... Wissenschaftler wie der
Virologe Hendrik Streeck fordern daher, nicht zu sehr auf die Neuinfektionen zu schauen, sondern die stationären Behandlungen und die Auslastung der Intensivstationen bei der Pandemie-Einschätzung stärker zu berücksichtigen. 20.000 Neuinfektionen pro Tag klinge nach Apokalypse, aber im Grunde sollte uns das keine Angst machen, sagte Streeck bei ARD Extra. "Ein milder Verlauf oder ein Verlauf mit milden Symptomen trägt nicht so stark zum Infektionsgeschehen bei." Für eine "achtsame Normalität" gelte es dafür zu sorgen, dass jeder Mensch im Falle eines schweren Verlaufs die bestmögliche medizinische Versorgung erhalte.
Noch drastischer forderte
Kassenärzte-Chef Andreas Gassen eine Strategieänderung. "Wir müssen aufhören, auf die Zahl der Neuinfektionen zu starren wie das Kaninchen auf die Schlange. Das führt zu falschem Alarmismus", sagte er. Selbst 10.000 Infektionen täglich wären kein Drama - "wenn nur einer von 1000 schwer erkrankt, wie wir es im Moment beobachten."
Helmholtz-Epidemiologe Gérard Krause sagte dem Deutschlandfunk, die Infektionszahlen seien kein geeignetes Kriterium zur Beurteilung des Verlaufs der Corona-Pandemie. Vielmehr seien die Erkrankungszahlen maßgebend. Diese seien ein Vorbote für die schweren Erkrankungen und um diese gehe es wesentlich. Man müsse jetzt vor allem die Risikogruppen schützen, speziell alte Menschen.
Andere Wissenschaftler wie
Virologe Christian Drosten widersprechen solchen Überlegungen, da man dann kritische Entwicklungen zu spät erkennen würde. Denn Covid-19-Diagnosen benötigten etwa eine Woche, bei überlasteten Laboren auch länger, sagte Drosten der "Zeit". "Ein Patient, bei dem heute das Coronavirus festgestellt wird, ist also ein Indikator dafür, wie viel an Virus vor einer Woche in der Gesellschaft unterwegs war. Und die Bettenbelegung läuft noch länger nach, weil die Patienten oft erst eine Woche nach der Diagnose ins Krankenhaus müssen."
Genauso sieht dies
Helmholtz-Virologin Melanie Brinkmann. Man müsse handeln, bevor die Zahl der belegten Intensivbetten steige, sagte sie dem "Stern". "Dieses ganze Gedankengebäude, man könne ja mehr Infektionen zulassen, solange weniger schwere Verläufe zu verzeichnen sind, ist aus meiner Sicht Unsinn." Es sei viel einfacher, bei weniger Ansteckungen die Kontrolle zu behalten und schwere Verläufe würden steigenden Neuinfektionen zwangsweise folgen - wenn auch weniger als im Frühjahr.
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Frankreich...Spanien... .
Man kann Deutschland nicht direkt mit diesen Ländern vergleichen, da die Infrastrukturen und andere Gegebenheiten unterschiedlich sind - unter anderem gibt es in der Bundesrepublik außergewöhnlich viele Intensivbetten. Aber man kann erahnen, welche Herausforderungen auf das Land zukämen, ließe man die Neuinfektionen tatsächlich auf 20.000 pro Tag anwachsen. Außerdem weiß man nicht, ob es nicht noch mehr werden, wenn man die Kontrolle einmal verloren hat.
Wie schnell das gehen kann, sieht man in den Niederlanden. Dort kapitulieren die Gesundheitsdienste vor der Flut der Neuinfektionen und haben die Kontaktverfolgung teilweise eingestellt. Corona-Patienten sollen ihre Kontakte zum Teil eigenständig über die Infektion informieren, schreibt die "WAZ". Bei alten Menschen oder bei einem besonders schlimmen Verlauf übernehme nach wie vor der Gesundheitsdienst die Kontaktverfolgung. Aber: Sollte ein Infizierter in der Lage sein, seine Kontakte selber zu informieren, fällt die Aufgabe ihm zu.