Technik scheitert, ich friere nicht ein oder kämpfe instinktiv weiter, sondern entwickle unter Druck Gegenmaßnahmen oder neue Anwendungsfenster für andere Techniken), Fitness, Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer, Nehmerqualitäten (ich fresse, muss aber dennoch im "Spiel" bleiben), mentale Qualitäten (Wille, Angstkontrolle).

    Und wie erreiche ich Kompetenz im "Kampf"?

    Durch das Trainieren der "Kunst" unter stetig wachsenden kompetitiven Bedingungen, d. h. im Training mit nur noch teilkooperativen oder unkooperativen Partnern, Training mit Schutzausrüstung, Themen-Sparring, teiloffenes Sparring, offenes Sparring, mit der Erkenntnis, dass eine Technik scheitern darf, deshalb trotzdem ihre Berechtigung besitzt (wenn sie in mindestens 50 % aller Fälle schoneinmal funktioniert hat) und das kein Weltuntergang ist, sondern bedeutet, dass man einfach noch mehr trainieren muss ... und natürlich auch durch Wettkampferfahrung.

    Obwohl ein Wettkampf den realen Kampf zwar nicht vollständig abbilden kann, "simuliert" er den realen Kampf größtmöglich. So hat ein Muay Thai-Boxer oder MMA-Kämpfer (wobei hier das Wort "Kampfsimulation" zwar alles Andere als angemessen ist, aber eben im Kontext zum regellosen Kampf auf der Straße verwendet wird) natürlich die "edge" im Vergleich zu einem bsp. Kung Fu-Techniker oder Krav Maga-Selbstverteidigungsexperten, wenn wir von Umgebungsbedingungen (kein Referee, Witterung, Räume, Hindernisse, Dunkelheit, Lautstärke, Gruppensituationen), Waffen (Stock, Messer, Alltagsgegenstände), verbotenen Techniken (insbesondere Beißen, Augen ausdrücken) etc. absehen. Gleichzeitig bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass der Muay Thai-Boxer oder MMA-Kämpfer eine Auseinandersetzung auf der Straße gewinnt.

    Und was lernen wir daraus?

    Kampfkünstler ist, wer die "Kunst" und den "Kampf" zu verbinden weiß. Dann wirkt Kampfkunst auch entsprechend.


    Bitte Eure Gedanken, Anregungen, Kritik ... immer höflich, immer fair.
    Geändert von Pai Mei (08-12-2019 um 14:41 Uhr)

  2. #2
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    Standard

    So viel Gedanken, um eine eigentlich einfache Sache. Hier mal eine andere Definition. "Kampfkunst" kommt von "Kämpfen können". Wie lernt man "Kämpfen"? So wie Du es darstellst, nur in einfacheren Worten: Techniken und Taktiken in die Luft drillen, am kooperativen Partner drillen, am unkooperativen Partner drillen (Sparring mit Rollen, freies Sparring). Dazu Kraft und Ausdauer sowie Schnellkraft-Training.

    Aber, noch eine andere Definition, die ich viel besser finden (Rest ist der selbe): Das mit der "Kampfkunst" kommt daher, dass man sich aus Werbegründen höherwertiger darstellen wollte/möchte als "schnöder Kampfsport". Es geht allein um die Semantik. Es gab auch mal den Versuch den Begriff Handwerk (wieder) einzuführen. Egal, man kann sich hier auch zu tief in Erklärungsversuchen verstricken und verliert nur das Ziel aus den Augen. Man muss es üben, nicht nur darüber nachdenken und Inhalte suchen, wo keine sind.

  3. #3
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    Standard

    Zitat Zitat von Pai Mei Beitrag anzeigen
    Vielen Kampfkünsten wird stets nachgesagt, dass deren Konzepte und Techniken realitätsfremd wären und sich in einer echten Auseinandersetzung nicht umsetzen lassen. Diesen Vorwurf teile ich nicht.

    ...

    Dabei unterscheiden sich manche Kampfkünste mehr oder weniger völlig voneinander, während viele Kampfkünste jedoch gemeinsame Wurzeln und Ansätze beinhalten. Der Kampfsport ist in dieser Diskussion einerseits exklusiv zu betrachten, da wir hier eine anderen Ausgangssituation vorfinden, nämlich den regelbasierten Zweikampf von Kämpfern gleicher Gewichtsklassen, andererseits sind jedoch seine Trainingsmethoden und die daraus hervorgebrachten Eigenschaften als immanente Bestandteile der Teilkompetenz "Kampf" zu verstehen.

    Warum scheinen Kampfkünste nicht zu funktionieren?

    Einfach deshalb, weil viele sog. Kampfkünstler niemals über die Teilkompetenz "Kunst" hinaus trainiert haben.
    Boaahh - wasn Text. Also nur mal zum Anfang.

    Mehr? Oder weniger? Oder völlig? .. Wenn man tief genug gräbt, haben alle gemeinsame Wurzeln.

    "Kampfsport" sehe ich nur dann, wenn das Betreiben hauptsächlich auf das Gewinnen von Wettkämpfen ausgerichtet ist. Ansonsten ist es eine Trainingsmethode, sich an Wettkämpfen zu beteiligen. Da ist ein gewisser Widerspruch drin, das wäre aber ne Extra-Diskussion, die hier mit Sicherheit schon geführt wurde.

    Geringes kämpferisches Vermögen hängt einfach mit falschem u./o. zu geringem Partnertraining zusammen.

  4. #4
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    Standard

    Zitat Zitat von Oldschool Beitrag anzeigen
    Aber, noch eine andere Definition, die ich viel besser finden (Rest ist der selbe): Das mit der "Kampfkunst" kommt daher, dass man sich aus Werbegründen höherwertiger darstellen wollte/möchte als "schnöder Kampfsport". Es geht allein um die Semantik.
    So einfach isses nich.

  5. #5
    El Greco Gast

    Standard

    Das Problem vieler Kampfkünste ist das der Praxisbezug fehlt und ohne VK-Kampftraining kommt eben keine Effektivität zustande!
    Desweiteren sind viele KK zu techniklastig.

  6. #6
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    Standard

    Sparring.
    “Das ist zwar peinlich, aber man darf ja wohl noch rumprobieren.”
    - Evolution

  7. #7
    1789 Gast

    Standard

    Zitat Zitat von Pai Mei Beitrag anzeigen
    In diesem Thread möchte ich mit Euch diskutieren, was es benötigt, um Techniken für die reale Anwendung im Kampf funktionsfähig werden zu lassen.

    Meine Sicht der Dinge:

    Vielen Kampfkünsten wird stets nachgesagt, dass deren Konzepte und Techniken realitätsfremd wären und sich in einer echten Auseinandersetzung nicht umsetzen lassen. Diesen Vorwurf teile ich nicht.

    Das Problem an Kampfkünsten besteht darin, dass sie aus zwei Bestandteilen bestehen, nämlich der "Kunst" = konzeptionelle-technische Kompetenz und dem "Kampf" = attributive-taktische-kämpferische Kompetenz. Die Kunst ist alles andere als unrealistisch, im Gegenteil, sie bietet uns eine große Ressource an Wissen, die uns einen strukturellen Vorteil verschaffen kann, jedoch nur dann, falls wir in der Lage sind die "Kunst" mit dem "Kampf" zu verbinden und damit wirklich zum Kampfkünstler zu werden.

    Was meine ich damit?

    Jede körperliche Aktivität folgt einem Kanon von Bewegungen, die im Laufe der Zeit aufgrund von Zielsetzungen, Bedingungen, Erfahrungen oder Studien im Sinne von "best practice" entwickelt oder die innerhalb des Reglements eines Sports als besonders effektiv gelten und deshalb zum Standard wurden.

    D. h. jede Kampfkunst verfügt ausgehend von ihrer Doktrin über spezifische Konzepte und ein Technikrepertoire, um die gestellte Aufgabe zu lösen.
    Dabei unterscheiden sich manche Kampfkünste mehr oder weniger völlig voneinander, während viele Kampfkünste jedoch gemeinsame Wurzeln und Ansätze beinhalten. Der Kampfsport ist in dieser Diskussion einerseits exklusiv zu betrachten, da wir hier eine andere Ausgangssituation vorfinden, nämlich den regelbasierten Zweikampf von Kämpfern gleicher Gewichtsklassen, andererseits sind jedoch seine Trainingsmethoden und die daraus hervorgebrachten Eigenschaften als immanente Bestandteile der Teilkompetenz "Kampf" zu verstehen.

    Warum scheinen Kampfkünste nicht zu funktionieren?

    Einfach deshalb, weil viele sog. Kampfkünstler niemals über die Teilkompetenz "Kunst" hinaus trainiert haben.

    Ist die "Kunst" demnach schlecht und redundant?

    Nein, die "Kunst" ist die Basis und ohne die Basis muss man sich über das Thema "Kampf" keine Gedanken machen, sofern man nicht rein instinktbasiert kämpfen möchte, was nur solange funktioniert bis man auf einen Angreifer trifft, der entweder "Kunst" und "Kampf" zu verbinden weiß oder naturgegeben eine höher Kompetenz im "Kampf" aufweist.

    Um die "Kunst" zu lernen, benötige ich einen guten Ausbilder, kooperative Partner und Zeit.

    D. h. wenn ich eine Technik erlernen möchte, benötige ich jemand, der sie mir richtig und verständlich demonstrieren und erläutern kann, Partner an denen ich üben kann, wieso ich diese Technik wann mache und wie das Wirkungsprinzip der Technik funktioniert (sei es nun die Nutzung bestimmter Körperteile, Winkelarbeit, Body Positioning, Off-Line-Stepping, Hebelwirkung, Zentrallinie, kürzester Weg zwischen A und B, Diagonalen, Kreise, Rotation, Ganzkörpereinsatz, Distanzverlängern oder -verkürzen zwecks Management der gegnerischen Energie etc.) und last but not least Zeit um das Erlernte durch Wiederholung zu verinnerlichen und im "System" zu automatisieren, abzuspeichern, so dass mein Gehirn schnell darauf zugreifen kann.

    Warum reicht dann die "Kunst" nicht aus?

    Weil die "Kunst" ein Optimum definiert, dessen Erreichung erstrebenswert sein sollte, jedoch in der Realität oft nie erreicht werden wird.

    Warum wird das Optimum in der Realität oft nicht erreicht?

    Weil wir es mit einem lebendigen Gegner (nicht Partner) zu tun haben, der naturgemäß - egal ob trainiert oder untrainiert - sein Bestes tun wird, um die Anwendung unserer "Kunst" zu vereiteln, weil wir nicht jeden Tag gleich befähigt sind unsere "Kunst" abzurufen (schlechter Tag, Einschränkungen durch Verletzungen oder Krankheit) und weil wir die Bedingungen unter denen ein Kampf stattfindet nicht beeinflussen können (Witterung, Räume, Hindernisse).

    Nehmen wir Sport, Fußball z. B. ... jeder Trainer drillt seine Mannschaft auf eine spezielle Strategie, darüber hinaus werden fußballerische Techniken geübt, die eben in diesem Sport Standard sind. Dennoch gewinnt in einem Ausscheidungsspiel nur eine von beiden Mannschaften, obwohl Beide die gleichen Techniken (weil der menschliche Bewegungsmechanismus auch nicht mehr Technik bereitstellen kann) beherrschen und vielleicht unterschiedliche strategische Ansätze anwenden. Warum gewinnt nur eine Mannschaft? Weil es über die Technik und Strategie auch auf die Fitness, die Schnelligkeit, die Kraft, die Ausdauer, das Teamplay, das Timing, die Fähigkeit zur Antizipation, die Reaktionsfähigkeit, das Vermögen zum Pressing, die Fähigkeit zum schnellen Umschalten, die Fähigkeit eine Strategie im Spiel dem Gegner anzupassen, den Willen zum Sieg etc. ankommt.

    Deshalb sollte es niemals das Ziel sein, dass Optimum zu erreichen, indem man sich im bloßen Training mit der "Kunst" verzettelt. Das Ziel sollte es sein 60 % bis 70 % der "Kunst" mit dem Kompetenzbereich "Kampf" zu verbinden, um dadurch auf 90 % bis 100 % Wirkung zu gelangen.

    Wieso scheitern wir, wenn uns diese 30 % bis 40 % "Kampf" fehlen?

    Einfach weil wir da draußen auf 90 % bis 100 % kompetente Leute treffen können oder die Bedingungen so mies sind, dass wir nicht mal die 60 % "Kunst" erreichen und dann nichts in der Tasche haben, um diesen Fehlstand auszugleichen. Aber selbst wenn ich die 60 % "Kunst" bringe, aber auf einen Gegner treffe, der 90 % "Kampf" oder 50 % "Kunst plus 50 % "Kampf" mitbringt, verliere ich.

    Was bedeutet "Kampf" nun?

    "Kampf" bedeutet eine Technik in der Dynamik einer realen Auseinandersetzung zur Funktion bringen zu können. D. h. dann nicht unbedingt, dass das Ganze lehrbuchhaft aussieht oder der Gegner just ausgeschaltet wird. Das kann sicher passieren, wird es aber oft nicht oder nicht sofort. Es heißt vielmehr, dass man im Kampf erkennt, dass eine Kompetenz im Bereich "Kunst" vorhanden ist, unabhängig davon, ob die "Kunst" nun Wirkung erzielt oder nicht. Darüber hinaus bedeutet "Kampf" Timing (Distanz- und Zeitgefühl), Hand-Auge-Koordination, antizipative Fähigkeiten (Angriffsmöglichkeiten des Gegners blockieren, bevor sie entstehen) optische Fähigkeiten (Angriffe des Gegners sehen, Lücken in der Verteidigung des Gegners sehen), sensitive Fähigkeiten (Angriffsrichtungen des Gegners fühlen), Reaktionsfähigkeit (intuitiv die richtige Gegenbewegung durchführen), Fähigkeit zur Anpassung (mein Gegner macht etwas unerwartetes, ich passe mich an), Fähigkeit zu "transitions" (meine Technik scheitert, ich friere nicht ein oder kämpfe instinktiv weiter, sondern entwickle unter Druck Gegenmaßnahmen oder neue Anwendungsfenster für andere Techniken), Fitness, Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer, Nehmerqualitäten (ich fresse, muss aber dennoch im "Spiel" bleiben), mentale Qualitäten (Wille, Angstkontrolle).

    Und wie erreiche ich Kompetenz im "Kampf"?

    Durch das Trainieren der "Kunst" unter stetig wachsenden kompetitiven Bedingungen, d. h. im Training mit nur noch teilkooperativen oder unkooperativen Partnern, Training mit Schutzausrüstung, Themen-Sparring, teiloffenes Sparring, offenes Sparring, mit der Erkenntnis, dass eine Technik scheitern darf, deshalb trotzdem ihre Berechtigung besitzt (wenn sie in mindestens 50 % aller Fälle schoneinmal funktioniert hat) und das kein Weltuntergang ist, sondern bedeutet, dass man einfach noch mehr trainieren muss ... und natürlich auch durch Wettkampferfahrung.

    Obwohl ein Wettkampf den realen Kampf zwar nicht vollständig abbilden kann, "simuliert" er den realen Kampf größtmöglich. So hat ein Muay Thai-Boxer oder MMA-Kämpfer (wobei hier das Wort "Kampfsimulation" zwar alles Andere als angemessen ist, aber eben im Kontext zum regellosen Kampf auf der Straße verwendet wird) natürlich die "edge" im Vergleich zu einem bsp. Kung Fu-Techniker oder Krav Maga-Selbstverteidigungsexperten, wenn wir von Umgebungsbedingungen (kein Referee, Witterung, Räume, Hindernisse, Dunkelheit, Lautstärke, Gruppensituationen), Waffen (Stock, Messer, Alltagsgegenstände), verbotenen Techniken (insbesondere Beißen, Augen ausdrücken) etc. absehen. Gleichzeitig bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass der Muay Thai-Boxer oder MMA-Kämpfer eine Auseinandersetzung auf der Straße gewinnt.

    Und was lernen wir daraus?

    Kampfkünstler ist, wer die "Kunst" und den "Kampf" zu verbinden weiß. Dann wirkt Kampfkunst auch entsprechend.


    Bitte Eure Gedanken, Anregungen, Kritik ... immer höflich, immer fair.
    100%agree

    Sehr schön ausgeführt!!


    Gruss1789

  8. #8
    Registrierungsdatum
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    3.951

    Standard

    Zitat Zitat von 1789 Beitrag anzeigen
    100%agree

    Sehr schön ausgeführt!!


    Gruss1789
    Im Ernst?

  9. #9
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    268

    Standard Antwort, die hinter dem Niveau des Eingangstextes wahrscheinlich zurücksteht.

    Da hast du sehr viel Wahres geschrieben, lieber Pai Mei.

    Ich möchte mich vor allem darin anschließen, dass zu wenig Praxisbezug vorherrscht und zu viel Ego.

    Wettkampf macht auch meiner Ansicht nach zu wenig aus.

    Aber was ist denn das genaue Ziel einer Kampfkunst;

    Das Bekämpen, oder das Entkämpfen?
    Bei aller Aufregung, sollten wir aber nicht vergessen,dass Al Bundy 1966 4 Touchdowns in einem Spiel gemacht hat und den Polk High School Panthers damit zur Stadtmeisterschaft verholfen hat!

  10. #10
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    685

    Standard

    Gong, oder wie man heute sagen würde: Funktionelle Kraft. Altes Shaolin-Sprichtwort: "Gong schlägt drei Geheimtechniken".
    Und dann natürlich noch der Wille zur Gewalt.

    Sparring wird überbewertet. Kein Schläger macht mit seinem Kumpels Suckerpunch-Sparring, es funktioniert aber trotzdem. Eben weil er Power hat und brutal ist.
    Die Thais machen wenig bis kein Sparring, nur Gong-Training an Pratzen und Sandsäcken. Die alten Griechen hielten es ähnlich, da wurde in der Palästra die Kraft trainiert und dann im Ernstfall einfach draufgehalten (Und als sie dann angefangen haben, Hoplomachia und Monomachia zu trainieren wurden sie kurz darauf von den Römern eingesackt).

  11. #11
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    1.140

    Standard

    Zu Sportzwecken trainiere ich einen Ausschnitt aus einem System, das mal anders gedacht war und sich mindestens über Jahrzehnte anhand bestimmter Regeln und neuer Technik spezialisiert hat. Es ist leichter neu anzufangen, als das zu überwinden. Sofern man das überhaupt möchte Sport hat seine eigene Schönheit und Faszination und der Wettbewerb misst wie gut ich in diesem Rahmen bin und erst mal nichts anderes. Dass ich vielleicht manches für eine reale Auseinandersetzung nutzbar machen könnte dahingestellt.
    "Ich habe alle diese Degen selbst geschmiedet und übe täglich acht Stunden mit ihnen, um einen Piraten töten zu können." "Du brauchst dringend ein Mädchen mein Freund!" (Fluch der Karibik)

  12. #12
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    Standard

    Naja aus meiner Sicht, erst Handwerk, dann Kunst. Also erst mal mma-gym, MT oder ähnliches mit hartem Kontakt.
    Um mit Ängsten, Schmerzen und Druck umgehen zu können.

    Muss man dafür an WKen teilnehmen, vielleicht. Aus meiner Sicht, reicht da Sparring.

    Danach, kann man sich, für den Rest seines Lebens, der Kunst widmen.

    Salto rückwärts (sry noch nicht wach) Handwerk war in alten Zeiten (a.m.S.) militärische Ausbildung, heute sieht die Ausbildung dort natürlich ganz anders aus. Aber VK-Sport kann, zumindest aus meiner Sicht, ähnliches leisten.

    Jemand der ausreichend Gewalterfahrung hat, braucht den Handwerksteil vmtl. nicht wirklich.

    Sorry für den wirren Post, muss erst noch wach werden.

    Liebe Grüße
    DatOlli

    PS.: Würde ja eigentlich alles schon gesagt.

  13. #13
    Gast Gast

    Standard

    Zitat Zitat von Spud Bencer Beitrag anzeigen
    Gong, oder wie man heute sagen würde: Funktionelle Kraft. Altes Shaolin-Sprichtwort: "Gong schlägt drei Geheimtechniken".
    Und dann natürlich noch der Wille zur Gewalt.

    Sparring wird überbewertet. Kein Schläger macht mit seinem Kumpels Suckerpunch-Sparring, es funktioniert aber trotzdem. Eben weil er Power hat und brutal ist.
    Die Thais machen wenig bis kein Sparring, nur Gong-Training an Pratzen und Sandsäcken. Die alten Griechen hielten es ähnlich, da wurde in der Palästra die Kraft trainiert und dann im Ernstfall einfach draufgehalten (Und als sie dann angefangen haben, Hoplomachia und Monomachia zu trainieren wurden sie kurz darauf von den Römern eingesackt).
    Wenn ich sowieso regelmäßig kämpfe kann ich mir die Übungskämpfe natürlich sparen. Regelmäßig kämpfen, auf die eine oder andere Art, muss ich trotzdem.

  14. #14
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    Zitat Zitat von Spud Bencer Beitrag anzeigen
    Sparring wird überbewertet. Kein Schläger macht mit seinem Kumpels Suckerpunch-Sparring, es funktioniert aber trotzdem. Eben weil er Power hat und brutal ist.
    Wenn du einfach nur jemanden umprügeln willst, dann reicht Aggression und Kraft. Wenn du lernen willst eine Technik ordentlich umzusetzen, dann nicht.
    “Das ist zwar peinlich, aber man darf ja wohl noch rumprobieren.”
    - Evolution

  15. #15
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    Zitat Zitat von Spud Bencer Beitrag anzeigen
    ...Sparring wird überbewertet. Kein Schläger macht mit seinem Kumpels Suckerpunch-Sparring, es funktioniert aber trotzdem. Eben weil er Power hat und brutal ist. ...
    Und was ist, wenn das Gegenüber den Suckerpunch fressen kann oder der Suckerpunch nicht richtig trifft?
    Mein Englisch ist zu schlecht. Ich löse das physikalisch!

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