4. Vorwarnzeit
Hierbei gehen wir vom Prinzip der Projektion aus. Ausgehend von der Höhe und der Entwicklung der täglich gemeldeten Neuinfektionen und der aus dem bisherigen Geschehen errechneten Reproduktionszahl R wird die weitere Entwicklung der Fallzahlen bei gegebenem R > 1 unterstellt.
R wird fiktiv modifiziert: „Was wäre, wenn R bei 1,3 läge?“. Wir modellieren damit ein kritisches, aber zum Teil kontrolliertes und realistisches Infektionsgeschehen, wo bei tatsächlich höherem R zeitnah Maßnahmen greifen und R auf 1,3 senken können. Liegt R umgekehrt tatsächlich niedrigerer als 1,3 modellieren wir mit unserer Annahme eine teilweise pessimistische Annahme für die Zukunft.
Anhand dieser einfachen Modellierung kann geschlossen werden, in welcher Zeit die Belastungsgrenze des Gesundheitswesens erreicht würde.
Die Vorwarnzeit wird anhand der mittleren Fallzahlentwicklung der letzten 10 Tage aufsetzend auf einen Ausgangswert errechnet. Der Ausgangswert wird konservativ gewählt. Er entspricht dem Mittelwert über 10 Tage bis zu einem Stichtag. Hierbei werden die neu gemeldeten Infektionszahlen der letzten drei Tage nicht berücksichtigt, um aktuelle Schwankungen der Meldezahlen auszugleichen.
Um 7-Tages-Inzidenzen und dementsprechend die Vorwarnzeit korrekt zu berechnen, müssen Fallzahlen für alle Kreise für das aktuelle Meldedatum vorliegen. Auf Grund von unterschiedlichen Uhrzeiten, zu denen Gesundheitsämter ihre Zahlen an das RKI übermitteln, liegen beim RKI zum Zeitpunkt der Datenaktualisierung (etwa 4 Uhr morgens) teilweise nicht alle Zahlen für das letzte Meldedatum vor.10 Deswegen imputieren wir für Kreise, bei deinen keine Fälle für das aktuelle Meldedatum übermittelt wurden, Fallzahlen basierend auf dem Mittelwert des entsprechenden Kreises in den vorhergehenden 6 Tagen. Ohne die Imputation wären 7-Tages-Inzidenzen zwischen den Kreisen und Bundesländern nicht vergleichbar. Bei der Verwendung der im DIVI-Intensivregister gemeldeten Zahlen ist zu beachten, dass eine Bereinigung für Verlegungen von COVID-19-Fällen zwischen Krankenhäusern berücksichtigt werden muss. Dies betrifft etwa 27 Prozent der abgeschlossenen ITS-Behandlungen11, die doppelt gezählt wurden. Dementsprechend berechnen wir die Zahl der tatsächlichen ITS-Fälle als die Summe aus den abgeschlossenen Fällen geteilt durch 1,27 plus die Zahl der aktuellen ITS-Fälle. Die zeitliche Entwicklung der Vorwarnzeit bis Erreichen der Kapazitätsgrenze im Vergleich zum RKI-R-Wert wird in Abbildung 3 dargestellt. Im Vergleich der zeitlichen Entwicklung von R-Wert und Vorwarnzeit wird dabei deutlich, dass letztere zwar mit dem R-Wert variiert, aber zugleich auch die Ressourcenauslastung des Gesundheitswesens abbildet. Der jeweils aktuelle R-Wert ist dabei ein zentraler prädiktiver Faktor dafür, in welche Richtung sich die Vorwarnzeit entwickelt.
5. Effektive Vorwarnzeit
Bei der Interpretation des in Abbildung 3 dargestellten Zeitfensters müssen einschränkende Faktoren berücksichtigt werden:
1. Betroffene lassen sich in der Regel erst nach dem Auftreten erster Symptome (ca. 5 Tage nach der Ansteckung) testen.
2. Der R-Wert ist aufgrund des Meldeverzugs beim RKI für die letzten 3 Tage nicht sinnvoll zu interpretieren.
3. Der Zeitbedarf bis zum Beschluss und Inkrafttreten von Maßnahmen des Pandemiemanagements muss berücksichtigt werden (Annahme: 6 Tage).
4. Ein Zeitraum bis zur Wirkung der Maßnahme muss unterstellt werden (Annahme: Wirksamkeit innerhalb von 7 Tagen).
Insgesamt kann man somit konservativ und vereinfachend davon ausgehen, dass sich diese Verzögerungen auf bis zu 21 Tage addieren können, bis ein „Bremseffekt“ durch Maßnahmen wirksam wird. Die effektive Vorwarnzeit ist somit das um 21 Tage gekürzte Zeitfenster aus Abbildung 3.
Je nach Kontext, ausgewählten Maßnahmen und politscher Situation ist eine Annahme zu diesem Zeitfenster mit großen Unsicherheiten behaftet. Der Ausweis der effektiven Vorwarnzeit wird unter Umständen missverstanden. Das Zi berichtet die effektive Vorwarnzeit darum nunmehr nur noch nachrichtlich, als Kernindikator für die Auslastung der Kapazitäten wird die Vorwarnzeit selbst ausgewiesen.