Die Reproduktionszahl hat einen nicht unerheblichen Schätzfehler
Wie wird nun diese zeitabhängige Reproduktionszahl geschätzt? Das Robert Koch-Institut (RKI) beschreibt das Verfahren zur Berechnung von R im Detail in diesem Artikel. Im Folgenden werden wir auf einige zentrale Annahmen dieser Schätzung kurz eingehen. Um R zu schätzen, muss in einem ersten Schritt eine Annahme über die oben beschriebene Generationszeit getroffen werden. Auf Basis der bisherigen Erfahrung mit der Pandemie geht das RKI von einer Generationszeit von vier Tagen aus. Unter dieser Annahme ergibt sich R zu einem bestimmten Zeitpunkt als Quotient der Neuinfektionen des aktuellen und der vorangegangenen drei Tage und der Summe der Neuinfektionen der vier Tage zuvor. Für den 9. April hat das RKI bspw. eine Reproduktionsrate von 0,9 angegeben. Das bedeutet, dass die aufsummierte Anzahl der Neuinfektionen zwischen dem 6. und 9. April leicht unter der Anzahl der Neuinfektionen zwischen dem 2. und 5. April lag.
Wichtig hierbei ist, dass das RKI für diese Berechnungen nicht lediglich die Anzahl der gemeldeten Neuinfektionen verwendet, sondern die aus den gemeldeten Neuinfektionen in einem vorgelagerten Schritt geschätzten Neuerkrankungen. Für diese Schätzung wird ein statistisches Verfahren eingesetzt (ein sogenanntes Nowcasting), um mögliche Verzögerungen bei der Diagnose, der Meldung und der Übermittlung der Anzahl der Neuerkrankungen zu berücksichtigen. Auf die genaue Methode wollen wir an dieser Stelle nicht näher eingehen, nur darauf hinweisen, dass der Nowcast für den 1. April zwischen rund 3.000 und fast 6.000 neuen Fällen schwankte – je nachdem, zu welchem Zeitpunkt er ermittelt wurde.
Deshalb handelt es sich bei der Reproduktionszahl um eine Schätzung mit einem nicht unerheblichen Schätzfehler, der bei der Bewertung der aktuellen Lage immer berücksichtigt werden muss. So blieb in der öffentlichen Diskussion weitgehend unberücksichtigt, dass das RKI am 9. April angegeben hat, dass die Reproduktionsrate mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent in einem Intervall zwischen 0,8 und 1,1 lag. Neuere Meldungen, die Reproduktionszahl sei wieder auf 1 gestiegen, wie beispielsweise „Zeit online“ am 28. April schrieb, sind nicht unbedingt Grund zur Besorgnis. Denn es kann sich bei diesem Anstieg durchaus um eine Schwankung innerhalb des Schätzfehlers handeln. Es ist sogar durchaus möglich, dass die wahre Reproduktionsrate konstant geblieben oder gar leicht gefallen ist.