Ciesek: Wir sind ein Hotspot, ähnlich wie Berlin. Seit mehreren Wochen liegen wir hier bei 200 bis zu über 250 gemeldeten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner. Am Uniklinikum in Frankfurt und in Krankenhäusern in ganz Hessen behandeln wir gerade deutlich mehr Patienten als noch vor ein paar Wochen. In unserem Haus wurden zum Beispiel schon mehrere Stationen geschlossen, um Kapazitäten für die Covid-19-Behandlung zu schaffen. Hessens Strategie ist es, die Behandlung von Covid-Patientinnen und -Patienten über einen Planungsstab im Sozialministerium zu steuern. Wird ein Krankenhaus zu voll, können Patienten in andere Versorgungsgebiete verlegt werden, in denen die Krankenhäuser nicht so stark ausgelastet sind.
Ciesek: ... Der Personalmangel in der Intensivpflege ist momentan offensichtlich das Hauptproblem. Wenn Personal ausfällt, zum Beispiel aufgrund eigener Infektionen, kann es schnell knapp werden. Und momentan ist mehr Personal erkrankt als im Frühjahr. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass es mit kluger Steuerung möglich ist, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, dass wir es schaffen, die Kurve zu kriegen. Bilder, wie es sie im Frühjahr in Norditalien gab, kann ich mir für Deutschland nicht vorstellen.... Und anders als im Frühjahr haben wir momentan auch genügend Kittel und Masken zum Schutz des Personals.
ZEIT ONLINE: Wie steht es um die Moral beim Pflegepersonal und bei denjenigen, die im Labor arbeiten?
Ciesek: Die Technischen Assistenten und Assistentinnen im Labor arbeiten momentan jeden Tag, von Montag bis Sonntag und noch dazu Überstunden. Wir bearbeiten drei- bis viermal so viele Proben wie üblich mit kaum mehr Personal. Das ist wie ein Motor, der dauerhaft auf 120 Prozent läuft. Genauso ist es bei vielen Ärztinnen und Ärzten sowie den Intensivpflegekräften und dem Pflegepersonal auf den Normalstationen. Es fehlen seit Jahren Pflegekräfte, insbesondere auf den Intensivstationen – einen Mangel hatten wir schon vor der Pandemie, das ist nicht besser geworden! Wir haben im Frühjahr viele Spenden erhalten, Schokolade oder Blumen – das klingt banal, aber es ist ein so wichtiges Zeichen, dass es Leute gibt, die unsere Arbeit wertschätzen. Die Spenden gibt es gegenwärtig nicht mehr, obwohl die Belastung noch größer geworden ist. Und wenn man sich plötzlich für seine Arbeit rechtfertigen muss, dann sinkt die Moral.
ZEIT ONLINE: Wofür müssen Sie sich rechtfertigen?
Ciesek: Ein kleiner Teil der Bevölkerung, der aber gerade in den sozialen Medien sehr laut ist, will nicht verstehen, warum unsere Arbeit wichtig ist. Da heißt es dann, es sei falsch, so viel zu testen. Denn die Menschen hätten ja nur positive Tests, würden aber gar nicht schwer erkranken oder an etwas anderem sterben. Wenn ich so etwas höre, habe ich den Drang zu sagen: Komm doch einfach mal vorbei und schau dir an, was in den Krankenhäusern passiert. Aber auch manche Fachkollegen scheinen sich die Lage in den Kliniken nicht wirklich bewusst zu machen.
ZEIT ONLINE: Was meinen Sie?
Ciesek: Ich meine sogenannte Positionspapiere und andere Publikationen, die nicht auf Zahlen, Daten und Fakten beruhen – und damit die Bevölkerung verunsichern und unsere Arbeit erschweren. Viele, mit denen ich gesprochen habe, hat das demoralisiert.
ZEIT ONLINE: Sie sprechen vom Positionspapier der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, gemeinsam mit Jonas Schmidt-Chanasit und Hendrik Streeck, in dem sie sich gegen härtere Maßnahmen ausgesprochen haben. Wie erklären Sie sich, dass das Positionspapier genau an dem Tag vorgestellt wurde, an dem die Kanzlerin gemeinsam mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten die aktuellen Beschränkungen diskutiert und beschlossen hat?
Risikogruppe...: Wer ist damit gemeint? Wie viele Menschen sind das? Viele Menschen haben beim Wort Risikogruppe das Bild einer alten Frau im Heim im Kopf, die vielleicht noch dement ist und jeden Tag gewaschen werden muss. Die Realität ist aber komplexer: Wir leben gemeinsam mit den Menschen, die einer Risikogruppe angehören. Jeder und jede von uns kennt Menschen, die zur Risikogruppe gehören, oder gehört selbst dazu: Menschen mit Diabetes, Nieren- oder Lebertransplantierte beispielsweise. Die Risikogruppen sind unter uns. Man kann diese vom Rest der Bevölkerung nicht einfach abtrennen, oftmals auch nicht besonders schützen. Es ist bisher nirgends gelungen, das Virus nicht auch in Risikogruppen zu tragen.
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